Status Quo auf dem Tempelberg

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Eine Luftaufnahme des Tempelbergs in Jerusalem und ein Blick auf die Altstadt. Foto Andrew Shiva / Wikipedia, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons.
Eine Luftaufnahme des Tempelbergs in Jerusalem und ein Blick auf die Altstadt. Foto Andrew Shiva / Wikipedia, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons.
Lesezeit: 7 Minuten

Der Tempelberg spielt in den jüngsten Unruhen in Jerusalem eine zentrale Rolle, die mit seinem Status im religiös-politischen Diskurs in der Region zusammenhängt. Seit dem Sechs-Tage Krieg und der Wiedervereinigung Jerusalems 1967 ist der Tempelberg für Muslime zu mehr als nur einem Ort des Gebets geworden; er wurde zu einem pan-islamischen, religiös-nationalem Symbol. Und er ist Stätte des nationalen und religiösen Konflikts zwischen der jüdischen Welt und dem Staat Israel auf der einen, und der muslimischen Welt, den arabischen Staaten und den Palästinensern auf der anderen Seite.

Status Quo von 1967

Die Realität auf dem Tempelberg, 47 Jahre nachdem der Status Quo von Moshe Dayan begründet wurde, hat sich dramatisch verändert. Die wichtigsten Elemente dieses Status Quo spielen nicht mehr länger eine Rolle. In vielerlei Hinsicht ist der Status Quo von 1967 „gestorben“, auch wenn der politische und diplomatische Diskurs sich weiterhin irrtümlicherweise auf ihn berufen.

Der alte Status Quo wurde durch die Wirklichkeit ersetzt, die massgeblich durch die Zunahme von muslimischer Kontrolle und Status des Tempelbergs geprägt ist, im Gegensatz zum anfänglichen Übereinkommen nach dem Sechs-Tage-Krieg. Und umgekehrt schmälert sie den Status der Juden und des Staates Israel auf dem Tempelberg.

Moshe Dayan war der Meinung, dass die von ihm neu gestaltete Ordnung auf dem Tempelberg der beste Weg sei, um eine Ausweitung des national-territorialen Konflikts zu einem religiösen zu verhindern.

Die Grundelement des Status Quo nach Moshe Dayan waren:

  1. Der Waqf als Zweig des jordanischen Ministeriums für Heilige Stätten leitet das Areal weiterhin und ist verantwortlich für Abkommen und religiöse und zivile Angelegenheiten.
  2. Juden dürfen auf dem Tempelberg nicht beten, ihn aber besuchen.
  3. Israel trägt mit seiner Polizei die Verantwortung für die Sicherheit auf dem heiligen Gelände, sowohl innerhalb der Stätte als auch hinsichtlich der Mauer und der Zugangstore.
  4. Auf dem Tempelberg gelten israelische Souveränität und Gesetz, so wie in anderen Teilen Jerusalems, die nach dem Sechs-Tage-Krieg unter israelisches Gesetz fielen.
  5. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden die unterschiedlichen Zugangstore zum Tempelberg festgelegt: Juden dürfen nur das Mughrabi-Tor nahe der Klagemauer nutzen; Muslime können durch die vielen anderen Tore zum Tempelberg; und für Touristen waren drei Tore vorgesehen: Mughrabi-Tor, Kettentor und Tor des Baumwollhändlers.
  6. Im Lauf der Jahre wurde das Hissen von Fahnen jeglicher Art verboten

Jordaniens Schlüsselrolle auf dem Tempelberg

Der Einfluss Jordaniens auf dem Tempelberg hat zugenommen. War der Einfluss anfänglich auf die interne Leitung des Tempelbergs (Waqf) und die Zahlung der Gehälter der Waqf-Mitarbeiter begrenzt, so hat sich der jordanische Einfluss bis auf die äusseren Mauern des Areals und in bestimmten Fällen sogar ausserhalb davon ausgeweitet. Jordaniens Sonderstatus auf dem Tempelberg wird auch von den Palästinensern akzeptiert. Jordanien vertritt die Palästinenser und die Palästinensische Autonomiebehörde PA in Angelegenheiten, die sich auf den Erhalt muslimischer Stätten in Jerusalem beziehen, und stellt verschiedene Interessen der Muslime an diesen Orten einschliesslich des Tempelberges sicher, bis ein palästinensischer Staat mit Jerusalem als Hauptstadt gegründet ist.

Status Quo, jüdisches Gebet auf dem Tempelberg

Das auffälligste noch bestehende Element des alten Status Quo, ist das Verbot jüdischen Gebets auf dem Tempelberg. Der Staat Israel hegt keine Absicht, an dieser Regelung etwas verändern zu wollen. Einige Knesset-Abgeordnete gaben ihrer Unterstützung für die israelischen Tempelberg-Bewegung Ausdruck, die eine Änderung des Status Quo fordert, um jüdisches Gebet auf dem Tempelberg zuzulassen. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, Minister für Innere Sicherheit Yitzhak Aharonovich und Justizministerin Tzipi Livni haben wiederholt mitgeteilt, dass es keine Änderung des Status Quo geben wird. Netanyahu hat diese Botschaft dem jordanischen König Abdullah übermittelt, sowie der EU-Aussenministerin während ihres Besuchs in Israel.

Das Verbot jüdischen Gebets auf dem Tempelberg war das kontroverseste Element des Status Quo für die jüdische Öffentlichkeit. Moshe Dayan fühlte sich moralisch zum Versuch verpflichtet, eine Barriere zwischen Religion und Nationalismus zu errichten und zu verhindern, dass der Konflikt eine religiöse Färbung annimmt. Er war der Meinung, dass der Islam seine religiöse Souveränität – im Gegensatz zur nationalen – über den Tempelberg ausüben sollte. Dadurch, so glaubte er, würde es möglich, den arabisch-israelischen Konflikt auf eine national-territoriale Dimension zu beschränken, während das Konfliktpotenzial zwischen der jüdischen und muslimischen Religion eliminiert würde.

Dieses Zugeständnis war aus Sicht der jüdischen Öffentlichkeit nur wegen der Haltung der Rabbiner – sowohl ultra-orthodoxe als auch religiös-zionistische – möglich. Denn damals – anders als heute – hielt eine überwältigende Mehrheit der Rabbiner am halachischen Verbot fest, dass Juden den Tempelberg überhaupt nicht betreten dürften und somit war das Verbot irrelevant.

Die wichtigste Veränderunge im Status Quo und ihre Gründe

Gemäss ursprünglichen Status Quo war es Juden verboten, auf dem Tempelberg zu beten, sie durften ihn aber betreten. Heute werden Juden – auch ohne Gebet – oftmals am Zutritt gehindert oder wesentlich beeinträchtigt. Diese Veränderung ist auf die Aufhetzung, die Drohungen und Gewalt von Muslimen gegen Juden zurückzuführen, die versuchen, den Tempelberg zu betreten. Krux der Aufhetzung ist die „Al-Aqsa ist in Gefahr“-Verleumdung, die sich gegen den Staat Israel richtet und ihn der Absicht und Planung des Sturzes der Al-Aqsa Moschee beschuldigt. In der Vergangenheit war es Juden gestattet, den Tempelberg unter der Woche und am Shabbat zu betreten, sogar die Moscheen. Heute ist das nicht mehr möglich, ebenso ist der Zutritt für Juden mit religiösem Erscheinungsbild nur in Gruppen erlaubt. Ihre Besuche werden sorgfältig von Waqf-Wächtern und Polizisten beobachtet. Die Besuchszeiten auf dem Tempelberg wurden für Juden und Touristen auf Sonntag bis Donnerstag eingeschränkt und auch nur ein paar Stunden pro Tag: drei am Vormittag und eine Stunde am frühen Nachmittag.

Gründe für diese Veränderung

  1. Die Anzahl von Juden, die den Tempelberg besuchen, hat deutlich zugenommen.  Das hängt mit der sukzessiven, aber umfangreichen, anhaltenden Veränderung in der halachischen Regel zusammen. Heute gestattet die religiös-zionistische Strömung den Besuch des Tempelberges für Juden, was an verschiedene halachische Bedingungen geknüpft ist. Das hat Muslime alarmiert und zu einer Radikalisierung ihres Verhaltens geführt.
  2. Dem anhaltende Kampf der Tempelberg-Bewegung für das Recht der Juden auf Gebet auf dem Tempelberg tritt erbitterter Widerstand von Muslimen verschiedener Richtungen entgegen. Und dadurch sind sie nun gegen Besuche von Juden auf dem Tempelberg, auch wenn das vorher Praxis war.
  3. Drohungen seitens der Muslime, Juden zu verletzen, die auf den Tempelberg wollen, haben die Polizei oftmals dazu gebracht, den Tempelberg abzusperren, die Anzahl der Personen zu begrenzen oder ihre Besuche auf einen vorgeschriebenen Kurs und eine begrenzte Zeitdauer zu beschränken – nur um Agitation und Zusammenstösse innerhalb des Areals des Tempelberges zu verhindern.
  4. Im Lauf der Jahre hat sich das Areal für muslimisches Gebet auf dem Tempelberg erheblich ausgeweitet. Der Felsendom, der ursprünglich keine Moschee war, wurde faktisch zu einer Moschee, besonders freitags für muslimische Frauen.
  5. Seit Beginn des neuen Milleniums fingen Muslime an, zwei weitere Gebetsareale auf dem Gelände zu nutzen: die Ställe des Salomons im südöstlichen Teil des Tempelberges, wo die Al-Marwani Moschee erbaut wurde, und die antiken Al-Aqsa Areale unterhalb der bestehenden Moschee. Ebenso wurden beachtliche Teile des Geländes gepflastert und dienen für Massengebete, besonders an muslimischen Feiertagen und Gedenktagen.

De facto Veränderungen zum Schlechten

  1. Die beachtliche Ausweitung des muslimischen Gebetsareals auf dem Tempelberg ist Teil der angekündigten Absicht der Muslime und des Waqf, das ganze Areal zu einem Gebetsbezirk zu machen.
  2. Der interne muslimische Kampf bezüglich der Priorität auf dem Tempelberg zwischen den Akteuren wie Jordanien, der Muslimbruderschaft, der Hamas und dem Nördlichen Zweig der Islamischen Bewegung in Israel, nährte Ende der 1990er und in den frühen 2000er die intensiven Aktivitäten der Islamischen Bewegung auf dem Tempelberg. Der Führer der Islamischen Bewegung in Israel, Sheikh Raed Salah, nennt sich selbst „Sheikh Al-Aqsa“, hat seinen eigenen politischen wie religiösen Status auf dem Tempelberg immens  aufgerüstet.
  3. Angesichts der wichtigen Veränderung auf dem Tempelberg, scheint die israelische Regierung schwach und zurückhaltend. Sie fürchtet, dass ein resoluteres Vorgehen einen Flächenbrand auslösen könnte.
  4. Hat der Staat Israel und darauffolgend das Oberste Gericht noch nach dem Sechs-Tage-Krieg israelisches Gesetz für den Tempelberg festgelegt, so sieht die Situation heute anders aus: de jure hält der Staat Israel an diesem Grundsatz fest; de facto wird das Gesetz zur Planung, Bau und Antiquitäten seit Jahren nicht mehr für den Tempelberg angewandt oder nur teilweise oder inoffiziell.
  5. Das Verbot, Flaggen auf dem Tempelberg zu hissen, wird nur im Fall der israelischen Flagge durchgesetzt. Jedoch werden bei Demonstrationen und Versammlungen auf dem Tempelberg oft die Flaggen von Bewegungen gehisst – manchmal von Terrorbewegungen wie der Hamas. Auch dann übt sich die Polizei lieber in Zurückhaltung und vermeidet Zusammenstösse mit Demonstranten.

Schlussfolgerung

Der alte Status Quo auf dem Tempelberg existiert nicht mehr. Er hat sich grundlegend in wichtigen Bereichen geändert, die zu einem erheblichen Mass den Status der muslimischen Seite auf dem Tempelberg stärken und den des jüdischen Status erheblich schwächen. Gleichzeitig wird eines der wichtigsten Elemente des alten Status Quo, nämlich das Verbot jüdischen Gebet auf dem Tempelberg, eifrig aufrechterhalten.

Auszug aus der Originalversion: The „Status Quo“ on the Tempel Mount by Nadav Shragai © Jerusalem Center for Public Affairs, Institute for Contemporary Affairs Founded jointly with the Wechsler Family Foundation, No. 604   November-December 2014, November 13, 2014.