Wo die Islamisten Recht haben

0
Lesezeit: 6 Minuten

Wenn ein westlicher Politiker die Freiheit, Religion zu verspotten, verteidigt – eine zunehmend seltenere Spezies, besonders seit dem jüngsten Antiislamvideo auf YouTube –, kann man darauf zählen, dass der beleidigte Islamist seine Hände (es sind nie ihre) ringt und psalmodiert, dass eine schädliche, vielleicht islamophobe Doppelmoral am Werk sei. „Wenn jemand anzweifelt, dass der Holocaust stattgefunden hat, wird er eingesperrt“, klagte Mahmoud Ghozlan, ein Sprecher der ägyptischen Muslimbruderschaft, nachdem die französische Satirezeitung Charlie Hebdo im September Karikaturen von Mohammed veröffentlichte. Es gebe verschiedene rechtliche Normen für die Beleidigung des muslimischen Propheten, sagte er, und für das Anzweifeln der historischen Wahrheit des Holocaust. „Es ist weder fair noch logisch.“

Nachdem die dänische Zeitung Jyllands-Posten im Jahr 2005 ihre mittlerweile berüchtigten Karikaturen des Propheten Mohammed veröffentlicht hatte, reagierte die iranische Regierung mit einem Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb und einer „Internationalen Konferenz zur Überprüfung der globalen Sicht des Holocaust“, unter Teilnahme einer multi-ethnischen Auswahl von Verrückten und Rassisten, die leugneten, dass Nazi-Deutschland eine Politik des Völkermordes an den europäischen Juden verfolgt habe. Ein Sprecher des iranischen Regimes legte die Logik hinter dem Wettbewerb dar: „Sie erlauben, dass der Prophet beleidigt wird. Doch wenn wir über den Holocaust sprechen, halten sie ihn für so heilig, dass sie Menschen dafür bestrafen, ihn infrage zu stellen.“

Es gibt deutliche Unterschiede zwischen der Leugnung eines historischen Ereignisses wie des Holocaust und der Verspottung religiöser Propheten. Doch die Islamisten, die eine Doppelmoral in Hinsicht auf die Meinungsäusserung in Europa sehen, liegen richtig. In Deutschland und Russland zum Beispiel sind der Druck und der Verkauf von Mein Kampf verboten (obwohl Deutschland vor Kurzem die Veröffentlichen einer Version des Buches mit Kommentaren von Historikern in Betracht zog). Holocaustleugner können in Österreich, Belgien, der Tschechischen Republik, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Rumänien, Polen und Luxemburg belangt werden. Andere europäische Staaten, wie die Schweiz[1], verbieten die Leugnung nicht explizit, belangen aber Straftäter häufig wegen Verletzung anderer Gesetze, wie der Anstiftung zum Rassenhass. In all diesen Ländern gilt jedoch die Verspottung religiösen Glaubens – sei es Islam oder Christentum – als freie Meinungsäusserung. Und vielleicht noch wichtiger ist, dass diese Gesetze, die zwar gut gemeint sind, wenig Einfluss auf die Verteilung oder den Konsum von anstössigem Material hatten. Durch das Verbot schaffen diese Regierungen möglicherweise Interesse, wo es vorher keines gab.

Trotz fehlender Beweise dafür, dass solche Gesetze wirksam sind, fühlen einige, dass angesichts der Schrecken der jüngsten europäischen Geschichte die Einschränkung anstössiger Rede gerechtfertigt und notwendig ist. Seite an Seite mit dem Schriftsteller Salman Rushdie verteidigte der Holocaustüberlebende Elie Wiesel im Jahr 2010 die Prinzipien der freien Rede gegen diejenigen, die religiöse Ausnahmen forderten, mit einer bedeutenden Ausnahme: „Die Leugnung des Holocaust heute – was es mit den Kindern der Überlebenden macht – ich glaube, [es] sollte illegal sein.“ Es war keine besonders überzeugende Argumentation, und Rushdie brachte rasch seine Uneinigkeit zum Ausdruck. Doch Wiesels Fall ist nicht ungewöhnlich. Das Jewish Board of Deputies (der Abgeordnetenausschuss der britischen Juden) in Grossbritannien verurteilte im Jahr 1996 den britischen Innenminister Michael Howard scharf dafür, dass er die Gesetzgebung zur Leugnung nicht unterstützte, was nach Meinung des Ausschusses Grossbritannien in Europa „isolierte“.

Es ist ein unangenehmer Satz zu schreiben: Die Islamisten haben in dieser Sache Recht – mit einem entscheidenden Vorbehalt. Radikale Muslime wollen Gleichheit bei den rechtlichen Sanktionen in genau der falschen Richtung.

Die Holocaust-Leugnungs-Konferenz des Iran im Jahr 2006 und die Presse, die sie hervorrief, unterstreichen die Gefahr, die der Kriminalisierung verderblicher Meinungen innewohnt, eine Versuchung, der viele europäische Regierungen bereitwillig nachgegeben haben. Zum Einen schafft die Inhaftierung von Pseudohistorikern für das Bestreiten historischer Fakten Märtyrer: Weshalb kennen wir die Namen von David Irving, Robert Faurisson, Bischof Richard Williamson und Ernst Zundel und nicht von denjenigen, die den kambodschanischen Genozid leugneten, oder von denjenigen, die behaupten, dass das Massaker von Srebrenica fingiert gewesen sei oder dass die Anschläge vom 11. September 2001 ein von Israel gesponserter Insiderjob gewesen seien? Es liegt teilweise daran, dass wir Opfer des Holocaust und ihre Verwandten, diejenigen, die Wiesel verständlicherweise vor psychischen Verletzungen schützen will, kennen. Und es liegt an jenen Nachkriegsdeutschen, die ‚nie wieder‘ sagten und darauf bestanden, dass ihr Land sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt.

Doch wir kennen ihre Namen auch, weil Irving, Faurisson und Zundel in Frankreich, Deutschland und Österreich vor Gericht gezerrt wurden, um sich einer Strafanzeige zu stellen. Anfang des Jahres bekränzte der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad Faurisson mit einer Auszeichnung für seine „Mut, Stärke und Kraft“ gegenüber dem jüdischen Feind. Dies ist das Ergebnis für das fehlende Vertrauen in normale Menschen, über die historische Wahrheit zu urteilen; Europa hat ungewollt die Lügner erhöht.

Gesetzliche Einschränkungen sind bei der Verhinderung der Verbreitung der Holocaustleugnung noch nie effektiv gewesen, aber die Technologie hat nun den nahezu uneingeschränkten Informationsfluss ermöglicht und macht für Qualität und Wahrheit keine Ausnahmen. Diejenigen, die an die Wirksamkeit der Gesetze zur Leugnung des Holocaust oder Deutschlands anachronistischen Verbots des Verkaufs von Mein Kampf glauben, müssen auch gegen den freien Fluss schlechter Meinungen im Internet kämpfen, wo man kostenlos eine Kopie von Hitlers einschläferndem Gefängnismanifest in mehreren Sprachen erhalten kann. Falls man weitschweifige, mit Fussnoten versehene und durch und durch erlogene „Untersuchungen“ über die fehlenden Gaskammern in Auschwitz finden will, sind diese immer nur ein paar Klicks entfernt, trotz der häufigen Aufforderungen der deutschen Regierung, solches Material aus den Google-Suchergebnissen zu entfernen.

Wenn das Ziel der Einschränkungen der Redefreiheit darin besteht, den Anstieg des Rechtsextremismus zu verhindern, sind solche rechtlichen Massnahmen weitgehend erfolglos gewesen. In Österreich zum Beispiel, wo David Irving für die Leugnung des Holocaust inhaftiert wurde, ist die populistische Freiheitliche Partei, deren derzeitiger Vorsitzender kürzlich aus seiner Facebook-Seite das Foto eines hakennasigen Juden, der Davidstern-Manschettenknöpfe trägt, postete, immens erfolgreich, wobei die jüngsten Meinungsumfragen eine Unterstützung von 21 Prozent zeigen. Man vergleiche dies mit den USA, wo giftige Polemiker, die behaupten, einen „Holohoax“ aufgedeckt zu haben, durch den Ersten Zusatzartikel (First Amendment) geschützt sind, Faschismus als politische Kraft jedoch nahezu nichtexistent ist und der Grad des Antisemitismus bedeutend niedriger ist als in den europäischen Ländern, die die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellen.

Wenn also die Gesetze zur Leugnung des Holocaust wirkungslos sind, wenn sie aus Spinnern Märtyrer machen, sollten sie dann existieren, wie es Elie Wiesel nahelegt, um die Empfindlichkeiten derjenigen zu schützen, die sich durch antisemitische Pseudogeschichte gekränkt fühlen? Dies ist ein Spiegelbild des Arguments von Experten, Politikern und religiösen Führern im Anschluss an das im vergangenen Monat auf YouTube veröffentlichte plumpe Antiislamvideo. Und es ist ein Argument, dem diejenigen, die sich um liberale Werte sorgen, widerstehen sollten.

Originalversion: What the Islamists Get Right by Michael Moynihan © Tablet Magazine, October 15, 2012.

[1] Artikel 261 des Schweizerischen Strafgesetzbuches legt fest, dass die Herabsetzung von Völkermord illegal ist. Für eine umfassende Erklärung des Gesetzes, besuchen Sie http://www.swissjews.ch/de/praevention/rassismusstrafnorm/index.php