UNRWA: Wie Philippe Lazzarini die Realität verdreht

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Palästinensische Lehrer an einem Protest vor dem Hauptsitz des Hilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA) in Gaza-Stadt am 11. April 2021 teil. Die Lehrkräfte forderten UNRWA auf, die palästinensischen Lehrpläne zu respektieren, insbesondere die nationalen und islamischen Fächer, und sie als grundlegend zu betrachten. Foto IMAGO / ZUMA Wire
Palästinensische Lehrer an einem Protest vor dem Hauptsitz des Hilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA) in Gaza-Stadt am 11. April 2021 teil. Die Lehrkräfte forderten UNRWA auf, die palästinensischen Lehrpläne zu respektieren, insbesondere die nationalen und islamischen Fächer, und sie als grundlegend zu betrachten. Foto IMAGO / ZUMA Wire
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In einem Kommentar für Al-Jazeera behauptet der UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini, die Kritik am Unterrichtsmaterial und an den Lehrkräften in den UNRWA-Schulen sei ein beispiellos heftiger und voreingenommener Angriff auf das Hilfswerk. Die Schüler würden nicht zu Hass und Hetze gegen Juden und Israel erzogen, sondern vielmehr zu Toleranz und Gleichberechtigung. Doch mehrere Studien und Dokumentationen belegen das Gegenteil – und nun geht auch noch das Europäische Parlament auf Distanz.

Anfang April veröffentlichte der arabische Nachrichtensender Al-Jazeera mit Sitz in Katar, einen Gastbeitrag von Philippe Lazzarini, dem schweizerischen Generalkommissar des Hilfswerks der Vereinten Nationen für die palästinensischen Flüchtlinge (UNRWA). Sein Titel: «Den Palästina-Flüchtlingen zu helfen, ist nicht politisch». Lazzarini betont darin zu Beginn, es sei seine Aufgabe, «dafür zu sorgen, dass Palästina-Flüchtlinge im Westjordanland einschliesslich Ost-Jerusalem, im Gazastreifen, in Jordanien, im Libanon und in Syrien die ihnen zustehenden grundlegenden Dienstleistungen erhalten». 5,7 Millionen Flüchtlinge seien bei der UNRWA registriert, viele von ihnen hätten «unvorstellbares Leid erfahren, seit ihre Vorfahren vor über 70 Jahren aus ihrer Heimat vertrieben wurden». Die Corona-Krise habe dieses Leid noch einmal verstärkt. Die UNRWA, so stellt es jedenfalls ihr Generalkommissar dar, schaffe dagegen Linderung durch humanitäre Hilfe, Sozialfürsorge und Bildungsprogramme.

Doch trotz dieser Wohltaten sei das Hilfswerk «im vergangenen Jahr Gegenstand von Angriffen von beispielloser Heftigkeit und Voreingenommenheit» gewesen, schreibt Lazzarini. Der am häufigsten erhobene Vorwurf laute, die UNRWA spiele eine politische Rolle, doch das «könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein». Schliesslich bestehe der Auftrag der Einrichtung darin, Hilfe für die palästinensischen Flüchtlinge zu leisten, «bis eine gerechte und dauerhafte Lösung für ihre Notlage gefunden ist». Mit Politik beschäftige sich die UNRWA nicht, und im Übrigen sei sie wie alle anderen Einrichtungen der UNO auch an die humanitären Prinzipien der Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit gebunden. Es gehe bei allen Einsätzen nur um die Linderung von Leid, und dabei politisch zu sein, stehe «im Widerspruch zum humanitären Handeln».

Vererbter Flüchtlingsstatus, «Rückkehr» als einzige «Lösung»

Man muss an dieser Stelle noch einmal auf ein paar grundlegende Dinge hinweisen, die oftmals unerwähnt bleiben, wenn es um die UNRWA geht. Zum Beispiel auf die Eigentümlichkeit, dass die Palästinenser als einzige Bevölkerungsgruppe der Welt ein eigenes Flüchtlingshilfswerk bei den Vereinten Nationen haben – um alle anderen Geflüchteten kümmert sich das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR). Oder darauf, dass 99 Prozent der Palästinenser, die bei der UNRWA als Flüchtlinge geführt werden, gar nicht geflüchtet sind, sondern diesen Status lediglich über Generationen hinweg von ihren Vorfahren geerbt haben, die 1948/49 das Gebiet des neu gegründeten Staates Israel verlassen haben oder verlassen mussten.

Und man muss auch hervorheben, dass die «gerechte und dauerhafte Lösung», von der Lazzarini spricht, in den Augen der UNRWA einzig in der «Rückkehr» dieser Menschen auf eben jenes Territorium besteht. An eine dauerhafte Integration in jenen Ländern, in denen viele Palästinenser leben – etwa im Libanon, in Syrien und in Jordanien –, ist nicht gedacht. Schliesslich würde damit die Existenz Israels anerkannt und auf die Option verzichtet, über die «Rückkehr» die Bevölkerungszusammensetzung in Israel so zu verändern, dass die Juden dort zur Minderheit würden und es keinen jüdischen Staat mehr gäbe. Also sind die Palästinenser heute weiterhin «Flüchtlinge» am Tropf der UNRWA, die mit rund 30.000 Mitarbeitern die grösste Einzelorganisation der Vereinten Nationen ist. Zum Vergleich: Beim UNHCR kümmern sich etwa halb so viele Mitarbeiter um rund dreizehnmal so viele Menschen.

Hass und Hetze gegen Juden statt Gleichberechtigung und Toleranz

Bereits die schiere Existenz der UNRWA ist also eine höchst politische Angelegenheit. Und wenn man sich vergegenwärtigt, worum es bei den von Lazzarini beklagten «Angriffen von beispielloser Heftigkeit und Voreingenommenheit» ging und geht, lässt sich die Behauptung, das Hilfswerk sei neutral und nicht politisch, erst recht nicht halten. Immer wieder wurde zuletzt Kritik an den Unterrichtsmaterialien der UNRWA für die palästinensischen Schüler laut und darüber hinaus am Lehrpersonal, das die Kinder und Jugendlichen zum Hass gegen Juden anstiftet und antisemitischen Terror verherrlicht. Die UNRWA räumte ein, es gebe ein Problem, das man angehen wolle, und verwies gleichzeitig darauf, an die Lehrmaterialien und Curricula der Palästinensischen Autonomiebehörde gebunden zu sein. Zuletzt gab das Hilfswerk aber auch in Eigenregie produzierte Unterlagen zum Lernen aus – die jedoch nicht minder problematisch sind, wie eine Studie von IMPACT-se, einem Institut für das Monitoring von Frieden und kultureller Toleranz in der schulischen Bildung, sehr deutlich gezeigt hat.

Auch diese Unterlagen ermutigen zu Gewalt, Jihad, Terrorismus und Märtyrertum, in ihnen wird Israel dämonisiert und delegitimiert, und sie dienen in keiner Weise der Erziehung zum Frieden. Philippe Lazzarini behauptet gleichwohl in seinem Text für Al-Jazeera: «Jeder UNRWA-Mitarbeiter wird darin geschult, die Prinzipien der Neutralität und Nicht-Diskriminierung einzuhalten, und wird zur Rechenschaft gezogen und diszipliniert, wenn er gegen diese Prinzipien verstösst.» An allen 711 UNRWA-Schulen in der Region lernten die Schüler «die Bedeutung von Menschenrechten, Gleichberechtigung und Toleranz kennen», und die UNRWA-Schullehrer würden «ständig darin geschult, wie man kritisch mit Bildungsinhalten umgeht, die nicht im Einklang mit den UN-Werten stehen». Diese Werte vertrete eine überwältigende Mehrheit der Lehrer und Schüler «auch in Not- und Krisensituationen», und sie bleibe «selbst in Konflikten neutral».

Deshalb seien «die jüngsten Angriffe auf die UNRWA» und die «Behauptung, wir lehrten ‹Jihad› und ‹Terrorismus›», «einseitige Versuche, eine prinzipientreue humanitäre Organisation in eine hochpolitische Sphäre zu ziehen, in die sie nicht gehört», so der UNRWA-Generalkommissar. Die «ständigen Angriffe und unbegründeten Anschuldigungen» seien «nur ein politisches Mittel, um die UNRWA und die Palästina-Flüchtlinge, die sie schützt, zu delegitimieren». Damit werde versucht, «den Fokus von den Nöten der palästinensischen Flüchtlinge abzulenken, die durch ihre ständige Enteignung und Vertreibung betroffen sind». Angesichts der inzwischen umfangreichen Auswertungen und Dokumentationen des Lehr- und Lernmaterials, die neben IMPACT-se auch UNRWA-Monitor vorgelegt hat, ist das eine ganz und gar erstaunliche, um nicht zu sagen völlig abwegige Einschätzung und eine Verdrehung der Realität.

Auch das Europäische Parlament geht auf Distanz zur UNRWA

Das sieht nun offenbar auch das Europäische Parlament so, das sich am Mittwoch in seinem Haushaltsbericht unter Punkt 438 «besorgt über die Hassreden und die Gewalt» äussert, «die in denjenigen palästinensischen Schulbüchern gelehrt werden, die die UNRWA in den Schulen im Westjordanland, im Gazastreifen und in Ostjerusalem verwendet». Man bestehe darauf, «dass die UNRWA in voller Transparenz handelt und in einer Open-Source-Plattform alle seine Bildungsmaterialien für Lehrer und Schüler sowie seine Überprüfungen der verwendeten Schulbücher des Gastlandes veröffentlicht, um sicherzustellen, dass der Inhalt den Werten der Vereinten Nationen entspricht und nicht zu Hass aufstachelt», und fordere, «dass sämtliches Schulmaterial, das diesen Standards nicht entspricht, unverzüglich entfernt wird». Die Zweckbindung von EU-Mitteln für die Gehälter von Lehrern und öffentlichen Bediensteten im Bildungssektor müsse davon abhängig gemacht werden, «dass Bildungsmaterial und Lehrinhalte den UNESCO-Standards für Frieden, Toleranz, Koexistenz und Gewaltlosigkeit entsprechen».

UNRWA-Online-Unterricht delegitimiert Israel und glorifiziert jene, die im Jihad sterben oder andere töten. Video UNRWA Monitor

Eine solche Stellungnahme hatten die UNRWA und die Autonomiebehörde im Vorfeld zu verhindern versucht, jedoch ohne Erfolg. Die Erklärung des Europäischen Parlaments steht in klarem Widerspruch zu den Beteuerungen des UNRWA-Generalkommissars, in den Schulen würden UN-Werte wie Neutralität, Gleichberechtigung und Toleranz vermittelt. Und sie macht deutlich, was von Philippe Lazzarinis Behauptung zu halten ist, die Kritik an der UNRWA diene lediglich der Delegitimierung des Hilfswerks und der palästinensischen Flüchtlinge und lenke von deren Nöten ab. Was etwa in einem Dokumentarfilm von UNRWA-Monitor schon vor mehreren Jahren aufgedeckt wurde – nämlich die Verhetzung von Kindern an UNRWA-Schulen –, hat sich auch im Online-Unterricht während der Corona-Krise fortgesetzt. Wenn das Europäische Parlament nun betont, EU-Gelder dürften «nicht für irgendeine Form von Terrorismus und/oder religiöser und politischer Radikalisierung verwendet oder damit verbunden werden», sollte das auch spürbare Konsequenzen für die finanzielle Unterstützung der UNRWA haben.

Über Alex Feuerherdt

Alex Feuerherdt ist freier Autor und lebt in Köln. Er hält Vorträge zu den Themen Antisemitismus, Israel und Nahost und schreibt regelmässig für verschiedene Medien unter anderem für die «Jüdische Allgemeine» und «Mena-Watch». Zudem ist er der Betreiber des Blogs «Lizas Welt». Gemeinsam mit Florian Markl ist er Autor von »Vereinte Nationen gegen Israel«, erschienen bei Hentrich & Hentrich 2018.

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