Niederlande: Entschuldigung nicht erwünscht!

0
Lesezeit: 5 Minuten
Ministerpräsident Mark Rutte Foto: niederländisches Parlament

Eine aktuelle Umfrage in den Niederlanden will wissen, ob sich der Ministerpräsident bei der jüdischen Gemeinde für das Fehlverhalten der Exilregierung während des Kriegs entschuldigen soll: zwei Drittel der Niederländer lehnen eine Entschuldigung ab und gerade mal 27 Prozent der Befragten befürworten diese.[1]

In den vergangenen Jahren hat die niederländische Regierung konsequent jegliche Aufforderung ignoriert, sich  vollumfänglich zum Ausmass der niederländischen Verwicklung in die Verfolgung der Juden während des Zweiten Weltkrieges zu bekennen. Sogar in den vergangenen Tagen haben einige niederländische Historiker versucht, die Wichtigkeit der doch allgemeingehaltenen Äusserungen zu diesem Thema von Königin Beatrix im März 1995 in der Knesset jenseits alle Proportionen aufzublähen. Viele Niederländer hätten den Deutschen Widerstand geleistet, sagte sie, aber sie waren die Ausnahme und „das Volk der Niederlande konnte die Vernichtung seiner jüdischen Mitbürger nicht verhindern.”[2] Anlässlich des nationalen Gedenktages  sagte sie im selben Jahr, dass „uns die Erinnerung an den Holocaust mit Schande erfüllen sollte.”

Jedoch verblassen ihre Aussagen im Vergleich zu dem, was der französische Präsident Jacques Chirac einige Monate später erklärte: „Was Frankreich getan hat, kann nicht wieder gut gemacht werden. Es hat sein Wort gebrochen und diejenigen an seine Scharfrichter ausgeliefert, die es geschützt hat. Wir stehen ihnen gegenüber in unvergebbarer Schuld.”[3] Zwei Jahre später war der sozialistische Premierminister Lionel Jospin sogar noch deutlicher: „Es brauchte nicht einen deutschen Soldaten, um diese Schande zu begehen.”[4]

Als der niederländische Ministerpräsident Jan Peter Balkenende 2005 zur Eröffnung des Yad Vashem Museums nach Israel kam, konnte ich in einem kurzen Gespräch mit ihm dieses Thema anschneiden. Daraufhin bat mich Balkenende, ihm diesbezüglich eine schriftliche Anfrage zuzuschicken.[5] Ich erhielt lediglich eine formelle Empfangsbestätigung seiner Mitarbeiter. Der belgische Premierminister Guy Verhofstadt erneuerte an der gleichen Eröffnungsfeier seine Entschuldigung für die Kollaboration der Belgier mit den deutschen Besatzern, was er bereits 2002 sagte.[6] Bei diesem Anlass sagte Balkenende lediglich, dass „die Deportation der meisten niederländischen Juden ein tiefschwarzes Kapitel in der niederländischen Geschichte ist und das Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber Juden vorherrschte.“ Einen Monat später gestand er, dass niederländischen Behörden mit den Besatzern kollaboriert hatten. Im Zentrum seiner Aussage standen jedoch vielmehr die Personen, die ihr Leben für andere riskierten, als die vielen niederländischen Verräter.[7]

Etliche niederländische Historiker betrachten die Geschichte der Kriegszeit in erster Linie als Forschungsgebiet für Historiker. Doch keiner konnte bisher erklären, warum sie die niederländische Regierung in den letzten 65 Jahren nie zu einer Entschuldigung an der jüdischen Gemeinde aufgefordert haben. Letzte Woche wurde nun das Thema einer niederländischen Entschuldigung öffentlich zur Sprache gebracht; die ehemaligen Vize-Ministerpräsidenten Els Borst und Gerrit Zalm haben zum Verhalten der Niederlande während des Krieges in meinem neusten Buch Judging the Netherlands: The Renewed Holocaust Restitution Process 1997-2000[8] Stellung bezogen. Kurz nachdem die holländische Tageszeitung DePers die beiden am 4. Januar zitiert hatte, forderte Geert Wilders, Chef der Freiheitspartei, vom Ministerpräsidenten Mark Rutte eine Entschuldigung an die jüdische Gemeinde. Diese Nachricht wurde weltweit durch Hunderte Medien aufgegriffen darunter auch die wichtigsten amerikanischen und die offizielle chinesische Nachrichtenagentur.[9]

Was geschieht aber, wenn die niederländische Regierung der Mehrheitsmeinung folgt und sich nicht entschuldigt? Wahrscheinlich würden viele weitere Episoden niederländischen Fehlverhaltens öffentlich aufgedeckt. So beispielsweise, dass die niederländische Exilregierung in London eineinhalb Jahre benötigte, um die polnische Regierung – die weiterhin im gleichen Gebäude anzutreffen war – nach dem Schicksal der holländischen Juden anzufragen.[10] Oder wie 1944 Henri Dentz, ein niederländischer Beamter in London, niemanden seiner Regierung oder sogar beim Roten Kreuz auffinden konnte, um seinen Bericht zu lesen, der aufzeigte, dass 90 Prozent der deportierten niederländischen Juden ermordet wurden.[11]

Königin Wilhelmina wird ebenfalls grosse Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Vier Jahren sprach sie regelmässig aus London in einer Radioansprache an das niederländische Volk. Doch nur dreimal kam sie auf die Juden zu sprechen, mit insgesamt 5 (fünf) Sätzen. Vor dem Krieg lehnte sie den Aufbau eines Zentrums für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland entschieden ab, das an einem Ort errichtet werden sollte, den sie als zu nahe am Palast empfand. Dieser Ort lag zwölf Kilometer entfernt.[12]

Weiterhin sollte immer wieder an das Fehlverhalten in der Nachkriegszeit im Rahmen der Rückerstattungszahlungen erwähnt werden. Unter Druck entschuldigte sich Ministerpräsident Kok 2000 zwar dafür, fügte aber hinzu, dass diese Missetaten ausser in einem Fall nicht absichtlich waren. Doch gibt es für die Nachkriegszeit viele weitere Beispiele für böse Absichten Juden gegenüber.

Eine andere Möglichkeit, welche die Niederlande unter die Lupe nehmen sollte, wäre die Aufdeckung vieler niederländischen Kriegsverbrechen während der „Polizeiaktionen“ in Indonesien der späten 1940er Jahre, die nie sachgerecht untersucht worden sind. Es wurden mehr als 100.000 Menschen getötet. Erst kürzlich hat sich die niederländische Regierung bei den Einwohnern des Dorfes Rawagede entschuldigt, wo alle männlichen Eingeborenen ohne Gerichtsverhandlung exekutiert worden sind.[13] Es gibt weitere ähnliche Fälle wie beispielsweise die Massenmorde in Süd-Sulawesi, von denen aber nur wenig bekannt ist.[14]

Der aktuelle Ministerpräsident Rutte wäre gut beraten, all dies zu berücksichtigen und zu bedenken, wenn er für oder gegen eine Entschuldigung entscheidet.

 

Dr. Manfred Gerstenfeld ist Aufsichtsratsvorsitzender des Jerusalem Center for Public Affairs.


[1] J. Geerdink, “Twee derde: geen excuus jodenvervolging,” Spits, 7 January 2012, [Dutch]

[2] Address by Her Majesty the Queen to the Knesset, 28 March 1995 (Rijksvoorlichtingsdienst).

[3] Discours du President de la Republique, M. Jacques Chirac, lors des ceremonies commemorant la grande rafle des 16 et 17 juillet 1942 (Rafle du Vel’d’hiv) Paris, 16 juillet 1995, www.ambafrance-us.org/news/statmnts/1998/wchea/vel2.asp. [in French]

[4] Discours du Premier Ministre M. Lionel Jospin, à l’occasion de la ceremonie du Vel’d’hiv Paris 20 Jullet 1997, www.info-france-usa.org/news/statmnts/1998/wchea/vel1.asp. [in French]

[5] Letter Manfred Gerstenfeld to Prime Minister Jan Peter Balkenende, 243 march 2005. [Dutch]

[6] Statement by Guy Verhofstadt, Embassy of Belgium in Tel Aviv, www.diplomatie.be/telaviv/default.asp?id=43&mnu=43.

[7] CIDI, Israël Nieuwsbrief, 30 April 2005. [Dutch]

[8] Manfred Gerstenfeld, Judging the Netherlands: The Holocaust Restitution Process 1997-2000, (Jerusalem, Jerusalem Center for Public Affairs, 2011)

[9] See for instance AP “Wilders: Dutch Government Should Apologize for ‘passive attitude’ to WWII deportation of Jews,” Washington Post, 4 January 2012.

[10] Dienke Hondius, “A Cold Reception: Holocaust Survivors in the Netherlands and Their Return,” Patterns of Prejudice 28:1 (1994): 0031-322x/47-65, based on quotation from L. de Jong, Het Koninkrijk der Nederlanden in de Tweede Wereldoorlog, vol. 9: Londen (The Hague: Staatsdrukkerij, 1979), 501-503. [Dutch]

[11] Report H. Dentz, London, 30 March 1944, 1. [Dutch

[12] Anne Boer and Joop Offringa, “Hoe Wilhelmina ‘Westerbork’ in Elspeet voorkomt,” De Stentor, 23 March, 2009 [Dutch].

[13] “Excuses aangeboden in Rawagede,” NOS, 9 December 2011. [Dutch]

[14] See for instance:  Erik Willems, “Toen een zware storm over het land trok, was de massamoord geen nieuws meer,” Volkskrant, 9 December 2011. [Dutch]