Wann immer Israel ankündigt, Siedlungen auszubauen, ist der Aufschrei gross – weit grösser als nach jedem palästinensischen Terroranschlag. Dabei ist das grösste Friedenshindernis nicht die Errichtung von Wohnungen für Juden im Westjordanland, sondern die fortgesetzte Weigerung der palästinensischen Seite, einen jüdischen Staat zu akzeptieren, und ihr genereller Unwille, mit Juden zusammenzuleben.
Unlängst gab die israelische Regierung bekannt, dass sie rund 375 Millionen Dollar in den Bau von Wohnungen investieren wird. Mit dem Geld soll in 15 Siedlungen zur Entstehung von rund 30.000 neuen Wohneinheiten auf privaten und öffentlichen Grundstücken beigetragen werden. Darüber hinaus sollen bereits bestehende Gebäude renoviert und ausgebaut sowie neue Sportplätze und Mehrzweckeinrichtungen bereitgestellt werden. Das liege «im nationalen Interesse», betonte der israelische Bauminister Yoav Galant. In den nächsten 20 Jahren werde es sogar Bedarf für 200.000 neue Wohnungen geben, auch das werde man angehen, sagte er. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu erklärte, bei den Menschen in den betreffenden Siedlungen handle es sich zwar um «Minderheitengemeinschaften», doch auch diese verdienten «immense Investitionen».
Dreissigtausend neue Wohnungen in Siedlungen also, perspektivisch sogar zweihunderttausend. Trotzdem war dies den internationalen Medien keine Nachricht und der Politik kein Statement wert. Kein Wunder: Es ging dabei nicht um jüdische Siedlungen in Ostjerusalem oder dem Westjordanland, sondern um arabische in Israel. Deren staatlich unterstützten Ausbau hält man – und das ja auch aus guten Gründen – für selbstverständlich. Umgekehrt bricht jedoch sofort Protest los, wenn der jüdische Staat ankündigt, Wohnungen für Juden in Gegenden zu bauen, die offenbar nach Ansicht der «internationalen Gemeinschaft» rein palästinensisch und muslimisch zu sein haben.
So gab beispielsweise das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor einigen Tagen in einer Erklärung bekannt, es bedaure «den Entscheid der israelischen Regierung, den Bau von Wohneinheiten in der Nähe von Shilo im Besetzten Palästinensischen Gebiet zu genehmigen» und sei «besorgt angesichts dieses Entscheides, wie auch über die Siedlungsentwicklung im Allgemeinen», die in diesem Jahr «stark an Intensität gewonnen» habe. Beim EDA ist man der Ansicht, «dass die israelischen Siedlungen gegen das humanitäre Völkerrecht verstossen und zudem ein grosses Hindernis für den Frieden und für die Umsetzung einer Zweistaatenlösung darstellen». Man rufe deshalb «die israelische Regierung dazu auf, sämtliche Siedlungsaktivitäten einzustellen und zu einem gerechten und dauerhaften Frieden auf Basis einer verhandelten Zweistaatenlösung beizutragen».
Das israelische Dilemma
Dass der Siedlungsbau ein grosses, wenn nicht sogar das grösste Friedenshindernis schlechthin im Nahen Osten darstellt, ist längst zu einer Art Mantra geworden, zu einer Selbstverständlichkeit, die keinerlei Begründung zu bedürfen scheint. Folgt man ihr, dann müsste Israel nur seine Exklaven, Aussenposten und Grenzorte abbauen und könnte fortan in trauter Harmonie mit seinen Nachbarn leben. Dass das nicht stimmt, hat sich spätestens 2005 gezeigt, als der damalige israelische Premierminister Ariel Sharon die israelischen Siedlungen im Gazastreifen auflösen liess und die Hamas daraufhin mit einem Raketenbeschuss begann, der bis heute nie dauerhaft zum Erliegen kam. Israel verschärfte schliesslich notgedrungen die Grenzkontrollen – und zog sich dafür den Vorwurf zu, das «grösste Freiluftgefängnis der Welt» errichtet zu haben.
Dass sich die Palästinenser mit einem Abzug der Siedler nicht zufrieden geben würden, war aber schon früher deutlich geworden. Im Jahr 2000 beispielsweise bot der israelische Premierminister Ehud Barak während der Verhandlungen von Camp David unter anderem an, zahlreiche Siedlungen zu räumen; zudem wollte er die nahe der «Grünen Linie» liegenden Siedlungsblöcke – in denen die grosse Mehrheit der Siedler lebt – ins israelische Staatsgebiet eingliedern und diese Massnahme durch einen territorialen Austausch mit den Palästinensern abgelten. Die palästinensische Seite unter Yassir Arafat lehnte diesen so grosszügigen wie praktikablen Vorschlag jedoch ab und blies stattdessen zur zweiten «Intifada» mit ihren zahllosen Selbstmordattentaten. Arafats Nachfolger Mahmud Abbas wies im Jahr 2008 ein noch weiter gehendes Angebot des israelischen Premierministers Ehud Olmert ebenfalls zurück.
Israel ist also einem Dilemma ausgesetzt: Hält es die Siedlungen aufrecht, zieht es sich den Zorn der restlichen Welt zu. Baut es Siedlungen ab – oder bietet es diesen Schritt auch nur an –, sieht die palästinensische Seite darin ein Zeichen von Schwäche und eine Gelegenheit zur «Befreiung ganz Palästinas» – von den Juden nämlich. Dieser prinzipielle Unwille, den jüdischen Staat anzuerkennen, ist der Kern des arabisch-israelischen Konflikts – und eben nicht die Siedlungsfrage. Selbst wenn der jüdische Staat nur das Stadtgebiet von Tel Aviv umfassen würde, wäre er seinen Feinden noch zu gross. Denn deren Ziel ist nicht eine Zweistaaten-, sondern nach wie vor eine Kein-Staat-Israel-Lösung.
Zweierlei Mass
Der israelische Historiker Yaacov Lozowick brachte dieses Problem in seinem Buch «Israels Existenzkampf» auf den Punkt: Seit 1967 übe Israel die Herrschaft über einen grossen Teil der palästinensischen Bevölkerung aus, und sein Verhalten sei in vielerlei Hinsicht kritikwürdig, schrieb er. Und weiter: «Dennoch könnte nur ein Narr behaupten, dass sich die Palästinenser in der umgekehrten Situation mit den Massnahmen, wie sie die Israelis getroffen haben, zufrieden geben würden.» Wenn die Palästinenser jemals die Herrschaft über die Juden erlangten, werde Palästina, so Lozowick, «ebenso judenrein werden, wie es der grösste Teil Europas heute ist: eine kleine Gemeinde hier und dort und Gespenster überall». Israel habe früher lediglich die nationalen Ambitionen der Palästinenser blockiert, die palästinensische Seite hingegen bedrohe die nackte Existenz der Juden.
Damit wies Lozowick in aller Deutlichkeit auf die Konsequenz hin, die sich aus der geradezu rituell wiederholten Forderung nach einem Stopp und Abbau der israelischen Siedlungen im Westjordanland ergibt. Denn jenseits der Grenzen Israels verschwendet kaum jemand einen Gedanken daran, was die Gründung eines palästinensischen Staates für die auf seinem Territorium lebenden Juden bedeuten würde. Von Israel wird selbstverständlich verlangt, ein multinationaler Staat zu sein, in dem Araber als gleichberechtigte Bürger ihren Platz haben. Fast niemand hingegen erhebt die nicht minder selbstverständliche Forderung, dass in einem zukünftigen Palästina auch Juden leben können müssen, wenn sie es wollen, und zwar nicht bloss als geduldete «Dhimmis», also als Schutzbefohlene unter islamischer Herrschaft.
Es ist immer wieder grotesk, mit welchem Eifer der israelische Wohnungsbau im Westjordanland als «Friedenshindernis» angeprangert wird – wie zuletzt einmal mehr durch das EDA, aber immer wieder auch vonseiten der Europäischen Union –, während die fortgesetzte Weigerung der palästinensischen Seite, einen jüdischen Staat im Nahen Osten zu akzeptieren, so wenig ein Thema ist wie der Terror, mit dem diese Weigerung regelmässig auf blutige Weise bekräftigt wird. Bemerkenswert ist überdies, wie gering beispielsweise die Empörung darüber ist, dass die palästinensischen Behörden grosszügige Rentenzahlungen an inhaftierte Terroristen und an die Hinterbliebenen von Attentätern leisten, die bei einem Anschlag auf Israelis ums Leben gekommen sind. Dabei werden diese Zahlungen auch mit europäischen Geldern vorgenommen, wie etwa der Berliner «Tagesspiegel» unlängst recherchierte. Doch anders als der israelische Siedlungsbau taugt das nicht zum öffentlichen Skandal. Und das ist bezeichnend.
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Yaacov Lozowicks Schlussfolgerungen bleiben unverändert aktuell. Es gibt nicht den geringsten Zweifel, was die Palästinenser-Verbindungen im Falle einer Staatsgründung mit den dann auf ihrem Gebiet lebenden Juden machen. Vertreibung wäre die wahrscheinlichste Lösung und zugleich das Mindeste, was zu erwarten ist. Aber das interessiert die europäischen Verehrer der Reinen Destruktivität nicht.
Es ist auf grausige Art faszinierend, mit welcher Inbrunst sich gesittete, sich moralisch legitimiert fühlende Mitmenschen offen an der Ausgrenzung des jüdischen Staates, seiner Repräsentanten und seiner Menschen aktiv betätigen. Medial geschieht dies meist eher unterschwellig.*
Ohne unzulässige Vergleiche anzustellen, bekommt man doch eine Teilahnung davon, wie es im Dritten Reich funktioniert hat. Die Erfahrung der Ausgrenzung in allen Lebensbereichen, „die Treulosigkeit der Freunde“ (H.Arendt), der soziale Tod in ihrem erweiterten Umfeld, war für die damals lebenden Juden die erste Station auf dem Weg zu ihrer geplanten Vernichtung.
Sicher, zu einer neuen Vernichtung wird es nicht mehr kommen. Aber zu einem massiven Wegzug der Juden aus Europa, wie er in Frankreich schon zu beobachten ist.
Institutionen der EU, Linke, Rechte, breite Teile der gesellschaftlichen Mitte und der Kirchen, sehr viele sogenannte Kulturschaffende sowie Medien wie Spiegel, SZ und Verlagshäuser wie DuMont, bereiten, unter dem Deckmantel einer angeblichen „Israelkritik“, den Boden, schaffen und multiplizieren ein Klima, auf dem eine Neuauflage der sozialen Ausgrenzung gedeihen kann. Gleichzeitig liefern sie durch ihre systematische Negativ-Berichterstattung gegen Israel die notwendige moralische „Legitimation“ mit. Das alles ist keineswegs als eine Verschwörung zu sehen, sondern als fast schon banaler gesellschaftlicher Konsens zu sehen, der nicht infrage gestellt wird.
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* Ein Beispiel: Am 7.10.2016 erschien im Kölner Stadt-Anzeiger (DuMont-Verlag) ein Artikel „Frauen für Gaza“, garniert mit einem vierspaltigen Bild nebst achtzehn Zeilen Text. Bedauert wurde das erneute Abfangen eines Schiffes „internationaler Aktivisten“, die die israelische Seeblockade zu durchbrechen versuchen. Über das Warum kein Wort.
Am 10.10. erscheint in einer einspaltigen Randnotiz die dpa-Meldung „Palästinenser erschießt zwei Passanten“ mit zwölf Zeilen Text. Die Nebensächlichkeit ist offensichtlich.
Israel ist nicht „nur“ den Arabern, sondern auch den vielen Antisemiten außerhalb des Nahen Ostens ein Dorn im Auge. Daher ist die israel-feindliche Politik der meisten EU-Länder folgerichtig. Neben dem alten Hass gegen Juden wirkt auch die Tatsache, daß es in etlichen europäischen Ländern inzwischen zahlenmäßig starke und wachsende muslimische Bevölkerungsgruppen gibt, die man bei Laune halten will/muss. Da ist die Gegnerschaft zu dem weltweit einzigen jüdischen Staat ein probates Mittel.
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