Knesset-Wahlen und ein Super-Containerschiff

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Ein Wahlkampfplakat für den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu von der Likud-Partei. Foto IMAGO / ZUMA Wire
Ein Wahlkampfplakat für den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu von der Likud-Partei. Foto IMAGO / ZUMA Wire
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Genau rechtzeitig bevor sich alles in die Passaferien zurückzog lagen die Ergebnisse vom 23. März 2021 auf dem Tisch. Israel hatte seinen vierten Urnengang in zwei Jahren überstanden. In der 24. Knesset des jüdischen Staates werden dreizehn Parteien vertreten sein. Was Deutschen eine Unglückszahl ist, ist Israelis heilig. „Die Dreizehn“ sind nach uralter jüdischer Tradition die dreizehn Eigenschaften des einen, wahren, lebendigen Gottes.

Die Stabilen, die Verlierer und die Gewinner

Betrachtet man die Sitzverteilung und vergleicht sie mit der Wahl von vor einem Jahr, fallen zunächst einmal die stabilen Parteien ins Auge. Das sind die Ultraorthodoxen. Sowohl die sephardische Schass-Partei (9), als auch das aschkenasische Vereinigte Thorajudentum (7) konnten ihre Sitze halten. Dasselbe gilt für die säkular-nationalistische Partei „Israel Beiteinu“ („Israel, unsere Heimat“) von Avigdor Lieberman. Zu den Stabilen kann man schliesslich auch Netanjahus Likud (30) zählen, wenn man berücksichtigt, dass er sechs Mandate an die Parteineugründung „Neue Hoffnung“ des ehemaligen Likudprinzen Gideon Sa’ar verloren hat.

Die grossen Verlierer dieser Wahl sind die gemeinsame Liste der arabischen Parteien (6). Sie hat im Vergleich zu vor einem Jahr neun Sitze verloren. Die islamistische Ra’am (Vereinigte Arabische Liste) erreichte unter Mansour Abbas aus Maghar in Galiläa allerdings im Alleingang auf Anhieb vier Mandate. Die ehemals gemeinsame Liste von „Kachol Lavan“ („Blau Weiss“) (8) und „Jesch Atid“ („Es gibt Hoffnung“) (17) hat acht Mandate eingebüsst.

Für die Arbeitspartei (7) und die zionistisch-kommunistische Meretz-Partei (6) hat sich das Zusammengehen im letzten Wahlgang offensichtlich nicht gelohnt. Einzeln konnten sie jetzt insgesamt sechs Mandate mehr ergattern. Möglicherweise haben sich Wähler der arabisch-kommunistischen Chadasch-Partei dieses Mal für Meretz entschieden. Das würde neben der niedrigen Wahlbeteiligung im arabischen Sektor die Einbussen der gemeinsamen arabischen Liste erklären.

Die beiden nationalistischen Parteien „Jamina“ („Nach rechts“) (7) unter Naftali Bennett und die „religiösen Zionisten“ (6) konnten sogar sieben Mandate zulegen. Offensichtlich hat sich für die drei Splitterparteien „Nationale Union“, die neo-kahanistische „Otzmah Jehudit“ („Jüdischen Macht“) und die als homophob verschriene „Noam“ die Vereinigung unter Führung von Bezalel Smotritsch und Itamar Ben-Gvir gelohnt. Die Stimmen vom äussersten Rand des rechten politischen Spektrums der jüdischen Gesellschaft gingen auf diese Weise nicht durch die Sperrklausel von 3,25 Prozent verloren.

Überraschungen und Neuheiten

Überrascht hat der Ausgang dieser Wahlen wohl kaum jemanden. Dass Verteidigungsminister Benny Gantz (Kachol Lavan) nach einem effektiven Wahlkampf wieder in der Knesset sitzt, mag manchen erstaunt haben. Interessant ist auch, dass Islamisten im Parlament des jüdischen Staates eine Stimme haben.

Mit Rabbi Gilad Kariv zieht erstmals offiziell ein Rabbiner, der nicht orthodox ist, in das Parlament des jüdischen Staates Israel ein. Ultraorthodoxe Politiker haben bereits angekündigt, den Reformrabbiner zu boykottieren. Der 47-jährige Kariv ist seit Jahren führendes Mitglied in der Arbeitspartei, Geschäftsführer und Präsident der Reformbewegung, die in Israel etwas mehr als fünfzig Gemeinden hat. Ungefähr zehn Prozent der israelischen Juden bekennen sich zur Reform- und konservativen Bewegung des Judentums.

Um was ging es im Frühjahr 2021?

Es ging nicht um Corona, Datenschutz, persönliche Freiheiten oder wirtschaftliche Herausforderungen, und auch nicht um die grösste Ölpest, die Israel jemals erlebt hat. Weder die Spannungen zwischen Religiösen und Säkularen noch die Wasserknappheit in der gesamten Region, oder die angespannten Beziehungen zu Jordanien waren ein Wahlthema, das Israelis interessiert hätte.

Nachdem Trump und Netanjahu mit ihren arabischen Freunden die Palästinenserfrage durch diverse Normalisierungsabkommen für irrelevant erklärt haben, nachdem im letzten Wahlkampf die Annexion des Westjordanlandes Gegenstand von grossartigen Wahlversprechen war und Netanjahu ganz offensichtlich überhaupt kein Interesse an einer diplomatischen Lösung des Konflikts mit den Palästinensern zeigt, könnte man annehmen, dass das Wahlkampfthema hätte sein sollen. Aber, weit gefehlt!

Ein arabischer Kolumnist gab sich grosse Mühe, in einer israelischen Tageszeitung nachzuweisen, dass sich die Hamas keinen besseren israelischen Premier wünschen könnte als Benjamin Netanjahu. Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag steht ein Verfahren gegen mutmassliche israelische Kriegsverbrecher an. Das Kriegsgeschehen in der arabischen Welt rund um Israel geht weiter, auch wenn das Interesse daran erschöpft zu sein scheint, und mit dem Iran ist überhaupt nichts gelöst. Doch Sicherheit und Diplomatie waren im jüngsten Wahlkampf Israels überhaupt keine Themen.

Das Super-Containerschiff im Suezkanal

Alles drehte sich um Benjamin Netanjahu, um seine Persönlichkeit, seinen Einfluss, seine ausstehenden Korruptionsprozesse, die Begeisterung für oder den Hass auf ihn. Selbst Journalisten, die erzählen, wie giftig der Premier mit Medienvertretern umzugehen pflegt, kamen nicht umhin, sein professionelles Auftreten in der Öffentlichkeit zu bewundern.

Netanjahu ist in Israels Politik dasselbe wie das Evergreen-Containerschiff im Suezkanal, traf ein politischer Kommentator den Nagel auf den Kopf. Ohne das riesige Tankschiff im Nadelöhr zwischen Indischem Ozean und Mittelmeer würde der Verkehr ungehindert fliessen.

Am Freitag, bevor sich die Ruhe des Sabbat und dann unmittelbar danach die Passawoche über die jüdische Gesellschaft Israels legte, twitterte Gideon Sa’ar: „Zum vierten Mal in zwei Jahren hat es Netanjahu nicht geschafft eine Mehrheit von 61 Sitzen im Parlament zu bekommen. Ohne Netanjahu lässt sich einfach und schnell eine stabile Regierung bilden. Ich fordere Netanjahu auf, zur Seite zu treten, Israel freizusetzen und dem Land zu erlauben, vorwärts zu gehen.“

Anti-Netanjahu-Kommentatoren sehen durch seine Person gar „eine schrittweise Abnahme und Schwächung“ ihrer Demokratie. Aus ihrer Sicht war die Wahl vom März 2021 eine Schicksalswahl im Blick auf die Zukunft der israelischen Demokratie.

Manöver und Tricks

Unmittelbar nach der Passapause steht Israel eine Zeit der Manöver und Tricks ins Haus. Klar ist lediglich, dass Netanjahu die Mehrheit fehlt, um eine regierungsfähige Koalition zu bilden. Er ist so populär, wie kein anderer – aber nicht populärer als alle zusammengenommen, die ihn vehement ablehnen. Ein kurzer Blick auf die Netanjahu-Gegner zeigt: Die verbindet nichts, ausser ihrer Ablehnung der Person Netanjahus.

Der Islamist Mansour Abbas spricht mit den erklärt anti-religiösen Netanjahu-Gegnern. Allerdings haben sowohl er als auch Netanjahu sich nicht durch vorschnelle Erklärungen blockiert, obwohl der rassistische neo-Kahanist Itamar Ben-Gvir fest im Netanjahu-Lager eingebunden zu sein scheint.

Die ideologischen Dehnübungen beider Seiten sind hochspannend. Es geht hier nicht nur um die Frage, ob Smotritsch und Ben-Gvir theoretisch einer Regierung angehören könnten, die von Abbas unterstützt wird, sondern auch darum, ob Abbas eine Regierung unterstützen könnte, die den Gazastreifen bombardiert.

Avigdor Lieberman hat ein Gesetz ins Gespräch gebracht, das jemandem, der krimineller Machenschaften angeklagt ist, die Bildung einer Regierung untersagen würde. Mit dieser Gesetzesvorlage hofft er gleichzeitig alle Netanjahu-Gegner zu einen und Netanjahu ausser Gefecht setzen zu können.

Die Passaferien werden derweil intensiv für persönliche Gespräche genutzt. Es gibt Hinweise, dass der Likud alle Mitglieder der „Neuen Hoffnung“ anspricht, um sie zum Überlaufen in eine Netanjahu-Koalition zu bewegen. So soll Netanjahu Gideon Sa’ar angeboten haben, nach einem Jahr zurückzutreten – was Sa’ar rundweg abgelehnt habe.

Naftali Bennett hat ein „staatsmännisches und verantwortliches Vorgehen“ angemahnt, „um Israel vor dem Chaos zu retten“. Mit Jair Lapid diskutiert er eine Regierungsbildung zur „nationalen Heilung“. Aber auch die „Regierung der nationalen Heilung“ kann bislang nur 52 Mandate vereinigen, wobei von den Islamisten erwartet wird, die Regierung von aussen zu tolerieren.

Meretz soll zwar zur Koalition, nicht aber zur Regierung gehören. Die ultra-orthodoxen Parteien sollen sich später anschliessen können – aber niemand weiss, wie sie sich dann mit dem erklärt anti-religiösen Lieberman vertragen sollen. Zudem können sich Bennett und Sa’ar nicht darüber einigen, ob man sich von den Stimmen arabischer Parteien abhängig machen sollte.

Spannend wird in den nächsten Wochen, wer ideologisch wie flexibel sein wird, wem welche Tricks einfallen werden, wer zu welchen politischen Verrenkungen in der Lage sein wird. Dabei ist praktisch keine Konstellation unvorstellbar.

Über Johannes Gerloff

Johannes Gerloff ist ein deutscher Journalist, Theologe und Autor mit Schwerpunkt Israel und Naher Osten. Er ist im Nordschwarzwald aufgewachsen und hat in Tübingen, Vancouver/Kanada und Prag/Tschechien Theologie studiert. Seit 1994 lebt er mit seiner Familie in Jerusalem.

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