Die Regierungen in vielen Hauptstädten der Welt haben wiederholt ihre Besorgnis über eine Eskalation des Gaza-Konflikts und des Zermürbungskriegs der Hisbollah gegen Israel zum Ausdruck gebracht. Sie befürchten mehr Gewalt, mehr Opfer und eine Ausweitung der Zahl der regionalen Kriegsteilnehmer. US-Präsident Joe Biden schickte Flugzeugträger in die Region, um zu signalisieren, dass er eine Eskalation verhindern will, und wiederholte mehrmals seine berühmte Warnung “Don’t” – mit begrenztem Erfolg.
von Efraim Inbar
Solche Befürchtungen, Warnungen und die vielen Aufrufe zur Zurückhaltung sind verständlich, insbesondere für das westliche Publikum, aber sie sind nicht sehr nützlich. Erstens drücken diese Äusserungen eine echte Abneigung gegen die Anwendung von Gewalt aus und werden von den meisten Menschen im Nahen Osten als Schwäche angesehen – eine Eigenschaft, die in diesen Regionen verachtet wird. Im Gegensatz zum Westen, der die Anwendung von Gewalt als unzivilisiert und anachronistisch ansieht, betrachten die Menschen im Nahen Osten sie als eine legitime Option im Instrumentarium internationaler Akteure.
Ausserdem ist sie populär. Die Hamas erlangte durch ihren Angriff auf Israel am 7. Oktober grosse Popularität unter den Palästinensern. Israelis begrüssen erfolgreiche gezielte Tötungen, die auch bei den arabischen Verbündeten gut ankommen.
In vielen Situationen ist es wahrscheinlich am besten, die Eskalationsleiter zu erklimmen, um der Gewalt ein Ende zu setzen. Die Angriffe und Gräueltaten der Hamas sind in der Tat ein direktes Ergebnis der von Israel seit Jahren betriebenen Abwiegelungsstrategie. Anstatt zu eskalieren und der Hamas einen hohen Preis abzuverlangen, um ihr strategisches Kalkül zu ändern, zog es Israel vor, viele Raketenangriffe zu absorbieren und verzichtete auf eine starke Gegenreaktion, die zu einer Eskalation führen könnte. Dies verschaffte der Hamas lediglich Zeit, ihre militärischen Fähigkeiten auszubauen und die Macht zu erlangen, einer israelischen Offensive zu widerstehen, die sich nun im zehnten Monat befindet.
In ähnlicher Weise ermöglichte Israels Zurückhaltung im Libanon der Hisbollah den Aufbau eines beachtlichen Raketenarsenals. Diese Organisation wuchs zu einem Monster heran, das seit dem 8. Oktober unbeirrt einen Zermürbungskrieg gegen Israel führt. Mit dem Segen Irans ist es ihr gelungen, den Norden Israels von seinen Bewohnern zu befreien und die IDF zu zwingen, grosse militärische Verbände südlich der libanesischen Grenze zu stationieren, die für einen schnelleren Sieg in Gaza benötigt werden.
Ein Zermürbungskrieg ist das beste Ergebnis für die bevölkerungszentrierte iranische Strategie und das schlimmstmögliche Szenario für Israel. Die fortwährende Existenz von über hunderttausend Raketen in den Händen von Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah, nachdem er den Rubikon eines langen Zermürbungskrieges überschritten hat, ist für Israel eine untragbare Situation. Nur eine Eskalation mit dem Ziel, das Raketenarsenal zu beseitigen, kann dem Zermürbungskrieg ein Ende setzen.
Im Falle des Libanon ist die von den Amerikanern und Franzosen angestrebte “diplomatische Lösung” eine Fata Morgana. Der Hisbollah ist nicht zu trauen, sich lange an eine Vereinbarung zu halten, die nicht ihren Zielen dient, und das UN-Kontingent im Südlibanon, das den Vorstoss der Hisbollah in Richtung der israelischen Grenze verhindern soll, hat seine Ohnmacht bewiesen.
Ein Krieg gegen die Hisbollah ist unvermeidlich; Israel muss vielleicht auf günstigere Umstände warten, aber sie werden kommen.
Die Bereitschaft zur Eskalation und zur Übernahme zusätzlicher Kosten signalisiert die Entschlossenheit, die notwendigen Ziele zu erreichen. Der Sieg im Krieg wird nicht nur durch die grössere Fähigkeit erreicht, dem Feind Kosten abzuverlangen, sondern nicht zuletzt durch die Fähigkeit, Schmerz und Leid zu ertragen.
Daher ist es für die Abschreckung hilfreich, wenn man als jemand wahrgenommen wird, der zur Eskalation neigt. Die Furcht vor Vergeltung hat auf der ganzen Welt eine abschreckende Wirkung auf viele Gemüter. Dies ist der Grund für das bedrohliche Verhalten des Tyrannen in einer schwierigen Nachbarschaft. Leider ist der Nahe Osten eine solche Nachbarschaft. Die Abschreckung muss auf Dauer durch gelegentliche Gewaltanwendung aufrechterhalten werden. Dies ist ihr einziges Schmiermittel – nicht Worte.
Risikovermeidung wird in vielen Kreisen und in internationalen Situationen oft gepriesen. Doch Zurückhaltung in der strategischen Arena ist problematisch. Sie könnte als fatale Schwäche ausgelegt werden und zu Aggressionen einladen. So sehen es die Tyrannen, insbesondere die im Nahen Osten.
Jede Situation erfordert natürlich eine eigene Kalkulation von Chancen und Risiken. Aber die pawlowschen Ratschläge zur Zurückhaltung und die Warnungen vor einer Eskalation deuten auf ein mangelndes Verständnis für die strategischen Überlegungen der Gewaltakteure im Nahen Osten hin. Worte wie guter Wille, Vertrauen und Streben nach Stabilität haben im Vokabular der Radikalen in der Region eine andere Bedeutung. Der Iran und seine Stellvertreter wollen die Region destabilisieren. Sie alle wollen, dass sich die Vereinigten Staaten aus dem Nahen Osten zurückziehen und dass die Regierungen der amerikanischen Verbündeten stürzen und durch radikale Islamisten ersetzt werden.
Sie können nicht dazu gebracht werden, von ihren Intrigen gegen den Westen und seine regionalen Verbündeten abzulassen. Die Diplomatie hat wenig Wert. Westler, die die Heiligkeit des Lebens verehren, sind sich nicht im Klaren darüber, dass islamistische Radikale bereit sind, viele Opfer zu bringen und viel Schmerz zu ertragen. Der Iran wird seit Jahrzehnten mit Wirtschaftssanktionen unterschiedlicher Intensität belegt, die kaum Auswirkungen auf seine Politik haben.
Letztlich ist die einzige wirksame Überzeugungsarbeit die Anwendung von Gewalt. Dies erfordert die Bereitschaft, den Kampf für die Freiheit und andere westliche Werte zu eskalieren. Die radikalen Islamisten müssen besiegt werden. Über den Zeitpunkt der Eskalation kann man debattieren, nicht aber über die Vorgehensweise.
Professor Efraim Inbar ist der Präsident des Jerusalem Institute for Strategy and Security (JISS). Übersetzung Audiatur-Online.