Völkermord und Völkermordvorwürfe

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Pro-Palästinensische Demonstration in Zürich am 28.10.2023. Foto IMAGO / dieBildmanufaktur
Pro-Palästinensische Demonstration in Zürich am 28.10.2023. Foto IMAGO / dieBildmanufaktur
Lesezeit: 10 Minuten

Völkermord ist kein Kampfbegriff, sondern ein juristisch präzise definierter Tatbestand. Wer ihn inflationär verwendet, verharmlost die eigentlichen Täter und verdreht die Realität. Nicht der israelische Gegenschlag in Gaza, sondern das Pogrom vom 7. Oktober erfüllt die Kriterien eines Genozids – auch wenn viele genau das nicht hören wollen.

von Emrah Erken

Der juristische Völkermordbegriff geht auf den polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin (1900-1959) zurück, der sich mit der Thematik bereits ab Beginn der 1920er Jahre befasste, ausgelöst durch den Mord an Talaat Pascha im Jahr 1921 durch den Armenier Soghomon Tehlirian, der beim Genozid an den Armeniern zahlreiche Familienmitglieder verloren hatte. Die historische Grundlage für den juristischen Völkermordbegriff war damit nicht etwa der Holocaust, der Genozid an den Juden während der Zeit des Nationalsozialismus, wie man annehmen könnte, sondern der Völkermord an den Armeniern, der durch das jungtürkische Regime im Jahr 1915 begangen worden war, wobei der vorgenannte Talaat Pascha eine erhebliche Mitverantwortung bei dessen Begehung hatte.

Der völkerrechtlich massgebliche Völkermordbegriff, der auch demjenigen in Artikel 264 des Schweizerischen Strafgesetzbuches entspricht, wird in Artikel II des Internationalen Übereinkommens über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes juristisch definiert. Dort heisst es:

«In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;

b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;

c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;

d) Verhängung von Massnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;

e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.»

Wie man also sieht, gibt es in der Legaldefinition mehrere Tatbestandsvarianten, um das Vorliegen eines Völkermordes zu bejahen. Sehr wesentlich ist allerdings, dass die verschiedenen Handlungen, die einen Völkermord darstellen könnten, in der Absicht begangen werden müssen, um eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Die Absicht, eine Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören, ist sogar die Grundvoraussetzung, damit das Vorliegen eines Völkermordes bejaht werden kann. Fehlt es an dieser Zerstörungsabsicht, liegt kein Völkermord vor. Mit anderen Worten reicht beispielsweise die oben aufgeführte «Tötung von Mitgliedern einer Gruppe» allein nicht aus, damit der Tatbestand des Völkermordes erfüllt ist, auch wenn sehr viele Menschen aus einer Bevölkerungsgruppe umkamen.

Ohne dass es bewiesen wird, dass beim vorgeworfenen Völkermord auch eine Vernichtungsabsicht vorlag, die darauf ausgerichtet war, dass eine bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zerstört würde, kann das Vorliegen eines Völkermordes nicht bejaht werden. Ein solcher Beweis ist in vielen Fällen schwierig zu erbringen, weil jene, die einen Genozid begehen, in aller Regel diese Vernichtungsabsicht nicht öffentlich kundtun und ihn auch nicht dokumentieren. Natürlich gibt es auch Fälle, in denen dieser Beweis eher leicht zu erbringen ist, weil das Gegenteil davon zutrifft.

Zahlen sind nicht entscheidend – die Absicht zählt

Wie man aus dem Konventionstext entnehmen kann, wird dort keine konkrete Zahl genannt, damit ein Völkermord bejaht werden kann. Das bedeutet: Selbst, wenn sehr viele Menschen aufgrund eines Konflikts umkommen, muss nicht unbedingt ein Völkermord vorliegen, wohingegen das Töten einer verhältnismässig kleinen Zahl von Menschen durchaus Völkermord sein kann, wenn die genannte Zerstörungsabsicht gegeben ist und mindestens eine Tatbestandsvariante in der Legaldefinition bejaht wird. Die letzte Tatbestandsvariante (Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe) zeigt zudem, dass ein Völkermord sogar dann vorliegen kann, wenn überhaupt niemand getötet wird. So wurde beispielsweise das Überführen von Kindern von Fahrenden (Sinti und Roma) in Schweizer Familien im Rahmen des Projekts «Kinder der Landstrasse», welches in der Schweiz bis anfangs der Siebziger Jahre lief, in einem erst neulich erstellten Rechtsgutachten als Völkermord eingestuft. Bei diesem Völkermord wurde niemand umgebracht. Man nahm den Fahrenden die Kinder weg, übergab diese an Schweizer Familien, und dies mit der rechtlich erforderlichen Zerstörungsabsicht, dass die Bevölkerungsgruppen Sinti und Roma verschwanden. Mit anderen Worten bedeutet Völkermord nicht automatisch «extrem viele Tote», auch wenn das im Zusammenhang mit dem Holocaust sicherlich zutrifft, weil eine extrem hohe Zahl in rechtlicher Hinsicht nicht definitionsbestimmend ist. In Srebrenica starben «nur» 8’000 Bosniaken und es war ein Genozid. Bei «Kinder der Landstrasse» starb – wie dargelegt – überhaupt niemand und dennoch war es Völkermord.

Die in rechtlicher Hinsicht erforderliche Zerstörungsabsicht war bei den Handlungen der israelischen Armee im Rahmen ihrer Offensive im Gaza-Streifen meines Erachtens nicht einmal erkennbar. Die Absicht der israelischen Armee war die Zerschlagung der Hamas, damit sie so etwas wie den 7. Oktober 2023 niemals wieder durchführen kann sowie die Befreiung der Geiseln und nicht die teilweise oder ganze Zerstörung der Bevölkerung von Gaza. Natürlich starben bei dieser Offensive auch unbeteiligte Menschen wie in jedem Krieg, vor allem auch deswegen, weil Zivilisten als menschliche Schutzschilder missbraucht wurden. Diese Militäroffensive war allerdings noch lange kein Völkermord, selbst wenn die von der Hamas angegebenen Opferzahlen stimmen würden, weil die Absicht Israels nie auf die Zerstörung der dort ansässigen Zivilbevölkerung ausgerichtet war und ist.

Ganz anders beim Pogrom vom 7. Oktober 2023

Die entsprechenden Tathandlungen erfolgten ganz klar mit der Absicht, zumindest einen Teil der israelischen Bevölkerung zu zerstören, weil die entsprechenden Tathandlungen geplant waren, nur diese Absicht verfolgten und ein militärisches Ziel nicht gegeben war. Man hatte es ausschliesslich auf die Zivilbevölkerung abgesehen, schlachtete wahllos feiernde Jugendliche und Kibbuz-Bewohner ab, nur weil sie Juden waren. Ganz zu schweigen von den massivsten Sexualverbrechen, die an diesem Tag begangen wurden, die als Waffe gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurden und den Geiselnahmen.

Die beiden Tatbestandsvarianten «Tötung von Mitgliedern der Gruppe» und «Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe» (Bst. a und b) sind daher meines Erachtens klar erfüllt und eine Zerstörungsabsicht bei der Begehung dieser Tathandlungen ist eindeutig zu bejahen. Gemäss Konventionstext muss die Zerstörungsabsicht ferner nicht auf die gesamte Gruppe ausgerichtet sein. Damit der Tatbestand des Völkermordes erfüllt ist, reicht es, wenn diese gegenüber einen Teil einer bestimmten Gruppe ausgerichtet war. Auch das ist beim Pogrom vom 7. Oktober 2023 klar erfüllt.

Zudem ist die Zerstörungsabsicht auch der Hamas-Charta zu entnehmen.

Art. 7 der Hamas Charta besagt:

«Auch wenn die Verbindungen weit voneinander entfernt waren und die Hindernisse, die von den Lakaien des Zionismus den Kämpfern in den Weg gelegt wurden, die Fortsetzung des Kampfes behinderten, strebt die islamische Widerstandsbewegung nach der Verwirklichung des Versprechens Allahs, egal wie lange es dauern sollte. Der Prophet, Allah segne ihn und schenke ihm Heil, hat gesagt:

„Der Tag des Gerichts wird erst kommen, wenn die Moslems gegen die Juden kämpfen (die Juden töten) und der Jude sich hinter Steinen und Bäumen verstecken wird. Dann wird der Jude sich hinter Steinen und Bäumen verstecken. Die Steine und Bäume werden sagen: O Moslems, o Abdulla, hinter mir ist ein Jude, kommt und tötet ihn. Nur der Gharkad-Baum (offensichtlich eine bestimmte Art von Baum) würde das nicht tun, weil er einer der Bäume der Juden ist.“ (Überliefert von al-Bukhari und Moslem).»

Natürlich kommt hinzu, dass die Zerstörungsabsicht auch von der Hamas überhaupt nicht bestritten wird, sondern seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder herausposaunt wird, beispielsweise wenn deren Funktionäre öffentlich bei Fernsehauftritten nichts anderes sagen, namentlich, dass sie das, was sie taten, immer wieder tun würden, auch in der Zukunft. Ich denke, ich muss nicht länger ausführen, dass in diesem Fall die ansonsten nicht immer einfach zu beweisende Zerstörungsabsicht sehr offensichtlich gegeben ist. Genau deshalb ist es meines Erachtens doch sehr bemerkenswert, dass vor allem in der Schweiz praktisch niemand das Offensichtliche – namentlich, dass der Pogrom vom 7. Oktober 2023 einen Völkermord darstellt – thematisiert, sondern sich vielmehr auf den Genozidvorwurf konzentriert, der angeblich von Israel gegenüber den Palästinensern begangen werde. In Deutschland zumindest gibt es auch andere Stimmen. BR24 schreibt:

«Diverse Völkerrechtler weisen darauf hin, dass Hamas-Terroristen bei ihren Massakern am 7. Oktober auf israelischem Boden gezielt Zivilistinnen und Zivilisten getötet haben. Die Hamas hatte bei ihrem Überfall demnach die Absicht, möglichst viele Jüdinnen und Juden zu töten. Das betont auch Markus Beham von der Uni Passau: „Es ist Teil der Hamas-Ideologie, den Staat Israel nicht anzuerkennen und dessen Vernichtung anzustreben. Insofern wäre es denkbar, dass ein Gericht einen oder mehrere Hamas-Terroristen eines Tages wegen Völkermords anklagt.»

Nach diesen Ausführungen erscheint dieses massive Täter-Opfer-Umkehr gewiss als grobes Unrecht, aber dieser ganze Vorgang enthält auch einige weitere geradezu perfide Hintergedanken, auf die ich nachfolgend eingehen möchte.

Für viele Feinde Israels ist der Holocaust der alleinige Grund, warum es den jüdischen Staat Israel überhaupt gibt. Die Vorstellung, derjenigen, die das denken, ist ziemlich banal, einfach, ahistorisch und damit auch klar falsch. Ich fasse das Narrativ kurz zusammen: «Europäische Juden, welche Opfer des Holocausts wurden, kamen mit Schiffen nach Palästina, wo die Palästinenser ihren eigenen Staat hatten. Sie stahlen ihnen ihr Land, gründeten im Jahr 1948 Israel und vertrieben im Rahmen der Naqba die Urbevölkerung aus Palästina. Die Welt hat das zugelassen, weil Juden Opfer des Holocausts wurden, vergassen dabei die Palästinenser und ermöglichten den Juden zu Unrecht einen eigenen Staat. Jetzt, nachdem die Palästinenser ebenfalls Genozidopfer wurden, sollten sie auch einen eigenen Staat erhalten, am besten dort, wo Israel liegt, damit das historische Unrecht wieder korrigiert wird.»

Narrative, Schuldumkehr und antisemitische Muster

Menschen, die mehr oder weniger so denken – und leider ist das eine erhebliche Zahl – haben keine Ahnung davon, dass die Migration ins historische Palästina in den 1880ern anfing, wobei anzumerken ist, dass in diesem Gebiet schon immer Juden gelebt haben, das heisst auch vor dieser Migration, die mit den Pogromen im Russischen Zarenreich im Zusammenhang stand, zu dieser Zeit begann. Sie wissen nichts über den käuflichen Erwerb des Landes durch die Juden. Sie haben keinen blassen Schimmer davon, dass Tel Aviv 1909 gegründet wurde, also lange bevor es die Nationalsozialisten und den Holocaust gab. Sie wissen auch nicht, dass in Tel Aviv die grösste Anzahl von Häusern zu bewundern ist, die dem Bauhaus-Stil entsprechen und zu Beginn der 1930er gebaut wurden. Für die einfachen Geister ist die Gleichung eine ganz andere: Einem Volk, welches Opfer von einem Völkermord wurde, wird das Recht eingeräumt, einen eigenen Staat zu haben. Genau dieser Anspruch soll nun den Palästinensern verliehen werden.

Ein weiteres oft anzutreffendes Narrativ ist, dass mit diesem Genozidvorwurf gegenüber Israel ein vermeintliches «Schutzschild» von Juden ganz generell geschwächt werden soll. Das funktioniert ungefähr so: «Die Juden wurden Opfer des Holocausts, also eines Völkermordes. Und schau nun, was deren Nachfahren den Palästinensern antun, denen sie das Land gestohlen haben! Diese begehen nun ebenfalls einen Völkermord!» Dieses Narrativ kann verkürzt auch als «Aus Opfern wurden Täter» definiert werden und es richtet sich gegen alle Juden.  

Solche Gedanken, die natürlich falsch und krass antisemitisch sind, werden insbesondere von unserem Mainstream-Medien – allen voran von den öffentlich-rechtlichen – nicht aktiv angegangen und kritisch thematisiert. Vielmehr machen viele bei dieser Hetze gegen Israel und Juden sogar mit oder feuern diese auch mit suggestiver und unkritischer Berichterstattung an, während praktisch niemand von ihnen der naheliegenden Frage nachgegangen ist, ob allenfalls der 7. Oktober 2023 einen Völkermord darstellen könnte. Auch wenn das Ausmass des Völkermordes vom 7. Oktober 2023 im Vergleich zum Holocaust als gering erscheint, ist ein Genozid ein Genozid. Natürlich gibt es schwerwiegendere Völkermorde. Doch die Schwere ist nicht massgeblich für die Legaldefinition. Nur wenn man die offenkundige Wahrheit, dass der Pogrom vom 7. Oktober 2023 ein Völkermord im juristischen Sinne war, auch artikuliert und ausspricht, können das falsche Narrativ und die Schmierkampagne gegen Israel und die Juden durchbrochen werden. Genau deshalb habe ich diesen Essay geschrieben.

Abschliessen möchte ich mit einer typischen Charaktereigenschaft eines echten Völkermordes. Ein Genozid traumatisiert typischerweise nicht nur die Opfer selbst, sondern auch ihre Mitmenschen und deren Nachwuchs, wobei diese Weitergabe des Schmerzes, der Traumatisierung und der Fassungslosigkeit grundsätzlich nie endet. Das dürfte den meisten Juden aufgrund des Holocausts bekannt sein. Noch deutlicher wird diese Tatsache auch dadurch, wenn man den Völkermord an den Armeniern heranzieht. Obwohl anders als beim Holocaust niemand mehr am Leben ist, der diesen Genozid erlebt hat und sich aktiv daran erinnern kann, leiden die nachgeborenen Armenier heute noch weiter, was auch bei den Juden nicht anders sein wird, wenn sämtliche heute noch lebende Holocaust-Opfer längst verstorben sind. Ich denke, dass diese Eigenschaft auch beim 7. Oktober 2023 gegeben ist. Die charakteristische indirekte und generationenübergreifende Traumatisierung wird es meines Erachtens auch in diesem Fall geben. Es gibt in Israel eine gesellschaftsübergreifende Traumatisierung und diese dürfte aus meiner Sicht auch weitergereicht werden an die kommenden Generationen. Sie ist sogar länderübergreifend, ist auch hier in der Schweiz spürbar und natürlich auch anderswo auf der ganzen Welt, wo Juden leben. Von dieser typischen Charaktereigenschaft eines Genozids war hingegen bei den Volksfesten mit Tausenden von schaulustigen Palästinenserinnen und Palästinensern mit gezückten Smartphones bei den demütigenden Geiselübergaben durch die Hamas nichts zu spüren.

Emrah Erken ist Rechtsanwalt und Publizist.

3 Kommentare

  1. Ich persönlich brauche zwar keine juristische Abhandlung um den Unterschied zwischen Terror bzw. Massenmord und deren Bekämpfung zu begreifen, aber brauche sie, um sie den rechtsverdrehenden Israelhassern um die Ohren schlagen zu können.

  2. Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum ich den Mainstream-Medien nicht (mehr) vertrauen kann. Wer festgelegte juristische Begriffe, wie Völkermord, dermaßen verdreht und missachtet, aus Tätern Opfer macht, um Judenhass latent zu fördern und zu unterstützen, denen kann ich nicht nur nicht vertrauen, NEIN!, ich verachte sie zutiefst!

  3. Einen Aufruf zum Völkermord an den Juden bzw. zu einem weiteren Holocaust begeht (nicht nur) meiner Meinung nach jemand, der den Spruch skandiert: „Vom Fluss bis zum Meer muss Palästina frei sein“. Also judenrein.

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