Netanjahus Achillessehne

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Premierminister Benjamin Netanyahu (rechts) und Israels damals neuer Verteidigungsminister Avigdor Lieberman treffen am 30. Mai 2016 zu einer gemeinsamen Pressekonferenz in der Knesset ein. Foto Yonatan Sindel/Flash90
Premierminister Benjamin Netanyahu (rechts) und Israels damals neuer Verteidigungsminister Avigdor Lieberman treffen am 30. Mai 2016 zu einer gemeinsamen Pressekonferenz in der Knesset ein. Foto Yonatan Sindel/Flash90
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Genau einen Monat nach ihrer Konstituierung hat sich die 21. Knesset am 29. Mai 2019 schon wieder selbst aufgelöst. Erstmals gibt es somit eine Knesset in der Geschichte des Staates Israel, die kein einziges Gesetz verabschiedet hat.

 

Zudem haben Israels Gesetzgeber mit dreissig Tagen Amtszeit einen Rekord für die kürzeste Legislaturperiode hingelegt. Am 17. September soll es Neuwahlen geben. Somit werden die Bürger Israels – nach den Kommunalwahlen im Herbst – zum dritten Mal in einem Jahr an die Urnen gebeten, was ebenfalls erstmalig ist.

Wie ist es dazu gekommen?

Eigentlich war das Wahlergebnis vom 9. April eindeutig gewesen. Der Mitte-Rechts-Block um Benjamin Netanjahu hatte 65 von 120 Mandaten im israelischen Parlament erreicht. Doch weil die fünf Abgeordneten der von russischen Einwanderern dominierten Partei „Israel Beiteinu“ („Israel unsere Heimat“) ihre Stimme verweigerten, konnte Netanjahu keine Regierung bilden.

Avigdor Lieberman, der Vorsitzende von „Israel Beiteinu“, hatte bereits im Dezember 2018 die Selbstauflösung der Knesset provoziert. Jetzt war es wieder Lieberman, der die Bildung einer handlungsfähigen Regierung verunmöglichte.

Wehrpflicht für Ultraorthodoxe?

Offizieller Grund für das Scheitern der Koalitionsverhandlungen war eine Gesetzesvorlage, die auch für ultraorthodoxe Juden die allgemeine Wehrpflicht fordert. Allerdings versteht niemand wirklich, was Liebermans Problem ist. Die Details der Frage einer Wehrpflicht für Ultraorthodoxe, die bislang vom Wehrdienst befreit sind, macht das politische System seit Jahren verrückt. Und die Armee ist sich selbst nicht sicher, ob sie überhaupt noch mehr ultraorthodoxe Soldaten haben will.

Beobachter und Kommentatoren aus allen Richtungen sind sich einig: An der Wehrpflicht für Ultraorthodoxe ist diese Regierungsbildung nicht gescheitert. Wenige Stunden nach der Entscheidung für Neuwahlen offenbarte Arije Der’i, Chef der orthodox-sephardischen Schass-Partei, die Ultras hätten sogar angeboten, eine Minderheitsregierung unter Führung von Netanjahu und Lieberman von aussen, das heisst, ohne eigene Regierungsämter, zu unterstützen. Aber auch dieses Angebot habe Lieberman abgelehnt.

Wie ist dann die Dickköpfigkeit von Avigdor Lieberman zu verstehen? Um was geht es? Um Macht, persönliche Rache oder schlicht schieren Sadismus? In der schicksalhaften Nacht vom 29. auf den 30. Mai twitterte Likudsprecher Jonathan Urich wenige Stunden vor der Parlamentsabstimmung: „Es geht weder um Wehrpflicht noch um Prinzipien. Lieberman will Netanjahu zerstören.“

Netanjahus Feinde freuen sich

Richtig ist auf jeden Fall, dass die Schadenfreude auf Seiten der politischen Feinde Netanjahus gross ist. Und jetzt, mit Neuwahlen in Reichweite, haben diejenigen, die um alles in der Welt „König Bibi“ absetzen wollten, neu Blut geleckt.

Als sei Netanjahu schon verurteilt und als habe es den Grundsatz „in dubio pro reo“ nie gegeben, werden alte Dreckschleudern neu mobilisiert. Endlich sei der „Mann ohne Ehre“, der „bis zum Genick in Verbrechen“ stecke und „machttrunken“ sei, „geschlagen und gedemütigt“, als „Verlierer“ entlarvt. Da wird nicht nur betont, dass „eine korrupte und längst überfällige Rechtsregierung endlich ihr Ende finden“ müsse. Man wähnt Netanjahu gar bereits „auf seinem politischen Sterbebett“.

Inwieweit die Netanjahu-Untergangspropheten dieses Mal Recht haben, bleibt abzuwarten. Nach dem 17. September 2019 werden wir alle schlauer sein. Auf jeden Fall wird spannend, wen welche Wähler für was abmahnen werden. Oder auch, welche Auswirkungen eine allgemeine Wahlmüdigkeit und Wählerenttäuschung haben werden.

Parteienbeben in Israel

Schon am frühen Morgen nach der Nacht der Entscheidung zur Selbstauflösung der Knesset zeichnete sich ab, dass sich die Parteienlandschaft Israels im Sommer 2019 erneut neu formieren wird. Allen ist klar, dass durch die grosse Zersplitterung bei den Wahlen Anfang April viele kostbare Wählerstimmen verloren gingen. Deshalb heisst die ganz offensichtliche Parole für alle „Einheit“.

Israels Linke muss sich überlegen, wie sie überhaupt überleben kann. Erste Umfragen unmittelbar nach der Verkündung von Neuwahlen offenbarten, dass Israels Arbeitspartei völlig von der politischen Bildfläche verschwinden würde.

Der bisherige Parteivorsitzende Avi Gabbay hatte wenige Stunden vor der Auflösung der 21. Knesset noch laut darüber nachgedacht, Postenangebote von Netanjahu positiv zu beantworten. Nach Verkündung der Neuwahlen im September, sinnierte er weiter über eine mögliche Zusammenarbeit mit dem Likud.

Für viele seiner Parteigenossen ist damit klar: „Gabbays politische Karriere ist vorbei.“ Für sie bleibt nur die Frage, ob sie sich mit der links-zionistisch-kommunistischen Meretz-Partei oder mit „Kachol-Lavan“ vereinigen. Klar ist damit lediglich, dass sich die traditionelle Sozialdemokratie Israels, die den Staat vor mehr als 70 Jahren gegründet und jahrzehntelang quasi allein beherrscht hat, weiter selbst zersetzt.

Auch die Araber Israels haben verstanden, dass Zersplitterung politischer Selbstmord ist. So denken Chadasch, Ta’al und Balad wieder über eine Vereinigung der „Arabischen Liste“ nach.

Zudem muss man sich über mögliche jüdische Koalitionspartner klar werden. Das ist nicht nur die Botschaft der arabischen Wähler, die am 9. April entweder Zuhause geblieben waren, oder für zionistisch-jüdische Parteien gestimmt hatten. Das gebietet auch die einfache Logik. Das Ziel einer Entmachtung „Bibis“ kann, wenn überhaupt, nur gemeinsam erreicht werden.

Was für Israels zionistische Linke und für seine Araber gilt, ist schliesslich auch richtig für das rechts-zionistische Spektrum der Parteien. Ganz gleich, ob national-religiös oder explizit säkular: Die letzten Wahlen haben gleich zwei rechte Parteien knapp an der 3,25%-Hürde scheitern lassen, wodurch Tausende von Wählerstimmen verloren gingen. Interessant ist dort vor allem auch, wo sich die bisherige Justizministerin Ajellet Schaked positionieren wird.

Im Likud ist man sich einig, dass es keine neuen innerparteilichen Vorwahlen geben wird. Lediglich die dem Likud ohnehin eng verbundene Partei „Kulanu“ unter Führung von Mosche Kachlon wird in die bestehende Liste verhältnismässig „eingebaut“.

Königsmacher oder Königsmörder?

Doch zurück zu Lieberman. Er hat seiner Wählerschaft versprochen, auch bei der nächsten Regierungsbildung zu entscheiden, wer Ministerpräsident wird. Bleibt die Frage: Will er Netanjahu unterstützen oder „König Bibi“ stürzen?

Jedenfalls hat das Pokerface mit dem russischen Akzent verstanden, was offensichtlich viele in Israel, die gerne ein Ende der Ära Netanjahu sehen würden, noch nicht begriffen haben. Auch wenn sich 100 000 am 25. Mai in Tel Aviv gegen Netanjahus mutmassliche Korruption und sein Bemühen, das Rechtssystem Israels zu seinen Gunsten zu verändern, protestiert haben: Das ist es nicht, was die Mehrheit in Israel bewegt.

Lieberman kennt sein Land – und vor allem kennt er seinen politischen Ziehvater und Weggefährten Benjamin Netanjahu. Nicht Israels Linke mit ihrer Sorge um die Demokratie vermag „Bibi“ ernsthaft zu gefährden, sondern einer seiner engsten und langjährigsten Weggefährten. Deshalb hat sich Netanjahu auch bemüht, seinen potentiellen Koalitionspartner als „Linken“ abzustempeln. Ein Bemühen, das irgendwie nicht gelingen will. Zu Recht konterte Lieberman: „Wie will ein Mann aus [dem reichen] Cäsarea einen [Siedler] aus Nokdim als Linken bezeichnen? … Und wer hat für den Rückzug aus dem Gazastreifen votiert? Wer hat sich beim Diktator Erdoğan entschuldigt? Wer hat sich gegen die Todesstrafe für Terroristen, gegen die Räumung von Khan El-Ahmar, gegen eine härtere Reaktion auf 700 Raketen aus Gaza ausgesprochen – und dafür der Hamas 30 Million US-Dollar zukommen lassen?“

Netanjahus Beziehung zu Lieberman

Mit der Beschuldigung, Lieberman sei ein „Linker“, hat Netanjahu zugegeben: Sein Hauptproblem ist das Verhältnis zu Avigdor Lieberman.

Geschickt hat Lieberman seit Dezember 2018 seinen Fokus verschoben. Als Verteidigungsminister hatte er damals eine härtere Vorgehensweise gegen die Hamas im Gazastreifen gefordert – und so Neuwahlen vom Zaun gebrochen. Wenn er jetzt die allgemeine Wehrpflicht zum Anlass für das Scheitern der Regierungsbildung macht, schwenkt Lieberman den Fokus vom Erzfeind Hamas auf den Erzrivalen des säkularen Russen: Die Ultraorthodoxen.

Statt „Rechts-Links“ „Religiös-Säkular“

Geschickt nutzt Lieberman so eine andere Polarisierung der israelischen Gesellschaft, nicht die zwischen „Rechts“ und „Links“, sondern die zwischen „Religiös“ und „Säkular“. Plötzlich geht es nicht mehr um Raketen, Landabgabe oder die Teilung Jerusalems, sondern um die Alternative: Ein Israel, in dem jeder nach eigener Fasson leben kann – oder ein Israel, das sich am jüdischen Gesetz ausrichten, und deshalb „Halachah-Staat“ genannt werden muss.

Als eigentlich säkularer Israeli, mit grosser Zuneigung für die christlichen Freunde Israels, hatte Benjamin Netanjahu es sich sogar geleistet, einen messianischen Juden als Berater für soziale Netzwerke einzustellen. Erstaunlicherweise gab es von seiner Machtbasis in der orthodoxen Gesellschaft Israels keine hörbaren Proteste dagegen.

Im Blick auf den Gazastreifen, eine Zweistaatenlösung, die Jerusalem-Frage, einen „Friedensprozess“ mit den Palästinensern ist sich die Gesellschaft Israels weitgehend einig. Mit der Neufokusierung der Diskussion auf die Kluft zwischen Religiösen und Säkularen könnte es Lieberman gelingen, eine alte Kluft neu aufzureissen und so die Gesellschaft des jüdischen Staates neu zu polarisieren. Und das könnte tatsächlich eine ernsthafte Herausforderung für Netanjahu werden. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob der Fuchs aus Moldawien mit diesem Schachzug die politische Achillessehne Netanjahus freigelegt hat.

Gar keine Niederlage für Netanjahu

Eine andere Möglichkeit bliebe freilich, dass die jüngsten Entwicklungen überhaupt keine Niederlage für Netanjahu sind. Immerhin bleibt er an der Macht, solange keine neue Regierung gebildet ist. Alle anhängenden Probleme, innen- wie aussenpolitisch bleiben in der Schwebe – und es gibt böse Stimmen, die behaupten, dass in vielen Fällen die Zeit für Netanjahu spiele.

Richtig ist: Die Linke zersetzt sich, Blau-Weiss und die Araber haben Profilprobleme und die Wähler werden immer apathischer. Und dann zeichnen ganz grosse Pessimisten jetzt schon die Möglichkeit an die Wand, dass es im November wieder zu einer Patt-Situation kommen könnte und noch ein drittes Mal Neuwahlen beschlossen werden könnten. Was das für die Demokratie Israels bedeuten würde, wagt bislang kaum jemand zu träumen. Jedenfalls tendiert die Wahlbegeisterung der Israelis jetzt schon gegen Null.

Über Johannes Gerloff

Johannes Gerloff ist ein deutscher Journalist, Theologe und Autor mit Schwerpunkt Israel und Naher Osten. Er ist im Nordschwarzwald aufgewachsen und hat in Tübingen, Vancouver/Kanada und Prag/Tschechien Theologie studiert. Seit 1994 lebt er mit seiner Familie in Jerusalem.

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