Kunst als Zeugnis für das Grauen: Holocaust-Überlebender Fishel Rabinowicz wird 100

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Fishel Rabinowicz. Foto Screenshot Youtube
Fishel Rabinowicz. Foto Screenshot Youtube
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Sein Leben ist Zeugnis der unfassbaren Brutalität, mit der die Nazis Juden verfolgten. Fishel Rabinowicz überlebte mehrere Arbeitslager und KZ. Als Pensionär begann er, Bilder über das Erlebte anzufertigen. Am 9.September 2024 wird der Holocaust-Überlebende und Künstler 100 Jahre alt.

Fishel Rabinowicz ist der einzige Holocaust-Überlebende in der Schweiz, der zugleich bildender Künstler ist. Im Pensionsalter hat er begonnen, Zeugnis abzulegen. Auch in Schulen und in Vorträgen berichtete viele Male von den Grauen, die er als Jude unter dem Nationalsozialismus erleben musste. Heute lebt er in Locarno, seine Bilder werden weltweit ausgestellt.

Fishel Rabinowicz wurde 1924 im polnischen Sosnowiec nahe der deutschen Grenze geboren und wuchs als drittes von zehn Kindern in einer traditionell jüdischen Familie auf. Die Eltern führten einen Textilbetrieb. Am 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen, und schon vier Tage später wurde Sosnowiec von ihr besetzt. Rabinowicz war da vierzehn Jahre alt. Die zehn folgenden Jahre seiner Jugend seien ihm unwiederbringlich von den Nazis gestohlen worden, sagte Rabinowicz einmal in einer Dokumentation.

Die Nazis trieben die Juden in Ghettos, zerstörten Synagogen und Geschäfte. Am 26. Mai 1941 wurde Rabinowicz als erstes Mitglied der Familie deportiert. Die habe damals 35 Personen umfasst, doch nur vier von ihnen überlebten die Shoah. Seine Eltern und sieben Geschwister wurden im KZ ermordet. Fishel Rabinowicz und sein jüngerer Bruder überlebten, weil sie während der Pogrome in der Stadt verhaftet und in ein Arbeitslager verschleppt wurden.

Ein junger Mann von 21 Jahren – mit einem Gewicht von knapp 29 Kilogramm

In Kittlitztreben, einem Aussenlager von Gross-Rosen, erhielt Rabinowicz die Nummer 19037. „Ab diesem Moment war ich kein Mensch mehr, sondern nur noch eine Zahl“, sagte er in einem Interview. Er musste Eisenbahnschienen verlegen, später wurde er für Kommandos eingeteilt, die eine Autobahn bauten. In diesen Gruppen war die Sterblichkeitsrate besonders hoch. Dass er überlebte, habe mit seinen guten Schuhen zu tun, die er noch von zu Hause hatte, sowie vielleicht auch mit seinen roten Haaren. “Die Deutschen nannten mich ‘Rotkopf’. Ich ging nie verloren.“

Am 9. Februar 1945 wurde das Lager Kittlitztreben aufgelöst, und die Deutschen wählten aus den 19.000 Häftlingen 1.200 aus und zwangen sie auf einen 325 Kilometer langen Todesmarsch zum KZ Buchenwald. Dazu gehörte auch Fishel Rabinowicz. Die vollkommen Entkräfteten mussten 55 Tage zu Fuss marschieren. Wer erschöpft zusammenbrach, wurde von der SS erschossen. Von den 1.200 Gefangenen kamen nur 746 in Buchenwald an.

In Buchenwald wurde Rabinowicz noch schwächer, eines Tages spürte er, dass es auch mit ihm zu Ende ging. Er legte sich mit letzter Kraft in einen Zwischenraum unter der Baracke, um zu sterben, wie er berichtet. Doch am selben Tag kamen die Amerikaner, die das KZ befreiten, am 11. April 1945. Das erste heruntergeschlungene Essen blieb nicht in seinem Magen, berichtet Rabinowicz. Die US-Ärzte versorgten ihn daraufhin mit Infusionen und kleineren Essensrationen. Er sei damals 21 Jahre alt gewesen, so der Künstler, wog aber nur noch 28,5 Kilo, so stand es in der Akte. Davon berichtet er in einer sehenswerten 2019 veröffentlichten Dokumentation der ARD mit dem Titel “Der einzelne Überlebende”.

Bis heute Einschlafprobleme

Insgesamt 1.410 Tage verbrachte Rabinowicz in neun verschiedenen Arbeits- und Konzentrationslagern. Danach war er vier Jahre lang in Krankenhäusern. Rabinowicz gelang eine Kariere als Graphiker und Dekorateur. Er heiratete 1955 die Zürcherin Henny Better, mit der er an den Lago Maggiore zog.

Erst nach seiner Pensionierung begann er, seine traumatische Lebensgeschichte durch seine Kunstwerke aufzuarbeiten. Zahlen sind ihm auch heute noch wichtig. Er verarbeitet mit ihnen und den dazugehörigen hebräischen Buchstaben in seiner Kunst das Erlebte. Wie bei jedem Holocaust-Überlebenden nagen die psychischen Leiden bis heute an ihm. Er könne nicht mehr weinen, sagt er, auch wenn er wolle. Und er brauche noch immer abends mehrere Stunden, bis er einschlafen könne. Meistens finde er erst um vier oder fünf Uhr morgens Ruhe.

Kabbala, Zahlen, Buchstaben und geometrische Formen

In seinen Bildern versucht Rabinowicz das Grauen des Holocaust anzudeuten – in verschlüsselter Form. Er wollte davon berichten, wie andere es in Büchern taten, doch ein Buch wollte er nicht schreiben. Aber zeichnen konnte er. Schon mit drei Jahren hatte er die hebräischen Buchstaben aus Gebetbüchern kopiert.

Und so zeigen viele seiner Bilder einfache geometrische Grundeinheiten, Dreiecke, Rechtecke und Quadrate und viele Buchstaben, die im Hebräischen auch Zahlen sind, jeder für sich mit einer bestimmten Bedeutung. Die Zahl 613 spielt eine zentrale Rolle in Rabinowicz’ Bildern, sie ist die Zahl der Gebote und Verbote in der Tora. Wenn er die Shoah thematisiert, steht Rabinowicz vor der gleichen Schwierigkeit wie jeder Künstler: Wie kann man das Unbegreifliche darstellen, ohne es zu vereinfachen? „Einfach zu zeigen, wie einer den Zweiten tötet, wie es in den Lagern zugegangen ist – das war mir zuwider”, sagte Rabinowicz in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vor drei Jahren. „Wenn die Leute Ihnen glauben sollen, müssen Sie die Zahlen liefern.“ Wer seine Bilder wirklich verstehen wolle, müsse die Gematrie verstehen, also die kabbalistische Übersetzung von Buchstaben in Zahlen.

Weil seine Frau keine Farbe riechen konnte, bediente sich Rabinowicz einer Technik, mit der er einmal ein Schaufenster gestaltet hatte. Er stellte sogenannte Papercuts her, dabei schnitt er Formen aus weissem Papier aus und legt sie auf schwarzes oder farbiges Papier. Häftlingsinsassen werden so zu Buchstaben, die Lager zu Rechtecken. Auf dem Bild „Biografie eines Überlebenden“ steht der hebräische Buchstaben Aleph allein am Bildrand, weiter weg sind viele andere Buchstaben. Es sind die negativen, umgekehrten, also spiegelverkehrten Bedeutungen der Buchstaben. Aus Wissen wird so Ignoranz, aus Stärke Sklaverei, aus Gnade Schande. Das Bild „Der 11. September“ zeigt viele kleine Quadrate – eins für jeden Tag des Jahres 2001; ausgelassen ist nur der 11. Tag des Septembers.

In 25 Jahren fertigte Rabinowicz etwa 50 Bilder an. Seine Werke erlangten Berühmtheit und werden weltweit ausgestellt. Im Jahr 2010 überreichte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu beim Besuch des Holocaust-Mahnmals in Berlin Bundeskanzlerin Angela Merkel Rabinowicz’ Werk „Der Holocaust“.

Rabinowicz selbst hielt viele Jahre an Schulen Vorträge über sein Leben. Bilder stellt er nicht mehr her, dazu fehle ihm die Kraft. Seine Frau Henny starb 2016, sein Sohn José zog wieder bei seinem Vater ein. Die Schweizer Gamaraal-Stiftung kümmert sich um Holocaust-Überlebende wie Rabinowicz, sie blieb etwa während der Corona-Pandemie mit ihm in Kontakt. “Vielen tut es gut, einfach jemanden zu haben, um zu reden”, sagte Gamaraal-Gründerin Anita Winter in einem Interview.

Als die Reporterin der NZZ den betagten Maler vor drei Jahren auf seinen bevorstehenden 100. Geburtstag ansprach, sagte Rabinowicz: „Dann mache ich einen neuen Vertrag mit dem Allmächtigen.“

potrait quadratisch Jörn Schumacher

Über Jörn Schumacher

Jörn Schumacher arbeitet als freier Journalist und lebt in der Nähe von Münster. Er hat Linguistik, Philosophie und Informationswissenschaft studiert und war viele Jahre Redakteur beim deutschen Webportal Israelnetz und beim Christlichen Medienmagazin pro.

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