England 2017 – In der Nacht zum 4. Juni erschüttert ein schwerer Terroranschlag London. Es ist dies der 3. Vorfall in Grossbritannien innerhalb kürzester Zeit. Ähnlich wie auf dem Breitscheidplatz in Berlin waren die Opfer auch diesmal keine hochrangigen Politiker oder Militärs, sondern fröhlich feiernde Zivilisten. Auf was also zielt der Terror ab? Ein Interview mit dem Terrorismusexperten Berndt Georg Thamm vom März 2017, das leider nichts an Aktualität verloren hat.
In dem uralten Kulturraum des Nahen Ostens hat ein Vielfrontenkrieg zum grössten Exodus seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Hundertausende Menschen sind gestorben, Millionen auf der Flucht. Zu den Kombattanten dieses Krieges zählen diverse Kämpfer des islamistischen Terrorismus, Djihadisten der al-Qaida in Syrien und des aus al-Qaida im Irak entstandenen „Islamischen Staates“ (IS). Im „Kalifat“ des IS entstand ein Machtzentrum, das seinen „Heiligen“ Glaubenskrieg (Djihad) mit brutaler Effizienz in alle Welt trägt.
Anfang 2016 warnte der Bundesnachrichtendienst (BND) eindringlich vor der „Bedrohung durch islamistischen Terrorismus“. Die Lage sei „für die westliche Staatengemeinschaft heute ungleich gefährlicher“ als noch 2001, dem Jahr der 9/11-Terroranschläge der al-Qaida in den USA. Die Front hat sich nach Europa verlagert: Terroranschläge mit IS-Hintergrund in Paris, Brüssel, Nizza, Berlin, Istanbul, Manchester und London werden mit jedermann zugänglichen Mordmitteln begangen, vom Küchenmesser bis zum Auto. Und die Täter werden immer jünger: Die Kindersoldaten des Terrors sind nicht mehr nur im Nahen Osten, sondern schon in Deutschland.
Zu den Hintergründen dieser Entwicklung äusserte sich der Berliner Terrorismusexperte Berndt Georg Thamm im März 2017 in einem Interview mit Ed Koch, dem Redakteur von „paperpress“, das wir hier gekürzt wiedergeben. Schon im Mai 2009 war Thamm um eine Einschätzung der Lage gebeten worden. Damals berührte der weltweit operierende (militant islamistische) Terrorismus Deutschland nur in Ausläufern. Wir seien ihm bis dahin mit viel Glück entgangen. Aber Glück sei keine verlässliche Grösse. Der Terroranschlag in Berlin am 19. Dezember 2016 auf dem Weihnachtsmarkt gab seiner Einschätzung Recht.
Die Entwicklung des „individuellen Dschihad“
paperpress: Hat es seit Ihrem letzten Interview (2009) ein gravierendes, bis ins Heute hineinwirkendes Ereignis gegeben?
Berndt Georg Thamm: Ja! Das einschneidende Ereignis war in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 2011 in Abbottabad/Pakistan bei der US-Operation „Neptun Spear“ geschehen, als der al-Qaida-Begründer und Führer Osama Bin Laden (1957-2011) von einem US-Navy Seal Team getötet worden war. Um Bin Laden der Gerechtigkeit zuzuführen, haben die amerikanischen Geheimdienste eine halbe Milliarde Dollar aufgebracht.
In der Folge zählt Thamm mit vielen Details die zahlreichen dschihadistisch/islamistischen Organisationen auf, die aus Al-Qaida und anderen Gruppierungen hervorgegangen sind, sich immer wieder abspalteten oder verbündeten, teilweise auch gegenseitig bekämpften und immer wieder ihre Namen änderten. Der Experte Thamm nennt auch die Namen der jeweiligen Anführer oder „geistigen Väter“ dieser Organisationen wie Aiman Zawahiri und Abu Bakr Al Bagdadi. Der Ausbruch der Arabellion (auch arabischer Frühling genannt), im Dezember 2010 in Tunesien griff auf weitere arabische Staaten über und bildete die Grundlage für ein umfassendes muslimisches Khalifat: „Nach den Massenprotesten in Tunesien kam es 2011 in einem „arabischen Frühling“ mit Protesten für Freiheit und Brot in fast allen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. 2011 wurden die Weichen für eine Änderung der nahöstlichen Geopolitik gestellt, auch in Sachen Terrorismus“.
Seit Osama bin Laden verlagerte sich der Terror von ausgeklügelten und wohlorganisierten Anschlägen wie 9/11 in New York auf den Terror Einzelner mit jedermann zugänglichen Waffen wie Küchenmessern und Autos. „Man wechselte zur „Strategie der Zerstörung durch jedermann“. Mit dieser neuen „Strategie des individuellen Djihad“ sollte der Westen in eine Art des permanenten Alarmzustandes durch einfachste Terrorattacken von Einzelpersonen geführt werden. Nach Anschlägen mit hohem Organisationsgrad wurde nun auf niedrigschwellige Anschläge gesetzt. Zu derartigen „einfachen“ Mordtaten rief der IS-Sprecher Mitte September 2014 auf: „Tötet sie, wie ihr wollt. Zertrümmert ihnen den Kopf, schlachtet sie mit dem Messer, überfahrt sie mit dem Auto, werft sie von einem hohen Gebäude, erwürgt oder vergiftet sie“.
Bürgerkrieg als Brandbeschleuniger des globalen Dschihad
Die von der Arabellion ausgelösten Bürgerkriege wurden zu Brandbeschleunigern djihad-terroristischer Gewalt. „Im ersten Kriegsjahr 2011 war der Bürgerkrieg in Syrien wohl noch kein Glaubenskrieg. Weder führten Muslime, Christen und Drusen einen Konfessionskrieg um wahre religiöse Identitäten, noch waren Araber, Kurden, Turkmenen und andere kleinere Völker in multiethnische Kämpfe verstrickt. Im Schwerpunkt war es am Anfang noch ein Krieg zwischen dem Assad-Regime und denen, die von diesem Machthaber unterdrückt wurden. Als quasi dritte Gruppierung traten dann zunehmend Kräfte auf, die Syrien „im Namen Gottes“ verteidigten – die einen „Verteidigungs-Djihad“ mit dem Ziel führten, auf syrischem Boden einen Gottesstaat zu errichten.“
„EIN SPRUNGBRETT ZUR EROBERUNG JERUSALEMS“
Die Gruppen verfolgten auch strategische Ziele, wie direkten Zugang zum Mittelmeer und durch die Nähe Israels auch ein „Sprungbrett zur Eroberung Jerusalems“. Der Qaida-Führer Zawahiri fasste die Ziele schon Anfang April 2013 in einer von islamistischen Websites verbreiteten Audio-Botschaft zusammen: „Führt euren Kampf im Namen Allahs und mit dem Ziel der Schaffung von Allahs Scharia als herrschendes System“. Endziel war und ist bis heute ein Kalifat globalen Ausmasses. Die territoriale Entgrenzung dieser geographischen Utopie führte zu einem Namen ohne jeglichen Länderbezug: „Islamischer Staat“ (ad-Daula al-islamiya).
Die einzige Gemeinsamkeit des geplanten“ Kalifat der Qaida“ und des Kalifats/IS, sei die Vernichtung Israels und eine Vertreibung aller Juden aus der „ Heiligen Stadt Al-Quds“ ( Jerusalem)
Klerikalfaschistische Erziehung zum Kinderselbstmordattentäter
paperpress: Was ist denn neu an diesem neuen Kalifat?
Berndt Georg Thamm: Das in Mossul proklamierte Kalifat stellt sich als Islamischen Staat für alle sunnitischen Muslime dar. Zur vormodernen Weltsicht dieses „Gottesstaates“ gehört dessen religiös-politische Lehre, einen neuen sunnitisch-islamischen Menschen zu schaffen. Die aufgebaute autoritär-staatliche Herrschaft des Kalifen darf wohl als klerikal-faschistisch bezeichnet werden, sucht man doch im totalitären IS das Denken einer jungen Muslimgeneration möglichst früh zu beeinflussen. In militärischen Ausbildungslagern versuchen IS-Erzieher eine quasi neue Djihadistengeneration „vom Tag der Geburt an“ mit dem Ziel zu formen, sie zu noch besseren Kämpfern zu sozialisieren. Systematisch werden Minderjährige als Selbstmordattentäter eingesetzt. „Löwenjungen des Kalifats“ nennt der IS seine Kindersoldaten. Im grossen Djihad für den Auf- und Ausbau des Kalifats in Nahost kämpften auf Seiten des irakisch-syrischen Kernpersonals von 2012 (für den ISI/ISIS/ISIL als IS-Vorläufer) bis heute aus allen fünf Kontinenten der Welt mit ihren rund 200 Staaten um die 30.000 Foreign Fighters aus 115 Ländern.
Nach der arabischen und der russisch-zentralasiatischen Welt stellt Europa mit bis zu 6.000 Freiwilligen das drittgrösste Kontingent der Foreign Fighters. Von diesen ist wohl schon ein Viertel in die Europäische Union zurückgekehrt. Nicht wenige dieser „Rückkehrer“ gefährden die innere Sicherheit ihrer Heimatländer.
Terroristische Grossanschläge gegen die Zivilbevölkerung– von Mumbai 2008 zu Paris 2015
paperpress: War sich Europa dieser Bedrohung nicht bewusst?
Berndt Georg Thamm: Kaum war das Kalifat ausgerufen, da kündigte die IS-Führung im Juli 2014 eine Expansion nach Europa in den nächsten fünf Jahren an. Der britische Geheimdienst sah darin ein „klares strategisches Konzept“ des IS, der deshalb „mehr als ernst“ genommen werden sollte. Nach Vorstellungen des IS würde das Kalifat Europa von allen Seiten umzingeln und einnehmen – im Westen Spanien, im Zentrum Italien und im Osten die Türkei.
paperpress: Standen die Briten mit ihrer Warnung – die IS-Terrorankündigungen zu banalisieren – alleine da? Sahen nicht auch andere Sicherheitsorgane in Europa die aufkommenden Gefahren?
Berndt Georg Thamm: In einem Bericht EUROPOLS von Ende Januar 2016 in Amsterdam, hiess es, dass die Djihadisten „insbesondere Europa im Visier“ hätten. Der IS hätte „neue, gefechtsartige Möglichkeiten“ entwickelt, um weltweit eine Reihe „gross angelegter Terroranschläge“ zu verüben. Kommandos sollen völlig frei in der Wahl der Orte und Ziele ihrer Anschläge, sowie der Begehungsmodalitäten und Zeitabläufe sein. Als „Modell“ für diese neuen gefechtsartigen Möglichkeiten diente wahrscheinlich ein mehrtägiger Anschlag im indischen Mumbai (Bombay) 2008.
paperpress: Eine Terroraktion in einer Millionenmetropole wurde zur Blaupause für organisierte Terroreinsätze in Ballungszentren?
Berndt Georg Thamm: Vom 26. bis 28. November 2008 war eine Terrorgruppe aus Pakistan in der indischen Küstenmetropole Mumbai im „Einsatz“. Von der Terrororganisation „Lashkar-i-Toiba“ (Armee der Reinen) ausgebildet, stürmten nach der Überfahrt auf See Todeskommandos, insgesamt fünf Zweier-“Hit-Teams“, fünf zuvor ausgemachte Anschlagsorte: Hotel Oberoi, ein Touristen-Cafe, Hotel Taj Mahal, Victoria Railway Station und das jüdische Nariman-House. In diesen drei Tagen töteten die mit Sturmgewehren, Handgranaten und Sprengsätzen ausgestatteten LiT-Terroristen insgesamt 166 Menschen (darunter 26 Ausländer) und verletzten über 300.
Zur ersten terroristischen Anwendung kam es Jahre später in Afrika, wo vom 21. bis 24. September 2013 in Kenias Metropole Nairobi ein vielköpfiges Hit-Team somalischer Djihadisten der „al-shabaab“ den viergeschossigen Gebäudekomplex der Westgate Mall überfiel und Besucher zu Geiseln machte. Über 200 Menschen wurden verletzt und 72 getötet.
paperpress: Terrorattacken nach diesem „Modell Mumbai“ wären doch dann aber auch für europäische Metropolen vorstellbar?
Berndt Georg Thamm: Der IS liess der Expansionsankündigung 2014 djihad-terroristische Taten nach dem „Modell Mumbai“ inmitten europäischer Hauptstädte folgen. So attackierten am 13. November 2015 in Frankreichs Hauptstadt drei Hit-Teams mit IS-Hintergrund drei Anschlagsziele: das Fussballstadion „Stade de France“, Cafés und Restaurants der Bistroterrassen und das Konzerthaus „Bataclan“. Die mit Sturmgewehren und Sprengsätzen ausgerüsteten Djihadterroristen töteten 130 Menschen und verletzten über 350. Die Opfer stammten aus 19 Staaten. „In einer gesegneten Schlacht haben die Soldaten des Kalifats die Hauptstadt der Prostitution und des Lasters angegriffen, die Speerspitze des Kreuzes in Europa – Paris“, verkündete danach der IS. Nach weiteren Anschlägen, etwa in Belgien, warnten Innenpolitiker der betroffenen Staaten davor, den IS zu unterschätzen: „Auch wenn der IS militärische Niederlagen auf dem syrisch-irakischen Kampfgebiet hinnehmen muss, sei die Terrororganisation weiterhin in der Lage, logistisch komplizierte Terroroperationen mit Tätern an mehreren Orten in Europa zu organisieren.“
Terrorsympathisanten in Europa
paperpress: Was muss Europa über die zurückgekehrten Djihadisten hinaus befürchten?
Berndt Georg Thamm: Die Rückkehrer finden in ihren Heimatländern keine Tabula rasa vor, sondern einen – über lange Jahre gewachsenen – „islamistischen Untergrund“. Inmitten der grossen Muslimgemeinden in Europa erwuchsen, insbesondere nach den 9/11-Anschlägen, kleine radikalislamische Bewegungen. Unter diesen war die Splittergruppe des politischen Salafismus die am schnellsten wachsende Bewegung.
paperpress: Warum wird der Salafismus zu den radikalislamischen Bewegungen gezählt?
Berndt Georg Thamm: Welche Gefahren mit salafistischen Bestrebungen verbunden sind, machten bei uns schon Verfassungsschützer 2011 deutlich: „Ziel von politischen und djihadistischen Salafisten ist die vollständige Umgestaltung von Staat, Rechtsordnung und Gesellschaft nach einem salafistischen Regelwerk, das als gottgewollte Norm angesehen wird. Sie streben die Errichtung einer islamistischen Ordnung an, in der wesentliche Verfassungsprinzipien des deutschen Grundgesetzes keine Gültigkeit haben sollen. Die parlamentarische Demokratie soll als vermeintlich unislamisch und unvereinbar mit der Idee einer Gottesherrschaft abgeschafft werden“.
paperpress: Gibt es ein Konzept für eine Art Bürgerkrieg zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Europa?
Berndt Georg Thamm: Das Konzept militanter Islamisten, durch djihadterroristische Aktionen „gewaltsame Gegenreaktionen der Mehrheitsgesellschaft zu provozieren“, zum Beispiel Brandanschläge auf Moscheen, zeigte schon nach den Pariser Anschlägen 2015 „Erfolge“.
Der Muslim lebt wie ein „Geheimagent“, da er in den nicht-muslimischen Ländern sowohl ein öffentliches als auch ein „geheimes“ Leben zu führen hat, eben ein Doppelleben – und dies über Jahre. Durch das Studium der „Überlebensschrift“ soll gelernt werden, wie man zur „Schläferzelle“ wird, die zur richtigen Zeit aktiviert wird, wenn die Muslimgemeinschaft dies braucht. Nun, die Verschleierung der eigenen Identität und die der wirklichen Absichten hat in der muslimischen Welt eine lange Tradition und einen Namen – Takiya.
paperpress: Takiya – ist das eine Art Kriegslist?
Berndt Georg Thamm: Takiya ist jedem Muslim erlaubt, nach einigen Gelehrten sogar Pflicht. Um „auf dem Weg Allahs“ erfolgreich zu sein, gilt auch die Takiya, das „Verhüllen“, als strategisches Mittel. Die Takiya hat die Funktion einer „Notlüge“ im Sinne einer erzwungenen Verleugnung des Islam, um sich letztlich für die „Sache des Glaubens“ erhalten zu können. Nach Auffassung nicht weniger Fundamentalisten ist Takiya gegenüber Ungläubigen keine Täuschung oder Lüge, da zu diesen grundsätzlich kein Vertrauensverhältnis besteht. Djihadisten kämpfen eben nicht immer mit offenem Visier. Ob als ziviler Helfer, Journalist, Geistlicher oder Polizist getarnt, das Täuschen und Verstellen dient der „Optimierung der Märtyreroperationen“ mit einer ganzen Bandbreite von Tarnlegenden. Vielleicht noch gefährlicher ist wohl die „Verschleierung der Muslimidentität“, beispielsweise durch die Annahme des „westlichen Lebensstils“ mit Alkohol- und Drogenkonsum, auch durch das Eintauchen in das Kleinkriminellenmilieu des „dekadenten Westens“ – was die Erkennung des Djihadisten als Djihadisten immer schwieriger werden lässt, im Idealfall verunmöglicht. „Gefährder“ sind plötzlich nicht mehr von sicherheitspolitischer Relevanz.
paperpress: Und was bedeuten engere Verbindungen zwischen islamistischen Terroristen und kriminellen Milieus?
Berndt Georg Thamm: Die bedeuten eine Zunahme der Gewaltbereitschaft und der Gewaltanwendung. Wie hochgefährlich Djihadisten mit kriminellem Hintergrund sind, wurde uns Europäern durch deren Terrorattacken in unseren Metropolen in den letzten Jahren vor Augen geführt. Weitere werden wohl folgen, und sind doch, einer Studie des European Counter Terrorism Centre EUROPOLs Ende 2016 zufolge, vor allem Frankreich, Belgien, Deutschland, die Niederlande und das Vereinigte Königreich „Ziele einer anhaltend hohen Bedrohung“. Doch sind auch Terrorattacken anderer Natur sind nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich, ist doch die „Erforschung neuer modi operandi“ nach Einschätzung EUROPOLs „ein Kennzeichen des IS“.
„Radikalisierung in Deutschland – jeder 6. Gefährder ist ein Konvertit“
paperpress: Neue „modi operandi“?
Berndt Georg Thamm: Ganz pragmatisch weist EUROPOL auf die Möglichkeit anderer hochgefährlicher Attacken hin. Da wären zum einen mobile Sprengstoffanschläge durch „Autobomben“ oder Geiselnahmen grösseren Ausmasses, wie es sie schon vor Jahren in Russland·gegeben hat. Selbst die Anwendung chemischer Kampfmittel wollen die polizeilichen Experten nicht ausschliessen und weisen darauf hin, dass es schon Indizien für IS-Experimente mit biologischen Kampfmitteln gebe. Und vielleicht müssen wir uns auch darauf einstellen, dass der IS Drohnen in Europa einsetzt. Zu den stark gefährdeten Staaten zählt die europäische Polizeibehörde auch Deutschland.
paperpress: Deutschland als Terrorziel des IS?
Berndt Georg Thamm: Über 15 Jahre nach den 9/11-Anschlägen gilt unter den rund vier Millionen hier lebenden Muslimen die Splittergruppe des politischen Salafismus als die am schnellsten wachsende radikalislamische Strömung. Als politisch-missionarische Bewegung gab es den Salafismus mit einigen 100 Anhängern schon 2001. Ende März 2017 ging das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) von mehr als 10.000 Salafisten aus. Der Propaganda dieser radikal-islamistischen Strömung, deren harter Kern den militanten Djihad zu einem untrennbaren Bestandteil muslimischer Glaubenspraxis erklärte, unterlag auch ein junger Muslim, der am 2. März 2011 „den ersten vollendeten, islamistisch motivierten Terroranschlag auf dem Boden der Bundesrepublik verübte“, so der Vorsitzende Richter des 5. Strafsenats des OLG Frankfurt/Main am 10. Februar 2012. Der 21-jährige Kosovo-Albaner Arid Uka war von den Richtern wegen Mordes an zwei US-Soldaten und versuchten Mordes an drei weiteren Amerikanern in einem Bus am Flughafen Frankfurt/M. zu lebenslanger Haft verurteilt. Die salafistische Szene hatte sich in Deutschland schon so radikalisiert, dass es zu Gewaltaktionen in der Öffentlichkeit kam. So am 5. Mai 2012 in Bonn, wo bei einer islamfeindlichen Kundgebung der rechtspopulistischen Splitterpartei Pro NRW gewaltbereite Salafisten auch Polizisten angriffen und zwei Beamte durch Messerangriffe schwer verletzten. Kein Wunder, dass aus diesem islamistisch-salafistischen Umfeld ab 2012 die Mehrheit der Freiwilligen stammte, die in den Nahen Osten reiste, um hier an djihadistischen Fronten zu kämpfen. Anfang März 2017 zählte das BfV mehr als 910 (darunter 110 aus Berlin) Islamisten, die von Deutschland in den Terrorkampf in Nahost gezogen waren. Rund ein Fünftel davon waren Frauen, mehr als die Hälfte hatte die deutsche Staatsangehörigkeit. Etwa 145 der Djihadfreiwilligen hatte bis dahin den Tod in Syrien/Irak gefunden. Über 300 der ausgereisten Djihadisten sollen wieder zurück nach Deutschland gekommen sein. Knapp die Hälfte der Djihad-Rückkehrer bleibt, einer Studie des Hessischen Informations- und Kompetenzzentrums gegen Extremismus, des BKA und des BfV zufolge, ihrer Gesinnung treu und ist weiterhin im extremistischen oder salafistischen Milieu unterwegs. Jeder vierte Rückkehrer soll aktive Kampferfahrungen haben. Kein Wunder, dass gerade diese zum Personenkreis „islamistischer Gefährder“ gezählt werden.
paperpress: Was haben wir uns unter „islamistischen Gefährdern“ vorzustellen?
Berndt Georg Thamm: Unsere Strafverfolgungsbehörden verstehen unter „Gefährdern“ Personen, die als „potenzielle Terroristen“ erfasst sind und von denen graduell abgestufte Gefahren für unsere Sicherheit ausgehen. Das BKA, so der Stand Ende 2016, listete 548 Islamisten auf, denen Anschläge und weitere „politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung“ zugetraut werden. Zu den als Gefährder eingestuften Personen zählte seit Februar 2016 auch der Tunesier Anis Amri, der am 19. Dezember den Terroranschlag in Berlin auf dem Weihnachtsmarkt beging. Seit einem halben Jahrzehnt steigen die Zahlen der Gefährder kontinuierlich. Anfang 2011 stufte die Polizei „nur“ 131 als Gefährder ein. In der jüngsten Listung des BKA wurden Anfang März 602 Islamisten als Gefährder eingestuft. Das Bundesinnenministerium zählte unter diesen 352 EU-Bürger und 250 Angehörige von Drittstaaten. Rund 300 halten sich derzeit nicht in Deutschland auf, etwa 100 befinden sich in deutschen Justizvollzugsanstalten. Fast jeder sechste Gefährder ist ein Konvertit.
paperpress: Ist Deutschland in der Zielauswahl des IS?
Berndt Georg Thamm: Zunächst die Kurzfassung: 2014 die Ankündigung des Kommens; 2015 ein Jahr voller Terrorwarnungen; 2016 ein Jahr praktizierter Terroranschläge; 2017 – ein Jahr, in dem es noch schlimmer kommen könnte.
paperpress: Wie sieht Ihre Langfassung der Terrorwarnungen aus?
Berndt Georg Thamm: Im Juli 2014 hatte die IS-Führung eine Expansion nach Europa in den nächsten fünf Jahren bis 2020 angekündigt. Nach dem ersten Terroranschlag in Europa in Paris, schien auch die Gefährdungslage in Deutschland bedrohlicher. Noch im Januar wurde eine Pegida-Demonstration in Dresden verboten. Ob der zu erwartenden Islamfeindlichkeit hatten im Vorfeld Salafisten mit Störungen gedroht. Im Februar 2015 sagte die Braunschweiger Polizei den traditionellen Karnevalsumzug „Schoduvel“ wegen einer Terrorwarnung ab. Ende April war ein türkisches Ehepaar wegen des Verdachts, einen Terroranschlag vorzubereiten festgenommen worden. In der Folge wurde ein für den 1. Mai 2015 geplantes Radrennen rund um Frankfurt/Main abgesagt. Nach dem Terroranschlag in Paris am 13.11.15 sollte vier Tage später das Fussball-Länderspiel Deutschland-Niederlande in Hannover zur Solidaritätsveranstaltung mit Frankreich gegen den Terror werden. Zeitnahe Anschlagswarnungen eines ausländischen Nachrichtendienstes (Mossad?) führten dazu, dass die Begegnung kurzfristig abgesagt und das Stadion wegen einer unmittelbar bestehenden Gefahr geräumt wurde. Last not least gab es, wie schon in Februar in Bremen, zum Jahreswechsel Terroralarm in der bayerischen Landeshauptstadt. Am Silvesterabend hatten die Sicherheitsbehörden Hinweise auf geplante Anschläge auf die Münchener Fernbahnhöfe bekommen, die in der Folge geräumt und gesperrt wurden. Waren die Anschlagsgefahren bis dahin mehr „abstrakt“, sollten sie mit fünf praktizierten Anschlägen 2016 ganz konkret werden.
paperpress: Fünf Anschläge in Deutschland 2016?
Berndt Georg Thamm: Der Terroranschlag eines IS-Selbstmordattentäters am 12. Januar in Istanbuls Stadtteil Sultanahmet traf eine Touristengruppe aus der Bundesrepublik und riss 12 Deutsche in den Tod. Am 26. Februar griff in Hannover eine 15-Jährige deutsch-marokkanische Schülerin im Hauptbahnhof einen Bundespolizisten mit einem Messer an und verletzte diesen lebensgefährlich. Das Mädchen war schon früh mit extremistisch-religiösen Kreisen in Kontakt gekommen, soll die Tat unter Anleitung und im Auftrag des IS begangen haben. Die 16-Jährige aus Hannover war die erste wegen einer Terrorattacke in Deutschland verurteilte IS-Sympathisantin.
Am 16. April verübten drei muslimische 16-Jährige mit afghanisch-türkischen Wurzeln in Essen einen Anschlag auf einen Tempel der Sikh-Gemeinde mit einem selbstgebauten Sprengsatz. Die Explosion der ferngezündeten Bombe verletzte zwei Gemeindemitglieder und einen Priester, letzteren schwer. Nach Überzeugung der Richter hatten die Jugendlichen vor der Tat einen „intensiven Kontakt zur salafistischen Szene aufgebaut“. Ihr Motiv sei Hass auf andere Religionen gewesen.
Am 18. Juli attackierte ein 17-Jähriger afghanischer Asylbewerber aus Ochsenfurt in einem Regionalzug nahe Würzburg Fahrgäste mit Axt und Messer, verletzte vier Menschen (eine Familie aus Hongkong) schwer. „Im Namen des allmächtigen Gottes: Ich bin ein Gotteskrieger des Islamischen Staates und heute werde ich einen Selbstmordanschlag in Deutschland verüben“, hiess es in seinem von der IS-Agentur Amiq veröffentlichten Videobekenntnis. Nach der Tat flüchtete der junge Djihadist aus dem notgebremsten Zug, fiel noch über eine Spaziergängerin her, bevor ihn zwei Polizeibeamte erschossen.
Am 24. Juli waren am letzten Tag des „Ansbach-Open“-Musikfestivals nochmals über 2.500 Besucher gekommen. Am Abend versuchte ein 27-Jähriger abgelehnter Asylbewerber aus Syrien auf das Gelände zu kommen. Da er keine Einlasskarte hatte, wurde er von der Security abgewiesen. Danach sprengte der Mann eine in seinem Rucksack verbrachte Nagelbombe. Mit dem selbstgebauten Sprengsatz tötete sich der mutmassliche Djihadist selbst und verletzte 15 Menschen. Als Impulsgeber für die Tat gilt der IS, hatte der Attentäter doch einen „Treueeid“ auf den Kalifen erneuert, ein Indiz für eine länger andauernde IS-Mitgliedschaft des Flüchtlings. Diese Tat im fränkischen Ansbach stellte eine Zäsur dar, handelte es sich doch um den ersten „vollendeten“ Selbstmordanschlag mit islamistisch-djihadistischer Motivation in Deutschland.
„Nicht aus heiterem Himmel“
paperpress: Der fünfte Anschlag fand in unserer Stadt, in Berlin, statt. Kam er aus heiterem Himmel oder mussten wir damit rechnen?
Berndt Georg Thamm: Es war keine Frage ob, sondern wann es uns auch hier treffen könnte. Und es traf uns am 19. Dezember, als der 24-jährige Tunesier Anis Amri einen – mit Ladung 32 Tonnen schweren – Sattelschlepper, dessen polnischen Lkw-Fahrer er zuvor ermordet hatte, in den Weihnachtsmarkt auf den Charlottenburger Breitscheidplatz steuerte. Der schon in seiner Heimat als gewalttätig bekannte Amri kam im April 2011 als Bootsflüchtling über Lampedusa nach Sizilien. Wegen diverser Straftaten sass er hier vier Jahre im Gefängnis. Nach seiner Entlassung im Frühjahr 2015 setzte er sich nach Deutschland ab, wurde hier im Sommer in Nordrhein-Westfalen als Flüchtling registriert, ging schliesslich nach Berlin. Bundesweit war er wohl unter mindestens 14 Identitäten erfasst. Wann, wo und wie sich der Kleinkriminelle zum Islamisten radikalisierte, ist nicht eindeutig, Einfluss darauf hatte wohl aber der Hassprediger Ahmed Abdelasis Abdullah A. alias Abu Walla. Zum Netzwerk des 32-jährigen IS-Repräsentanten gehörte wohl auch der Berlin-Attentäter Anis Amri. Nur einen Tag nach dessen Terrortat reklamierte der IS dessen Anschlag für sich.
paperpress: Und was erwarten Sie für 2017?
Bernd Georg Thamm: Die Polizei stellt sich auf eine grössere „Rückreisewelle“ europäischer und damit auch deutscher Djihadisten ein, wenn der IS weiter geschwächt und erst recht, wenn das Kalifat im Irak und Syrien militärisch geschlagen werden sollte. Rückkehrer mit Kampferfahrungen, die die Anzahl der Gefährder noch erhöhen würden, treffen auf eine hochaktive salafistische Szene, die in Dutzenden deutscher Städte mit „Lies!“ (den Koran)-Kampagnen und anderen Aktivitäten ihren Teil zur Radikalisierung beitragen. (Die Gruppierung welche die Koranverteilungskampagne organisierte, wurde am 15. November 2016 vom Bundesministerium des Innern verboten. Anm. d. Red.)
paperpress: Bei den von Ihnen genannten Anschlägen erwähnten Sie auch Flüchtlinge als Täter.
Berndt Georg Thamm: Als der IS im Juli 2014 seine Expansion nach Europa ankündigte gab er auch zu verstehen, dass als Flüchtlinge getarnt eingesickerte IS-Kämpfer hier früher oder später Anschläge begehen könnten, was auch – wie in Paris – geschah. Es ist auch richtig, dass insbesondere unter den unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen für die Sache des Islamismus, des Djihad, geworben werden kann und wohl auch geworben wird. Aber es ist nicht richtig, aus meiner Sicht auch völlig falsch, die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung verantwortlich für eine Eskalation der Terrorgefahren in unserem Land zu machen.
paperpress: Können Sie uns ein Beispiel zur IS-Fernradikalisierung von Kindern nennen?
Berndt Georg Thamm: Im letzten Jahr versuchte ein 12-jähriger Deutsch-Iraker in Ludwigsburg gleich zweimal eine selbstgebaute Bombe zu zünden. Am 26. November auf dem Weihnachtsmarkt der Stadt und ein paar Tage später, am 5. Dezember, nahe dem Rathaus. Beide Male kam es wegen eines technischen Fehlers nicht zur Explosion, der Zünder funktionierte nicht. Die Radikalisierung des „mutmasslich jüngsten islamistischen Terrorverdächtigen“ in Deutschland erfolgte wohl über die sozialen Netzwerke. Die Rekrutierung eines Kindes war für den IS „ein Sieg“ seiner psychologischen Kriegsführung.
Christenverfolgung „im Stil ethnischer Säuberungen“
paperpress: Wir führen dieses Interview kurz vor Ostern, dem höchsten Fest der Christen. Was wünschen Sie sich als Katholik in terroristischen Zeiten?
Berndt Georg Thamm: Mit Palmsonntag beginnt im christlichen Kalender die Karwoche vor Ostern, auch für die koptisch-orthodoxe Kirche in Ägypten, der vermutlich ältesten christlichen Gemeinschaft. An diesem Palmsonntag, den 9. April, töteten IS-Selbstmordattentäter mit einem verheerenden Doppelanschlag in der Mar-Girgis-Kirche in Tanta und nahe der St.-Markus-Kathedrale in Alexandria mindestens 44 Gläubige, über 120 wurden verletzt. Der IS-Vorläufer ISI verübte schon vor Jahren Terroranschläge auf christliche „Götzendiener“, beispielsweise am 30. Oktober 2010 in der katholischen Sayid ad-al-Nebjab-Kathedrale in Bagdad (58 Menschen fanden den Tod) und in der Nacht zum 1. Januar 2011 vor der koptischen Allerheiligen-Kirche St.Markus-Petri in Alexandria (23 Tote, fast 100 Verletzte). Nach ihren Untaten stellten die ISI-Terroristen eine Drohung ins Netz, in der es hiess, alle christlichen Kirchen und Einrichtungen, alle Kirchenführer und ihre Anhänger seien „legitime Ziele für heilige Krieger“. Ein halbes Jahrzehnt später, am 26. Juli 2016, drangen so zwei 19-Jährige „Soldaten des IS“. in eine katholische Kirche in Saint-Etienne-du-Rouvray bei Rauen in Nordfrankreich ein, ermordeten den 85-Jährigen Priester während der Frühmesse und nahmen Gläubige als Geiseln. Die jüngsten Anschläge in Ägypten machen deutlich, dass Christen vielleicht die grösste verfolgte Glaubensgemeinschaft weltweit ist. Einem Exodus gleich verlassen bedrohte Christen den Nahen Osten, wo insbesondere der IS sie „im Stil ethnischer Säuberungen“ verfolgt.
paperpress: Und was wünschen Sie sich persönlich?
Berndt Georg Thamm: Ich wünsche mir, dass ich mich in meinen Einschätzungen künftiger bedrohlicher Entwicklungen irren möge.