Warum die Palästinenser kein Parlament haben

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Riyad Al-Maliki, der palästinensische Aussenminister, vor dem Präsidenten Mahmoud Abbas in der Al-Muqata'a-Zentrale in Ramallah. Foto Mustafa Bader - Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38739170
Riyad Al-Maliki, der palästinensische Aussenminister, vor dem Präsidenten Mahmoud Abbas in der Al-Muqata'a-Zentrale in Ramallah. Foto Mustafa Bader - Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38739170
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Parlamente sind nicht nur eine der kraftvollsten Manifestationen einer Demokratie, darüber hinaus repräsentieren sie die Wähler, erlassen Gesetze und überwachen die Regierung in Form von Anhörungen und Anfragen.

 

von Khaled Abu Toameh

Offensichtlich gilt dies jedoch nicht für die Palästinenser, die in der Folge des Machtkampfs zwischen der regierenden Fatah-Fraktion des Vorsitzenden der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmoud Abbas, im Westjordanland und der Hamas im Gazastreifen seit elf Jahren ohne ein funktionierendes Parlament sind.

Die Einkammer-Legislative der Palästinensischen Autonomiebehörde ist der aus 132 Mitgliedern bestehende Palästinensische Legislativrat (PLC). Sowohl die PA als auch der PLC wurden nach der Unterzeichnung des Osloer Abkommens im Jahr 1993 gegründet. Die erste palästinensische Parlamentswahl wurde im Januar 1996 durchgeführt. Die zweite und letzte Wahl, die mit einem Sieg der Hamas endete, fand im Januar 2006 statt.

2007 übernahm die Hamas gewaltsam die Kontrolle über den Gazastreifen und stürzte das dortige Regime der Palästinensischen Autonomiebehörde. Seither funktioniert das palästinensische Parlament nicht ordnungsgemäss, wenngleich die Gesetzgeber der Hamas gelegentlich zu gesonderten Treffen im Gazastreifen zusammenkommen. In Ermangelung eines funktionierenden Parlaments erliess Abbas Gesetze per „Präsidentendekret“. Deren Legalität wurde von einigen Palästinensern infrage gestellt, die dem palästinensischen Machthaber vorwarfen, gegen das palästinensische Grundgesetz zu verstossen.

Abbas ist somit de facto als alleiniger Gesetzgeber der Palästinenser an die Stelle des PLC getreten. Dies hat aus ihm einen autokratischen und totalitären Präsidenten gemacht, der Entscheidungen fällt, ohne von irgendjemandem – auch nicht von Mitgliedern des palästinensischen Parlaments – dafür verantwortlich gemacht zu werden.

Noch schlimmer ist, dass Abbas seine Macht nutzt, um jene Parlamentsangehörigen zu bestrafen, die es wagen, ihn zu kritisieren oder die Stimme gegen seine Politik zu erheben. So zum Beispiel 2016, als Abbas die parlamentarische Immunität von fünf „aufsässigen“ Abgeordneten aufhob: Mohammed Dahlan, Shami al-Shami, Najaf Abu Bakr, Nasser Juma’ah und Jamal Tirawi.

„Abbas‘ Entscheidung ist ein Verstoss gegen das palästinensische Grundgesetz, welches die Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative fordert“, kommentierte Abu Bakr. „Wir respektieren das Justizsystem und das Gesetz. Wir lehnen jeden Versuch, das Gesetz auszunutzen, um die Justizgewalt zu manipulieren, ab.“

Abbas seinerseits hegt keine Sympathien für den PLC, da er weiss, dass viele von dessen Mitgliedern aus der Fatah und der Hamas ihm und seiner Politik gegenüber kritisch eingestellt sind. Da Abbas nicht besonders gut mit Kritik umgehen kann, fühlt er sich ohne Zweifel wohler, wenn er Reden vor internationalen Foren wie den Vereinten Nationen, dem EU-Parlament und seinen eigenen Institutionen in Fatah und PLO hält, als im palästinensischen Parlament. Überall dort, wo ihn niemand wegen seiner Tyrannei zur Rede stellt.

Die PLO- und Fatah-Institutionen, vor denen Abbas häufig spricht, sind vorrangig mit seinen treuen Anhängern besetzt, von denen viele auch auf seiner Gehaltsliste stehen. Wer braucht schon ein Parlament, wenn da das PLO-Exekutivkomitee, der PLO-Zentralrat und das Zentralkomitee der Fatah sind, auf deren Unterstützung für Abbas und dessen Entscheidungen man blind zählen kann? Als zentrale Entscheidungsinstanzen der Palästinenser haben diese drei palästinensischen Institutionen tatsächlich den PLC ersetzt. Dennoch sind die einzigen Entscheidungen, die diese Institutionen fällen, solche, die Abbas in allem was er sagt und tut uneingeschränkt unterstützen.

Ohne ein Parlament haben die Palästinenser keinen Ansprechpartner, demgegenüber sie ihre Klagen zum Ausdruck bringen könnten. Sie können mit ihren gewählten Abgeordneten weder korrespondieren noch telefonieren, um ihre Beschwerden vorzubringen. Ihnen bleibt einzig, Zuflucht zu den sozialen Medien, insbesondere Facebook, zu nehmen, um ihre Meinung zu äussern. Und selbst dort sind die Palästinenser nicht sicher vor dem langen Arm der palästinensischen Sicherheitskräfte. In den vergangenen Jahren wurden unzählige Palästinenser von Abbas‘ Sicherheitskräften schikaniert, verhaftet und verhört, weil sie kritische Kommentare auf Facebook gepostet hatten.

Am 14. Oktober gingen die loyalen Abbas-Anhänger nun noch einen Schritt weiter, der die Chancen der Palästinenser, jemals eine freie und demokratische Gesellschaft mit einem funktionierenden und lebendigen Parlament mit offener Debatte zu werden, weiter unterminieren wird. Der Revolutionsrat der Fatah, ein weiteres wichtiges Gremium, das von treuen Abbas-Anhängern dominiert wird, sprach die Empfehlung aus, der palästinensische Präsident solle den PLC auflösen und Vorbereitungen für allgemeine Wahlen im Westjordanland und dem Gazastreifen treffen. Diese Empfehlung von nicht gewählten Fatah-Vertretern gegenüber gewählten Angehörigen des palästinensischen Parlaments wurde sowohl in rechtlicher als auch in parlamentarischer Hinsicht als undemokratisch betrachtet, und als eine Massnahme, welche das Vertrauen der Palästinenser in Abbas und die palästinensische Führung untergräbt.

Abbas-Kritiker und Rechtsexperten verurteilten die Fatah-Empfehlung zur Auflösung des palästinensischen Parlaments. Sie argumentieren, dass der Schritt nicht auf Reformen und Demokratie abziele, sondern darauf, Abbas und der Fatah zu ermöglichen, sich des PLC zu entledigen.

Hasan Khraisheh, ein stellvertretender Sprecher des PLC, stellte fest, dass weder Abbas noch die Fatah autorisiert seien, das Parlament aufzulösen. „Der Palästinensische Legislativrat wurde vom palästinensischen Volk gewählt und kann nicht vom Revolutionsrat der Fatah aufgelöst werden, welcher nicht vom Volk gewählt wurde“, so sein Argument. „Die Auflösung des Parlaments bedeutet die Auflösung der Palästinensischen Autonomiebehörde und dies ist gleichbedeutend mit der ‚Auflösung‘ von Präsident Abbas selbst.“

Der jüngste Schritt zur Auflösung des PLC ist ein weiterer Versuch Abbas‘, seine Kritiker zum Schweigen zu bringen und eine offene Debatte über seine Politik unter den Palästinensern zu verhindern. Ohne ein Parlament gibt es beispielsweise keine Debatte über Abbas‘ Politik gegenüber seinen Hamas-Rivalen oder seinen Beziehungen zu den USA und Israel. Seine Berater behaupten, die Entscheidung zur Auflösung des PLC diene der Vorbereitung der längst ausstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Dabei macht es der fortdauernde Machtkampf zwischen Abbas und der Hamas unmöglich, freie und gerechte Wahlen abzuhalten. Die rivalisierenden Parteien misstrauen einander, somit fällt es unter den gegenwärtigen Umständen, da sie sich gegenseitig an den Hals gehen, schwer, sich vorzustellen, dass sie jemals übereinkämen, solche Wahlen abzuhalten.

Aufgrund der internen Machtkämpfe zwischen Hamas und Fatah sowie der wiederholten Versuche Abbas‘, die palästinensischen Gesetzgeber zu umgehen und zu unterminieren, starb das palästinensische Parlament in den vergangenen elf Jahren einen langsamen Tod. Mit der Fatah-Empfehlung zu seiner vollständigen Auflösung wurde jetzt der letzte Nagel in den Sarg des Parlaments getrieben. Dadurch, dass sie den PLC an den Rand gedrängt haben, haben Abbas und seine getreuen Anhänger auch den letzten Traum der Palästinenser, eines Tages ein funktionierendes Parlament zu besitzen, zerstört.

Wie es das Schicksal wollte, erfolgte der Vorschlag der Fatah zur Auflösung des PLC nur wenige Stunden vor der Parlamentseröffnung der Wintersession der Knesset in Jerusalem.

Den Palästinensern bleibt somit nichts anderes übrig, als Israel zu beneiden, welches über ein lebendiges Parlament verfügt, in dem Gesetzesmacher – darunter auch arabische Parlamentsmitglieder – die Freiheit geniessen, die israelischen Regierungsführer und Politiker zu kritisieren und anzuprangern, ohne Angst vor Einschüchterung und Vergeltungsmassnahmen haben zu müssen. Vorerst werden die Palästinenser mit einer Diktatur und autokratischen Führern weiterleben müssen, die alles in ihrer Macht stehende tun, um ihrem Volk Demokratie, Transparenz und Rechenschaftspflicht auch weiterhin vorzuenthalten.

Khaled Abu Toameh ist ein preisgekrönter arabisch-israelischer Journalist und TV-Produzent. Auf Englisch zuerst erschienen bei Gatestone Institute. Übersetzung Audiatur-Online.