Israel: 10% leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen

0
Lesezeit: 7 Minuten

Israel ist regelmässig in den Nachrichten internationaler Medien präsent. Seitenweise Bücher, Artikel, Reportagen und Kommentare wurden bereits über den kleinen Nahoststaat verfasst. Aber wer sind die Israelis? Wie leben die Einwohner des Landes mit den konstanten Bedrohungen und dem Druck? Die Zahlen sind zuerst einmal erschreckend: Rund 10 Prozent der Israelis leiden an Posttraumatischen Belastungsstörungen, das sind dreimal soviel wie in den USA oder anderen westlichen Ländern. Was bedeuten diese Zahlen für die Nation? Wir haben mit einem der renommiertesten Psychotherapeuten des Landes und international anerkannten Spezialisten für Posttraumatische Belastungsstörungen gesprochen. Gemeinsam mit Professor Mooli Lahad tauchen wir in die Psyche des unvergleichlichen Landes ein…

 Das Interview führte Katharina Höftmann

Zwischenzeilen (ZZ): Israel wurde zu grossen Stücken von Holocaust-Überlebenden aufgebaut. Seit der Staatsgründung ist das Land im Krieg, das israelische Volk erlebte unzählige militärische Einsätze, Terroranschläge und ganze Städte stehen seit Jahren unter Raketenhagel – sind posttraumatische Belastungsstörungen mittlerweile Teil der israelischen Identität?

Prof. Lahad: Posttraumatische Belastungsstörungen sind sicherlich ein Teil des Leides, das wir in uns tragen. Aber so viel wir von diesem Leid auch erleben, genauso viel Widerstandskraft tragen wir in uns. Die Situation beeinflusst unsere Gesellschaft in vielen Aspekten, so sind Israelis zum Beispiel immer in einer Art “Überlebungsmodus” mit dem Situationen betrachtete werden. Ausserdem sind wir sicherlich überfürsorglich mit unseren Kindern, wir reagieren auf geringste Auslöser und sind auf der Hut und nicht zuletzt leicht erregbar. Gleichzeitig zeigen meine Studien, dass unsere Gesellschaft extrem stabil und belastbar ist. Das trifft natürlich nicht auf jedes einzelne Individuum zu, aber gilt für die breite Masse.

ZZ: Sie sprechen an, dass Menschen in Israel seit Generationen traumatisierenden Situationen ausgesetzt sind. Wie gehen Israelis damit um?

Prof. Lahad: 80 Prozent der Menschen, die solchen bedrohlichen Situationen ausgesetzt sind, reagieren auf diese in irgendeiner Art und Weise. Davon wiederum erholen sich 80 Prozent alleine und ohne Hilfe. Natürlich gehören die Menschen mit denen ich arbeite und deren Verhaltensweisen ich am Besten kenne, zu den restlichen 20 Prozent. Aber die Mehrheit der Israelis hat eine Fähigkeit sich zu erholen und zu einem normalen Leben zurückzukehren. Das liegt auch daran, dass es in Notzeiten in Israel eine hohe Mobilisierung von Unterstützungsmassnahmen gibt. In Krisensituationen gibt es eine Grosszügigkeit, die man ansonsten kaum in Israel findet.

Einerseits erinnern, andererseits weiterleben

ZZ: Nach dem Terrorangriff in Tel Aviv im November 2012 sind kurz nachdem der Bus explodierte, Gärtner der Stadtverwaltung gekommen und haben den Grünstreifen, auf den die Asche gefallen war, neu bepflanzt. Ist es die Philosophie des Landes, schnell weiterzumachen und nicht in einer Schockstarre zu verharren?

Prof. Lahad: Ja, auch wenn man sich die Ereignisse der letzten Monate im Süden Israel ansieht, konnte man beobachten, dass die Schäden, die durch Raketeneinschläge entstanden sind, schnell repariert wurden. Das sendet eine Nachricht nach innen. Es zeigt, dass das Leben in unserer Hand liegt und weiter gehen muss. Das steht eigentlich dem Charakter des jüdischen Volkes entgegen, denn wir Juden leben intensive mit den Erinnerungen und unserer Geschichte. Und es ist interessant, dass so ein erinnerungsorientiertes Volk alles tut, um so schnell wie möglich Normalität wiederherzustellen. Das ist eine einzigartige Kombination: Sich einerseits intensiv an diejenigen zu erinnern, die wir verloren haben und andererseits aber konsequent dem Leben zuzuwenden.

ZZ: Weitermachen als Therapie?

Prof. Lahad: Wir leben nun einmal unter sehr besonderen Bedingungen, mit Kriegen und der Tatsache, dass unsere Existenzberechtigung ständig in Frage gestellt wird – und das ist unsere Art damit umzugehen und uns selbst zu versichern, dass wir okay sind. Im Endeffekt hatten wir nie Zeit, in Ruhe unser Land aufzubauen. Und nach jedem Rückschlag mussten wir schnell einen Weg finden, uns wieder davon zu erholen. Das hat Menschen dabei geholfen, Wege zu finden, um sich schnell von Schlägen zu erholen. Wir müssen improvisieren und kreativ und flexibel sein.

ZZ: Was ist die Kehrseite dieser Verhaltensweise?

Prof. Lahad: Wir sind rau, rastlos, zynisch aggressiv und gleichzeitig extrem sensibel. Diese Kombination kann niemand von aussen verstehen. Und es ist schwierig für uns, diejenigen zu verstehen, die anders reagieren oder die unser Verhalten kritisch reflektieren.

In Israel sind die Belastungsstörungen nie POST-Traumatisch – es passiert immer etwas

ZZ: Eben weil Israelis in so einer speziellen Situation leben – was sind die besonderen Herausforderungen bei der Behandlung von PTBS im Vergleich zu anderen Ländern, in denen Sie gearbeitet haben?

Prof. Lahad: Die grösste Herausforderung ist eigentlich, dass die Bezeichnung POST-Traumatisch nicht richtig ist für Israel. Denn eigentlich sollte es ja so sein: Wenn ich jemanden behandle, liegt das Trauma bereits in der Vergangenheit. Aber in Israel kommen wir nie an den Punkt, an dem man sagen kann: Jetzt ist es POST-Traumatisch. Es passiert kontinuierlich etwas. Die Menschen haben kaum Zeit, sich zu erholen. Vor allem im Süden des Landes müssen wir daher besondere Methoden anwenden. Wir sagen den Menschen, dass es sein kann, dass die Symptome wieder auftauchen, aber dass es beim zweiten Mal wahrscheinlich einfacher wird, diese zu behandeln. Erschwerend dazu kommt, dass normalerweise der Therapeut überall auf der Welt nicht den gleichen Bedrohungen ausgesetzt ist, wie der Patient. Im Süden sitzen Patient und Therapeut zusammen in der Praxis und plötzlich gibt es einen Raketenalarm und sie müssen beide flüchten. Wo holt man da die Fähigkeit her, jemanden zu behandeln, wenn man selbst unter den gleichen Umständen leidet?

ZZ: Welche Antworten findet Ihr Zentrum auf diese Herausforderungen?

Prof. Lahad: Wir glauben, dass die Betreuung in einem grösseren Rahmen stattfinden muss und nicht nur der Patient als Individuum gesehen werden kann, wie das bei der Behandlung in Ländern wie der USA der Fall ist. Deswegen haben wir so genannte Resilienz-Zentren entwickelt, in denen wir nicht nur die Opfer sondern die ganze Familie behandeln. Das ist auch deswegen sinnvoll, weil wir zum Teil Symptome bei Kindern beobachten, deren Eltern bereits unter PTBS leiden.

ZZ: In Sderot im Süden Israels zeigen mehr als 44 Prozent der Kinder und Jugendlichen Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ist es schwieriger, Kinder zu behandeln?

Prof. Lahad: Sie sind die kompliziertesten Fälle, weil wir nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern behandeln müssen. Die Eltern fühlen sich, als hätten sie versagt. Sie konnten ihre Kinder nicht beschützen. Und anders als die Kinder sehen und begreifen sie das Ausmass der Bedrohung.

 Holocaust-Überlebende haben alles verloren – und trotzdem aktiv weitergelebt

 ZZ: Sie betreuen seit Jahren Holocaust-Überlebenden. Welche Erfahrungen haben Sie während dieser Arbeit gesammelt?

Prof. Lahad: Holocaust-Überlebende sind natürlich besonders schwere Fälle, denn sie müssen mit multiplen Verlusten umgehen: Sie haben Familienmitglieder verloren, Freunde, ihr Zuhause, oftmals ihre Sprache und trotzdem: der Grossteil von ihnen hat es geschafft, wie Phönix zurück zum Leben zu kommen. Das wurde jahrelang nicht genügend gewürdigt. Sie wurden als Opfer bezeichnet, als Zeugen, als Überlebende – aber niemand hat über ihre Fähigkeiten gesprochen, weiterzuleben.

ZZ: In Anbetracht der unmenschlichen Verbrechen des Holocausts, fällt es manchmal schwer zu glauben, dass Menschen damit fertig werden können. Wie geht so etwas?

Prof. Lahad: Durch meine Studien konnte ich sechs Aspekte identifizieren, die bei der Bewältigung eine Rolle spielen: Der Glauben an etwas (Belief), der Ausdruck von Gefühlen (Affect), der soziale Aspekt (Social), die Phantasie (Imagination), das Festhalten an dem Verstand (Cognition) und an Kognitiven sowie Körperlichkeiten (Physical). Ich bezeichne das als „Basic PH-Modell“.

ZZ: Wir haben viel über die Behandlung von PTBS gesprochen. Was kann getan werden, um Menschen besser auf traumatische Situationen vorzubereiten?

Prof. Lahad: Wir haben Resilienz-Programme in Schulen und Kindergärten. Wir beziehen die Gemeinden und Freiwillige in unsere Arbeit ein. Gerade bei Kindern versuchen wir, diese so gut wie möglich mit den Mitteln auszustatten, die ihnen im Falle einer Notsituation dabei helfen werden, mit dieser klar zu kommen. Wir liefern eine schnelle, zeitnahe Behandlung im Fall von traumatisierenden Erlebnissen. Aber das ist ein bisschen wie mit einer Grippe, genauso wenig wie man Viren, die bereits herumschwirren, stoppen kann, können wir heran fliegende Raketen aufhalten. Aber wir können den Menschen helfen, ein gutes Immunsystem zu entwickeln.

ZZ: Herzlichen Dank für das Gespräch!

Quelle: Monats-Report, Zehn Prozent der Israelis leiden an einer Posttraumatischen Belastungsstörung: „Wir sind ein Volk von Überlebenden – rastlos, rau, zynisch und äusserst sensibel.“ Das Interview führte Katharina Höftmann, © Israel Zwischenzeilen, Hg. Gesellschaft Israel-Schweiz, 3.12. – 09.12.2012

 

Professor Dr. Mooli Lahad
Prof. Lahad (geboren 1953) ist ein international anerkannter israelischer Psychologe und Traumata Spezialist. Er ist Gründer des „Community Stress Prevention Centers“ (CSPC), einem unabhängigen Forschungs- und Therapiezentrum, welches Methoden und Modelle zum Umgang mit Massenkatastrophen entwickelt hat. Lahad arbeitet als Berater für die israelische Behörde für nationale Sicherheit, die israelische Armee sowie UNICEF. Daneben war er als Mitglied des NATO-Komitees für die psychosoziale Vorbereitung auf Notsituationen tätig. Neben seiner Arbeit in Israel war er unter anderem in der Türkei (nach dem Erdbeben 1999), den USA (nach dem 11. September), in Sri Lanka (nach dem Tsunami 2004) und in Deutschland (nach Amoklauf 2009) im Einsatz.

Prof. Mooli Lahad ist Dramatherapeut und Bibliotherapeut – er ist neben der Entwicklung des BASIC-PH Modells vor allem für seine kreative Behandlungsansätze bekannt. So bezieht er künstlerische Aspekte in die Therapie mit ein, indem er Patienten ihre Lebensgeschichte in literarischer Form aufschreiben lässt oder auf die Bühne bringt. Lahad hat mehr als 30 Bücher und Fachartikel verfasst und wurde unter anderem mit dem Elena Bonner Preis der israelischen Gemeinschaft für Psychologie sowie dem israelischen Sapir Preis ausgezeichnet.