Hamas ermordete Yuval Roth`s Bruder. Jetzt hilft er kranken Palästinensern

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Yuval Roth (zweiter von rechts) mit Mohammed Darajmeh und dessen Tochter Amani. Foto Tomer Neuberg/FLASH90
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Die 70 Meilen von Pardes Hanna nach Gaza schienen noch im letzten Sommer unpassierbar. Aber Yuval Roth, 60, hatte keine Zeit für Angst oder Verzweiflung.

von Tal Miller

Seit der Gründung von Derech Hachlama (“Der Weg der Besserung”) im Jahr 2006, macht er sich jeden Morgen um 6 Uhr in der früh schon auf den Weg von seinem Haus in Pardes Hanna zu einem Grenzübergang, von wo er verletzte Palästinenser abholt. Dort stehen rund 12 der insgesamt 500 freiwilligen Helfer der Organisation mit privaten Fahrzeugen bereit, um pro Tag zwischen 30 und 50 Palästinenser nach Israel zu bringen, damit sie dort medizinisch versorgt werden können.

Derech Hachlama ist ein Aussenposten der Hoffnung – ein Paradebeispiel für den persönlichen Brückenbau, der sich der Polarisierung zwischen den Regierungen widersetzt. Das ist zumindest der Traum von Yuval Roth. Selbst während sich die Raketenangriffe zwischen Israel und der Hamas weiterhin zuspitzten, war er dennoch davon überzeugt, dass der einzige Weg der Konfliktlösung darin besteht, Initiativen zu gründen, die Palästinensern eine andere Seite Israels näher bringen. Ein Israel, in dem nicht jeder Bürger, dem man begegnet, eine Uniform trägt. Eine Stadt, in der Israelis und Palästinenser das gegenseitige Vertrauen wieder aufbauen, was die Grundlage für einen dauerhaften Frieden legen wird. In der Zwischenzeit hilft er, Leben zu retten.

Mary, ein 6-Jähriges Mädchen aus al-Yamun, einer Stadt im Nordwesten der West Bank, musste ins Sheba Medical Center, in der Nähe von Tel Aviv, gebracht werden, um eine Behandlung für Spina bifida, einer Erkrankung der Wirbelsäule, zu erhalten. Um 7 Uhr an einem Dienstagmorgen wartet Roth an der Barta’a (Reihan) Kreuzung, zwischen Israel und dem Palästinensischen Autonomiegebiet. Amjad, der Vater des Mädchens, schiebt seine Tochter im Rollstuhl und das lächelnde Mädchen wird mit einer speziellen orthopädischen Einrichtung in Roths weissen Citroen geladen. Drei Monate zuvor hatte sich Mary erfolgreich einer gefährlichen operativen Korrektur der Wirbelsäule unterzogen, aber sie konnte ihren Unterkörper noch immer nicht bewegen.

Nach einer Kehrtwende ist Roth in Richtung Tel Aviv unterwegs und verwickelt seine Passagiere in ein ausführliches Gespräch, in Hebräisch, über ihren Zustand (über Politik wird in der Regel nicht gesprochen). Um 09:30 Uhr ist sie schon in der Klinik. In drei Stunden wird Roth sie wieder abholen, und auch einen anderen Vater mit seiner Tochter aus Nablus, die ein anderer Freiwilliger zuvor hierher transportiert hatte.

“Als ein Freund mir von Yuval erzählte, konnte ich einfach nicht glauben, dass es solche Leute wirklich gibt”, sagt Amjad. “Früher habe ich 300 Schekel pro Tag für Taxis bezahlt und musste um 5 Uhr morgens das Haus verlassen, um es pünktlich zu einem Termin um 9:00 Uhr zu schaffen. Wir sind jetzt seit vier Jahren bei Yuval. Vor zwei Jahren lud ich ihn zu uns nach Hause ein und habe ein Foto von ihm gemacht, das nun bei uns an der Wand hängt. Jedem Gast, der zu uns kommt, erzähle ich über diesen erstaunlichen Juden, dessen Bruder ermordet wurde, und der sich dennoch für eine friedliche Mission entschied, anstatt auf Rache zu schwören. Heute kennt jeder in unserem Dorf seine Geschichte.”

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Im Oktober 1993 war Udi, der Bruder von Roth, auf dem Heimweg von seinem Reservedienst in Gaza, das damals noch unter israelischer Militärkontrolle war, zusammen mit seinem Kamerad entführt und von Hamas-Terroristen ermordet worden. “Ich war ein typischer Linker, der murrend zu Hause sass, aber nie etwas unternommen hat”, sagt Roth, “bis meine persönliche Tragödie mein Leben verändert hat. Ich habe einen Bruder verloren, nicht meinen Kopf, und wollte keine Rache. Ja, ich war wütend, aber meine Wut richtete sich nicht gegen die Terroristen, die meinen Bruder umgebracht haben, sondern auf unsere Führung, die seit Generationen nicht in der Lage ist, diesen Konflikt zu lösen. Der Mord geschah nach dem Oslo-Abkommen [nachdem Israel und Arafats PLO ein Abkommen der gegenseitigen Anerkennung unterzeichnet hatten] und ich war zu der Zeit in einem Zustand der Euphorie. Ich glaubte, dass der Frieden greifbar war, als es passierte. Mir wurde klar, dass ich nicht nur zu Hause sitzen konnte, während mir der erhoffte Frieden aus den Fingern glitt. Also beschloss ich, etwas zu unternehmen, trotz der Schmerzen und Schwierigkeiten, um etwas Positives zu bewirken. ”

Roth schloss sich The Parents Circle Families Forum an, einer friedlichen israelisch-palästinensischen Organisation von Familien, die ein Familienmitglied im Krieg verloren haben. Dort traf er Mohamed Kabah, einen Palästinenser aus dem Dorf in der Nähe von Jenin Yaabez, der auch einen Bruder verloren hatte. Kabah näherte sich Roth mit einer ungewöhnlichen Bitte: Er hatte einen kranken Bruder, der medizinische Versorgung in Haifa benötigte, jedoch nicht ins Krankenhaus kommen konnte. “Also fuhr ich ihn hin, und habe mir dabei gedacht, dass das genau so ist, als würde ich es für einen Nachbarn in Pardes Hanna tun. Dann schickte dieser Freund eine andere Familie aus seinem Dorf zu mir, die auch Hilfe brauchte, um nach Hadassa [dem Krankenhaus in Jerusalem] zu kommen.” Eine Empfehlung folgte der nächsten, und bald gab es so viele Transportwünsche, dass sie nicht mehr von einer Person alleine erfüllt werden konnten. “Also bat ich in meinem Freundeskreis um Hilfe.”

Kabah ist auch stolz, dass er bei der Gründung von Derech Hachlama mithelfen konnte. “Yuval und ich haben uns vor 15 Jahren das erste Mal getroffen”, sagte er am Telefon. “Wir hatten beide einen Bruder im Krieg verloren und teilten die Überzeugung, dass wir etwas tun mussten, um die Menschen einander näher zu bringen.” Und es war auch wichtig, die Mithilfe von Administratoren zu erhalten. “Wir trafen uns mit den Führern der [palästinensischen] Autonomiebehörde, und hielten sie auf dem Laufenden,” sagte Kabah. “Ich denke, unser Beitrag zum Frieden ist grösser als der vieler politischen Führer. Heute gibt es in den Autonomiegebieten keinen Palästinenser, der nicht dankbar dafür ist, was Yuval ins Leben gerufen hat. Diese Organisation hat uns zu Helden gemacht. Dennoch sagen viele, dass es zu schwer ist, eine friedliche Lösung zu finden. Aber das ist unsere Art zu sagen, dass die Schmerzen des Friedens besser sind, als die Schmerzen des Krieges.”

Doch die Realität auf dem Boden der Tatsachen kann frustrierend sein. Auf dem Weg nach Saba beschreibt Amjad, in Hebräisch, wie schwer es ist, über die Grenze zu kommen. “Selbst wenn wir alle Genehmigungen haben, kann es manchmal stundenlang dauern, bis wir passieren dürfen.” Es gibt einen guten Grund, warum die Israelis makhsom, das Wort für ‘Schranke’ für die Grenzüberquerung benutzen. Die Stimmung an der Grenze ist immer angespannt. Amjad erzählt, dass ein israelischer Soldat ihnen einmal die Durchfuhr verweigern wollte, nachdem “mein Sohn mit Marys orthopädischem Gerät gespielt hatte. Sie haben das Gerät durchleuchtet, denn sie haben vermutet, dass es in Wirklichkeit eine Bombe war.” Doch Amjad konnte ihn schnell vom Gegenteil überzeugen. “Trotz solcher Situationen versuchen wir, optimistisch zu bleiben.”

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Die Palästinenser haben zwar noch keinen eigenen Staat, aber die Bürokratie läuft auf Hochtouren. “Vor sechs Wochen war ich in Ramallah, da wir uns mit dem palästinensischen Gesundheitsministerium abgesprochen haben”, so Roth. Auf der israelischer Seite arbeitet er eng mit dem Coordinator of Government Activities in the Territories (COGAT) zusammen, einer Organisation der IDF (Israelische Armee), die die Genehmigungen für Palästinenser, die medizinische Versorgung in Israel benötigen, ausstellt. “Am freundlichsten werden wir natürlich von den Palästinensern aufgenommen”, sagte Roth. “Vor zweieinhalb Jahren hat der Gouverneur von Jenin [damals Kadura Musa] unsere 70 Freiwilligen in Jenin geehrt. Es war spannend zu sehen, wie 70 Israelis durch die Strassen von Jenin geschlendert sind, und den Markt und die Restaurants besucht haben.”

Näher zu Hause treffen sie auf nicht ganz so viel Unterstützung. Einige Israelis sagen ihm, dass Nächstenliebe zu Hause beginnt. Eine andere Kritik stammt von seiner Familie: er widme Derech Hachlama zu viel von seiner Zeit, vor allem, da er für diese Tätigkeit kein Gehalt bekommt. Professionell ist Roth ein Jongleur und Zimmermann, und er jongliert auch bei Derech Hachlama kräftig mit. “Sie brauchen mich wirklich rund um die Uhr, das Telefon klingelt ohne Ende. Das wirkt sich auch auf die Familie aus. Ich habe jemanden gefunden, um unsere Aktivitäten im Norden zu beaufsichtigen, aber sie hat schon nach kurzer Zeit wieder aufgegeben.”

Derech Hachlama wurde erst im Jahr 2009 offiziell registriert, nachdem Leonard Cohen, der in Israel ein Konzert gegeben hatte, über Roth und seine Bemühungen erfuhr, und ihm kurzerhand einen Scheck über $ 10.000 ausstellte. “Wir trafen uns mit seinem persönlichen Manager, der sagte, Leonard habe beschlossen, uns mit einer Spende zu unterstützen”, sagte Roth. “Seine Spende hat mich dazu motiviert, Derech Hachlama zu gründen und sie hat die Anzahl der Freiwilligen erheblich erhöht, da wir nun die Möglichkeit haben, ihnen die Ausgaben für Benzin zu erstatten.” Ein weiteres Wachstum konnte im Jahr 2011 vermerkt werden, nachdem CNN Roth als einen der 24 “Helden” des Jahres genannt hatte. “Es war schön und hat geholfen, die Werbetrommel zu rühren, aber ansonsten ist nicht viel passiert”, sagte er. “Am Ende ist das Gefühl, dass wir wirklich etwas erreicht haben doch wichtiger als jede Auszeichnung oder Werbung.”

Roth “jongliert” auch palästinensische und israelische Beamte. “Während der ‘Operation Protective Edge’ fuhr ich ein 7-jähriges Mädchen wieder aus dem Rambam Krankenhaus in Haifa nach Gaza zurück”, erinnert er sich. “Afnan hatte Krebs, und nach neun Monaten im Krankenhaus wollte sie einfach nur zurück nach Hause, der Krieg war ihr komplett egal.” Aber der Grenzübergang Erez am Gazastreifen war geschlossen, und die Beamten der COGAT wiesen ihn an, zu warten. Der Kibbuz Hatzerim in der Nähe von Beer Sheva, wo Roth aufgewachsen war, wurde somit zum surrealistischen Rastplatz. Während die Kampfflugzeuge auf ihrem Weg nach Gaza vom nahe gelegenen Hatzerim Militärflughafen der israelischen Luftwaffe abhoben, fuhr Afnan mit dem Fahrrad durch einen pastoralen Kibbuz. Als der Alarm ausgelöst wurde, erzählt Roth, “waren die Kinder schockiert, dass ein Mädchen aus dem Gazastreifen auch in der Zuflucht untergebracht war. Ein Mädchen fragte, ob sie auch Raketen starte, und ein anderes fragte sich, ob es jetzt nicht Winter in Gaza sei.”

Roth wünscht sich, dass Israelis die Palästinenser in einem besseren Licht sehen. “Die israelische Öffentlichkeit versteht gar nicht, wie innig die Palästinenser den Wunsch nach Frieden hegen. Die Rede ist hier nicht von einer kleinen Minderheit, sondern von einer überzeugten Mehrheit. Die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung will eine Zwei-Staaten-Lösung und unterstützt den gewaltlosen Weg des Abu Mazen. Es wird einige Zeit brauchen, bis die israelische Öffentlichkeit sich an diese Vorstellung gewöhnt hat, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass es passieren wird. Und obwohl ich nicht glaube, dass Netanjahu den Willen und den Mut für Frieden hat, glaube ich dennoch, dass einige Prozesse mehr Gewicht haben, als eine einzelne Person.”

Doch auch Missverständnisse sind auf der palästinensischen Seite weit verbreitet, erzählt Roth. “Das Bild, dass die Palästinenser von uns Israelis haben, ist sehr eindimensional. Sie hören ‘Israel’ und denken sofort an eine Kreuzung, einen Siedler und einen Soldat mit einem Gewehr. Aber wir bieten eine andere Perspektive und helfen dabei, das Bewusstsein zu verändern”, sagte er. “Ich weiss nicht, in welchem Umfang unsere Handlungen wirklich dazu beitragen, Frieden zu bringen, aber ich weiss, dass ich in diesem grossen Chaos den grössten kleinen Schritt, zu dem ich fähig bin, mache.”

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Tal Miller ist ein ehemaliger Redenschreiber für den Stabschef des IDF, und Journalist der Yediot Aharonot. Yoav Sivan ist ein in New York ansässiger Journalist. Originalversion: Hamas Murdered Yuval Roth’s Brother. Now He Helps Sick Palestinians. © Tablet Magazine