Albert Londres: Der ewige Jude am Ziel

Von Armut und Pogromen verfolgt. Teil 2/3

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Foto Prix Albert Londres
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Das Buch „Der ewige Jude am Ziel“ von Albert Londres taucht in das jüdische Leben der späten 1920er Jahre ein und beschreibt dessen verschiedene Gesichter in ihrer authentischsten Form. Im ersten Teil dieser Nacherzählung wird von dem Aufenthalt des Autors im jüdischen Viertel von London erzählt, und die jüdische Geschichte und Entstehung des Zionismus bündig dargestellt. Nun soll seine Reise in Osteuropa weitergehen, wo das Leben der Juden nicht so idyllisch aussieht, wie man es vielleicht vom herkömmlichen Schtetl-Märchen vermutete.

 

von Michelle Wolf

Das Tor zum Osten

Die Alt-Neu-Synagoge und der jüdische Friedhof in Prag sind die ältesten Zeichen von jüdischem Leben in Europa. Trotz der -36 Grad macht Albert Londres sich auf den Weg dahin. Der Friedhof ist eine wilde Landschaft aus Grabsteinen mit hebräischen Inschriften. Pflanzen und Tierarten sind ebenfalls in die jüngeren Steine gemeisselt; sie stehen für die Nachnamen der Verstorbenen. Die österreichische Kaiserin Maria Theresia vergab den Juden zum ersten Mal volle Namen – allerdings nur solche, die nicht im christlichen Kalender vorkamen. So konnte man sich mit bescheidenem Geld einfache Pflanzen oder Tiernamen erkaufen, mit Kreuzern durfte man sich einen glühenden Tiernamen aussuchen, und mit Gold sogar Blumen. Der Journalist betritt schliesslich die gotische Synagoge, und spürt, dass dieses Gotteshaus der einzige Ort der Ruhe für diese durch die Geschichte verfolgten und beschämten Juden ist.

Ebenfalls in Städten wie Warschau existiert trotz des völkisch tief verankerten Antisemitismus eine blühende jüdische Kultur. Der Autor ist beeindruckt, als er eine Rabbinerschule besichtigt:

„Nichts von ausserhalb kann diese Schüler beeinflussen, absolut nichts! Sie sind nicht hier um zu essen, schlafen, berühren, hören, sehen, schmecken oder fühlen, sondern um zu lernen. Die Leidenschaft zu lernen ist einzigartig jüdisch.“

Auf Wiedersehen, Zivilisation

Anschliessend macht sich der neugierige Entdecker auf den Weg zu seiner gefährlichsten Reise durch die Karpaten, eine Gebirgskette, die sich von der heutigen tschechischen Republik bogenförmig bis nach Rumänien erstreckt. In einer ukrainischen Stadt erblickt er orthodoxe Juden zum ersten Mal in öffentlicher Umgebung. „Und ihr dachtet, ihr kennt jede Spezies an Menschen auf dieser Welt! Und diese hier lebt in Europa, nur 45 Stunden von Paris?“ Der Reporter beschreibt sie als schwarze Silhouetten gegen den Schnee, die „beängstigt (worüber?) umherschweifen, jeden Winkel beobachten und beharrlich Ausschau halten. Sie erinnerten [ihn] an Stadtbewohner zu Kriegszeiten, die geduckt rumlaufen, um feindlichen Fliegern über ihren Köpfen auszuweichen. Es scheint, als würden sie durchgängig nach dem nächsten Schutzort suchen […] In den entlegensten japanischen Dörfern wurde [Londres], den sie eindeutig als Nichtjuden identifizierten, nicht mit jenen misstrauischen Augen angestarrt.“

Der Journalist reist tiefer in die Berge, zusammen mit zwei einheimischen Begleitern namens Ben und Solomon. Hier wird die Realität der ländlich lebenden Juden ans Licht gebracht. Er ist von der unbeschreiblichen Armut erschüttert. Die Dörfer, an denen sie vorbeifahren, sind an Elend kaum zu überbieten. Keine Dächer auf den Häusern; der Boden ist aus Schlamm; vier, fünf oder sechs Kinder, die barfuss und nur mit leichten Hemden gekleidet zittern; Mütter ohne Fleisch auf den Rippen oder Milch in der Brust; und ein unerträglicher Geruch, der überall in der Luft liegt.

„Ein Besuch war tragischer als der andere. Eine Frau lag auf einem Bett, vier Kinder schlafen um sie herum. Der Jude, der uns das Haus betreten sah, hielt mich für einen Doktor aus dem Himmel. Ben übersetzte: ,Er will, dass du seine Frau vor dem Tod rettest.’“

Ein anderer Stall, bei minus 20 Grad:

„Die jüngeren Kinder waren nur in einfachen Hemden gekleidet. Die älteren versammelten sich, nicht um einen Herd, sondern um ein Buch. Die Wehklagen der Mutter lenkte sie nicht von ihren Studien ab. Um weniger von der Kälte zu zittern, schauerten sie von der Heiligkeit des Talmuds. Als ich mit den Fingern klopfte, hob sich der lockige Kopf eines der Jungen, während er weiterhin die heiligen Wörter über seine Lippen kommen liess. Meine Anwesenheit kümmerte ihn nicht, und er senkte sich wieder in seine Gebete. Ein alter Mann, der vor dem Fenster stand, sang die Lieder eines anderen Talmud. Die Kälte, der Hunger, das trübe Licht, die Invasion von drei Fremden – nichts stört einen Juden, der in Kontakt zu Gott steht. Die menschlichen Flehen der Mutter prallten mit den ausserirdischen Stimmen der Kinder und des alten Mannes zusammen.“

Sie nehmen auf ihrer Reise einen verlassenen Juden im Auto mit. Er hatte eine falsche Information erhalten, Almosen seien aus Amerika angekommen. Deshalb wandert er durch die Gegend. Er musste vor den Pogromen in seiner Heimat fliehen, und wurde auf dem Weg verprügelt und um seinen gesamten Besitz beraubt. Sie reisen weiter nach Lwow, eine eigentlich schöne Stadt, im Gegensatz zum jüdischen Ghetto dort:

„Synagogenstrasse Nr. 1: neun Familien mit fünf bis acht Kindern, weinen vor Kälte und Hunger und verrotten in den elendesten Misthaufen. Nr. 2:  Zehn Familien, dito. Nr. 3, Nr. 4, auf beiden Seiten, die ganze Strasse herunter – dito.“

Ben und Solomon klären ihren Schützling auf: „Weisst du, dass es von den Bergen hier bis nach Galizien, von Transsylvanien bis Bessarabien, von Bukowina bis zur Ukraine, von Warschau nach Vilna, mehr als 6 Millionen Juden gibt, die in diesen physischen und moralischen Zuständen leben?“ Die breite Masse hatte weder die Möglichkeit, noch die Ressourcen, um in eine Metropole zu ziehen. So treffen die drei Reisendenden auf einen umherwandernden armen Juden:

„Wohin gehst du?“ „Ich verlasse das Dorf“, antwortete er. „Warum?“ „Es gibt nichts mehr zu essen.“ „Welchen Beruf übst du aus?“ „Ich lehre Religion.“ „Geh in die Städte, nach Kaschau zum Beispiel. Dort wirst du Schüler finden.“ „Ich kann nicht, wegen meiner Kleidung. Wenn die Polizisten uns sehen, sagen sie nur: was macht ihr? Geht zurück, dahin, wo ihr herkommt.“ „Und wohin reist du dann?“ „Ich möchte um den Rat vom Rabbi von Bushtyna bitten.“

Die sogenannten Wunderrabbis, auf hebräisch Tzaddikim, rechtsschaffende Männer genannt, stellen das Oberhaupt ihrer Gemeinden. Sie übernehmen die Rolle des Arztes, des Anwalt und Ratgeber, des Heiratsvermittlers, und sie bestimmen über jeglichen Handel.

Londres sucht den wichtigsten lebendigen Tzaddik auf: den Nachfolger vom Baal Shem Tov, dem Begründer des Chassidismus. Das einzige, was Ba“SH preisgibt, ist, dass er nichts vom Zionismus hält, und dass Hebräisch für ihn die Sprache der Gebete ist, nicht der alltäglichen Konversation. Als Londres ihn auf sein in Elend lebendes Volk anspricht, erwidert der Wunderrabbi nur, man müsse sich auf Gott verlassen. Als er merkt, dass der Franzose nicht nachgibt, dreht er sich weg, und sagt: „Männer können dem Ewigen keine Lektion erteilen.“

Judenhass fliesst durch ihre Adern

In diesen osteuropäischen Ländern fühlen sich alle einer Straftat schuldig: jüdisch zu sein. In Lwow wird der Journalist von einem vorbeigehenden Mann angerempelt, welcher schimpft: ,Przecz z drogi psie przcklenty!’ Londres fragt seine Begleiter, was das sollte, doch diese bitten ihn nur, kein Aufsehen zu erregen, denn der Passant hielt ihn für einen Juden. „Was hat er gesagt?“ „Verpiss dich aus meinem Weg, du dreckiger Hund.“ In Rumänien wird jeder von Studenten verprügelt, der auch nur einen jüdischen Hauch im Gesicht hat. 

Der schlimmste  Ausdruck des Judenhasses in diesen Gebieten ist das, was Londres wie einen Geist beschreibt – keinen weissen, sondern einen roten.

„Er streift über Transsilvanien, Bessarabien, über die Ukraine umher. Ohne ihn würden wir nicht die beunruhigten, ängstliche Blicke in diesen Teilen Europas verstehen, die geduckte Haltung, warum sie auf der Strasse nur neben Wänden laufen und flüstern, wenn sie reden.“

Er spricht vom modernen Pogrom. Seit Ende des 19. Jahrhundert wurden 1500-1600 Blutbäder innerhalb der östlichen Regierungen angerichtet. Londres beschreibt ihre Verbreitung wie bei einem Waldbrand: der erste Baum, der in Flammen geht, zündet alle anderen an. So konnte sich das erste benannte Pogrom in Russland 1881 auf 28 Provinzen ausbreiten.

„Doch der brüllende Tod wütet nicht bei jedem rum. Er ist nur ein Judenfresser. Der Anblick eines Kaftans, Bart und Schläfenlocken elektrisiert ihn.“

 Mit der Zeit wurden die Pogrome immer blutiger, brutaler und sadistischer.

„Blut ist ein schlechtes Alkohol für Bestien. Nicht alle Bestien leben in Afrika oder dem Pazifik. Man muss auch nicht nackt sein, um eine Bestie zu sein. Unsere, die europäischen Bestien, sind ukrainische Soldaten, und sie tragen Stiefel, Uniformen und Medaillen.“

Mehr als 150’000 Juden wurden ermordet. Mehr als 300’000 Juden verletzt. Mehr als eine Millionen Juden geschlagen und geplündert. Und das nur in der Ukraine und Galizien, zwischen den Jahren 1918-1919.

Alle wollten fliehen, doch die USA und Kanada haben die Einreise verboten; die anderen Länder wollten Entgelt, das keiner besass; und in Palästina konnten nur die Jungen und Starken Fuss fassen.

Die Reise des Journalisten durch das dunkle Osteuropa ist beendet. Der nächste Halt gewährt etwas mehr Licht. Jetzt geht es in das Land, dass den Juden einst von Gott, und nun vom britischen Aussenminister Arthur J. Balfour versprochen wurde. Bei der Verabschiedung sagt Ben, sein Begleiter, zum Pionier:

„Wenn du nach Palästina gehst, beobachte alles genauestens und lass mich wissen, ob das Unternehmen die Mühe wert ist.“

„Du bist ein Mann von wenig Vertrauen.“

„Ich bin ein Jude, der nach seiner Bestimmung sucht.“

Was wird Albert Londres im heiligen Land finden? Das wird sich im nächsten und letzten Teil dieser Artikelreihe zeigen.

Michelle Wolf entstammt einer Wiener Familie, ist in München aufgewachsen und lebt nun in Israel. Sie studiert Government an der IDC in Herzliya mit Spezialisierung auf Counter-Terrorism und Conflict Resolution.