Der „Arabische Frühling“ ein Jahrzehnt später

0
Demonstranten, die am 29. Januar 2011 auf einem Armee-Lastwagen in der Innenstadt von Kairo stehen. Foto Ramy Raoof - Flickr: Demonstrators on Army Truck in Tahrir Square, Cairo, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12851187
Demonstranten, die am 29. Januar 2011 auf einem Armee-Lastwagen in der Innenstadt von Kairo stehen. Foto Ramy Raoof - Flickr: Demonstrators on Army Truck in Tahrir Square, Cairo, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12851187
Lesezeit: 6 Minuten

Die 10 Jahre des sogenannten „Arabischen Frühlings“ – das letzte davon ist das Jahr von COVID-19 – haben viele arabische Länder an den Rand des Abgrunds gebracht. Das Schlimmste könnte aber noch bevorstehen, wenn der designierte US-Präsident Joe Biden Schritte unternimmt, die im Interesse der Islamischen Republik Iran liegen.

von Dr. Mordechai Kedar

Am 17. Dezember 2010 zündete sich in einer kleinen Provinzstadt in Tunesien ein junger Mann namens Mohamed Bouazizi aus Protest gegen eine Ohrfeige an, die er von einer Polizistin erhalten hatte, weil er einen nicht genehmigten Gemüsestand betrieb, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Seine Freunde starteten Demonstrationen gegen die korrupte Regierung von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali und diese Proteste breiteten sich schnell auf die Hauptstadt Tunis aus. Der TV-Sender Aljazeera übertrug die Demonstrationen nonstop, was immer mehr Tunesier dazu veranlasste, sich den Demonstranten anzuschliessen und so die Protestwelle zu vergrössern. Nach etwa einem Monat massiver Proteste floh der Präsident mit seiner Frau und seinen Kindern ins politische Exil nach Saudi-Arabien.

Ab Januar 2011 breiteten sich die Demonstrationen auf Ägypten, Jemen, Libyen, Syrien, Bahrain, Algerien, Jordanien, Marokko, Irak, Sudan, Kuwait, Libanon, Mauretanien und sogar Saudi-Arabien und Oman aus. In den meisten dieser Staaten klangen sie ab oder wurden durch ausländische Interventionen, wie die Saudi-Arabiens in Bahrain, unterdrückt. In Syrien, Libyen und dem Jemen hingegen dauern die blutigen innenpolitischen Auseinandersetzungen bis heute an und zogen bewaffnete ausländische Interventionen nach sich.

Ägypten hat grosse Regimewechsel erlebt – einschliesslich eines Jahres unter der Herrschaft der Muslimbrüder – und diese Veränderungen haben die ohnehin schon kränkelnde Wirtschaft weiter in Mitleidenschaft gezogen. Tunesien schwankt zwischen gegensätzlichen Kräften, vom politischen Islam bis hin zum europäisch geprägten Liberalismus.

Aljazeera und die Muslimbruderschaft

Das Hauptziel der Demonstranten war zunächst die Abschaffung der Unterdrückung und Korruption der herrschenden Regimes, Arbeitslosigkeit, Armut, fehlende Bildung, soziale Ausgrenzung und die allgemeine Verachtung der Bürger durch die staatlichen Behörden. Die bittere Realität in den meisten arabischen Staaten stand in krassem Gegensatz zu den Verhältnissen in den Golfmonarchien, Europa und Amerika, von denen die Massen dank der Medien, Satellitenkanäle und sozialen Medien, allen voran Facebook, nun erfuhren.

Der Nachrichtensender Aljazeera, der Ende 1996 ins Leben gerufen wurde und zu einem medialen Dschihad-Outlet der Muslimbruderschaft geworden war, verbreitete die Heftigkeit der Demonstrationen und den Aufstand gegen die Behörden von Land zu Land. Die arabische Welt war Ende 2010 wie ein Pulverfass, in dem Aljazeera überall Funken schlug. Bouazizi war der Funke, der die Massen entflammte.

Länder, die viele Jahre lang an der Spitze des Panarabismus standen – Syrien, Libyen und der Irak (wo die Unruhen 2003 begannen) – versanken im Bürgerkrieg, und ihre heterogenen Bevölkerungen kämpfen bis heute ums Überleben. Die Arabische Liga, die Organisation, die einst die „arabische Nation“ in der Welt vertrat und gleichzeitig eine versöhnende und vermittelnde Rolle innerhalb der arabischen Domäne spielte, ist in eine totale Handlungsunfähigkeit verfallen.

Wenn Regimes nicht mehr funktionieren und Anarchie herrscht, fliehen alle die können, so schnell wie möglich. Millionen von Arabern sind in irgendein Land der Welt ausgewandert, das sie aufgenommen hat. Akademiker, Ingenieure, Ärzte und Angehörige anderer Berufe sind ins Ausland gegangen, um eine ruhige, sichere Umgebung für sich und ihre Familien zu finden. Millionen von Auswanderern gingen in die Türkei, nach Europa und in viele andere Länder und verliessen ihre Heimatländer, ohne die Möglichkeit, ihr Land wiederaufzubauen.

Gleichzeitig traten nun die gefährlichsten Akteure aus der Versenkung, nämlich die radikal-islamischen Organisationen, die aus den Koranschulen der Muslimbruderschaft hervorgegangen waren, insbesondere al-Qaida und ihre Ableger. Sie verschafften sich Legitimität, indem sie erbarmungslos gegen die grausamen, korrupten Regimes kämpften – das heisst, den Dschihad gegen sie führten.

Der islamische Staat

Im Jahr 2014 erreichten sie mit der Gründung des Islamischen Staates im Irak und Syrien (ISIS / IS) ein entscheidendes Ziel. Dieser Staat säte mit grausamen Formen des Mordens auf der ganzen Welt Angst und Schrecken und führte zu einem internationalen Konsens über die Notwendigkeit einer ausländischen Intervention, insbesondere seitens Russlands und der USA. Die Zerschlagung des IS hat jedoch die radikale Ideologie, auf der er basierte, nicht ausgerottet, sondern diese Ideologie hat sich einfach neue Felder gesucht und ist jetzt lebendig und mordet auf dem Sinai, in Algerien, Afrika, Europa und überall dort, wohin die IS-Terroristen geflohen sind. Immer wieder werden Terroranschläge verübt. Erst kürzlich sahen wir in Frankreich IS-Messer in Aktion.

Die grossen Verlierer des „Arabischen Frühlings“ sind die unglücklichen Massen, die mit völlig berechtigten Forderungen auf die Strasse gingen, aber auf brutale Gewalt und das ohrenbetäubende Schweigen internationaler Apathie gegenüber dem zügellosen Blutvergiessen stiessen. Die blanke Heuchelei des UN-Menschenrechtsrates wurde entlarvt, als er genau den Staaten Sitze gewährte, die massiver Menschenrechtsverletzungen beschuldigt wurden.

Die Tragödien des „Arabischen Frühlings“ haben auch das palästinensische Problem zu einem Randthema gemacht. Viele arabische Politiker haben begriffen, dass sich dieses Problem nicht in Richtung einer Lösung bewegt, hauptsächlich weil Israel sich nicht dem Narrativ unterwirft, das von den Terrorgruppen ausgeheckt wurde – von der Fatah und den „Front“-Organisationen über die Hamas und den Islamischen Dschihad. In Saudi-Arabien wurde kürzlich sogar behauptet, die im Koran erwähnte al-Aqsa-Moschee befinde sich auf der arabischen Halbinsel und nicht in Jerusalem, was den religiösen Anspruch der Palästinenser auf das drittheiligste Heiligtum des Islam und damit auf Jerusalem und Palästina in Frage stellt.

Gewinner des „Arabischen Frühlings“

Die grossen Gewinner des „Arabischen Frühlings“ sind die Staaten der Arabischen Halbinsel (mit Ausnahme des Jemen), die von den Auswirkungen verschont blieben. Länder, die bis vor einem Jahrzehnt noch am Rande der arabischen Welt standen, weit weg vom regionalen und internationalen politischen Rampenlicht, sind nun wichtige Akteure in der internationalen Politik des Nahen Ostens.

Die Umwälzungen im Nahen Osten haben es nicht-arabischen Kräften – sowohl in der Region als auch im Ausland – ermöglicht, nach Belieben in die Gegend vorzudringen. Russland rettete das Assad-Regime in Syrien und übernahm im Gegenzug den westlichen Teil des Landes und die riesigen Erdgasvorkommen im Meeresgrund des Mittelmeers, die zu Syrien gehören. Der Iran hat durch seine Stellvertreter und Kampftruppen die Kontrolle über den Irak, Zentral- und Ostsyrien, Libanon, Jemen und Gaza erlangt. Erdoğans Türkei übernimmt die Kontrolle über Teile von Syrien und Libyen. In der Zwischenzeit verlängert Israel – das in der Vergangenheit als „Messer im Herzen der arabischen Nation“ bezeichnet wurde – die Liste der arabischen Staaten, die seine Existenz akzeptiert, es anerkannt und Frieden mit ihm geschlossen haben, immer weiter.

Fuir la mort en Libye 5509678232
Erste Flüchtlinge an der libysch-tunesischen Grenze am 7. März 2011. Foto Magharebia – 110304, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24202975

Äthiopien fühlt sich im Verhältnis zu Ägypten stark genug, dass es einen Staudamm am Nil gebaut hat, der einen verheerenden Wassermangel für Ägyptens 100 Millionen Einwohner verursachen könnte. Der Sudan hat sich in zwei Länder gespalten, den Südsudan und den Sudan, und dieser Prozess könnte sich über den Sudan hinaus in anderen arabischen Staaten fortsetzen.

Die 10 Jahre des „Arabischen Frühlings“ – das letzte davon ist das Jahr von COVID-19 – haben viele arabische Länder an den Rand des Abgrunds gebracht. Die Nahrungsmittelknappheit, die nicht enden wollenden Kriege in Libyen, Syrien, Irak und Jemen, die iranische Expansion und die globale Gleichgültigkeit haben die Notlage des Nahen Ostens noch verschlimmert.

Das Schlimmste von allem droht in naher Zukunft: die neue US-Regierung, die zum Atomdeal von 2015 zurückkehren und die Sanktionen gegen den Iran aufheben will. Diese Schritte werden Teherans Fähigkeit verbessern, sich in arabischen Ländern einzumischen und Tod und Zerstörung zu säen. Ein Ergebnis könnte eine weitere Welle der Auswanderung (oder genauer gesagt, Flucht) von Millionen von Menschen aus dem Nahen Osten in andere Länder sein, in denen sie sich ein neues Leben aufbauen können, das durch den „Arabischen Frühling“ zerstört wurde.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass genauso gross wie die Hoffnungen, die mit dem „Arabischen Frühling“ verbunden waren, auch die Ernüchterung ist, die er hinterlassen hat.

Oberstleutnant (a.D.) Dr. Mordechai Kedar ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Begin-Sadat Center for Strategic Studies. Dies ist eine bearbeitete Version eines Artikels, der am 11. Dezember 2020 in Makor Rishon veröffentlicht wurde. Übersetzung Audiatur-Online.