„Die individuellen Freiheiten in Tunesien sind bedroht.“

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Amna Guellali, Direktorin von Human Rights Watch Tunesien. Foto MW
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Nach dem Sturz von Diktator Ben Ali Anfangs 2011, hatten viele Tunesier die Hoffnung, dass ihr Land nun endlich frei werden würde. Wie aber sieht es zwei Jahre später aus? Human Rights Watch-Direktorin Amna Guellali sprach mit Audiatur-Online über Pressefreiheit, Frauenrechte und die Gefahr durch religiöse Gruppierungen.

Audiatur Online: Nach der Revolution sind viele Tunesier ernüchtert, zu Recht?

Amna Guellali: Es hat bedeutende Veränderungen gegeben, gerade wenn es um Meinungsfreiheit geht. Unter dem alten Regime war diese sehr eingeschränkt und es gab beispielsweise auch keine Pressefreiheit. Das hat sich geändert, es gibt eine Vielzahl an neuen Medien.

Ausserdem ist auch die politische Landschaft breiter geworden, es wurden viele neuen Parteien gegründet und diese verfügen über grössere Freiheiten. Und natürlich ist auch die Ausarbeitung der Verfassung, in der die Prinzipien für die neue Demokratie in Tunesien festgelegt werden, etwas Schönes; zumindest in der Theorie. In der Praxis ist dann alles jeweils etwas komplizierter.

Also ist Tunesien auf bestem Wege in Richtung Demokratie?

Natürlich gibt es auch Rückschläge in dieser Übergangsphase, vor allem wenn es um institutionelle Reformen geht. Die Reform der Judikative steht beispielsweise noch immer aus, sie ist noch längst nicht genug unabhängig von der Exekutive. Die Gewaltentrennung generell ist ein grosses Thema.

Der grösste Rückschlag ist allerdings die Bedrohung der individuellen Freiheiten durch politisch oder religiös motivierte Gruppen, welche die Schwäche des Staates ausnutzen und versuchen, ihre eigene Ideologie oder Vorstellungen von Religion durchzusetzen. Das ist für viele Tunesier ziemlich beunruhigend.

Sie sprechen von den Salafisten?

Genau, Salafisten und Anhänger der Regierung, vor allem der Ennahda-Partei. Letztere sind verantwortlich für zahlreiche Attacken auf Journalisten. Sie blockierten beispielsweise über längere Zeit das Gebäude des Staatsfernsehens, hinderten die Journalisten am Betreten und beleidigten sie. Daneben gab es auch physische Angriffe. Bei anderen TV-Stationen wurde eingebrochen und Videokameras sowie weitere Ausrüstung gestohlen.

Die Salafisten wiederum führen im ganzen Land Angriffe durch und haben in verschiedenen Orten ein Alkoholverbot durchgesetzt, vor allem im nördlichen Teil Tunesiens. Die Behörden lassen sie offensichtlich gewähren.

Die Regierungspartei Ennahda scheint die Salafisten trotz gegenteiliger Beteuerungen zu unterstützen.

Vor einigen Monaten kam ein Video mit Rachid Ghannouchi, dem Vorsitzenden der Ennahda, ans Licht. Im Video spricht er mit Repräsentanten der Salafisten. Und was er sagt, schockte viele Menschen in Tunesien. Ghannouchi warnte die Salafisten nicht etwa davor, Gewalt anzuwenden. Stattdessen erklärte er  ihnen, dass die Ennahda die gleichen Ziele, etwa die Einführung der Scharia, habe. Er riet den Salafisten, sich zu gedulden. Das sagt nicht irgendjemand, sondern der Vorsitzende der grössten Partei Tunesiens, die sich vor den Wahlen moderat und demokratisch präsentiert hatte.

Will die Ennahda Tunesien allmählich islamisieren?

Die Ennahda möchte das Strafgesetzbuch um einen neuen Artikel ergänzen, welcher Blasphemie und die Beleidigung von  Religion kriminalisiert. Sollte dieser Vorschlag angenommen werden, würde sich dies sehr negativ auf die Meinungsfreiheit auswirken.

Ausserdem gab es Versuche, die Erwähnung der Gleichheit zwischen Mann und Frau in der Verfassung durch den Begriff „Ergänzung“ zu ersetzen. Dagegen gab es aber massiven Protest durch die Oppositionsparteien, so dass der Vorschlag zurückgenommen wurde.

Frauen spielten eine wichtige Rolle bei den Protesten gegen Ex-Diktator Ben Ali. Wie hat sich ihre Lage verändert?

Auf Gesetzesebene wurden die Rechte der Frauen – wie erwähnt – bislang nicht eingeschränkt, im Alltag sieht das leider anders aus. Viele Frauen unterliegen immer stärkeren Restriktionen. In manchen Studentenhäusern wird Studentinnen vorgeschrieben, wie sich zu kleiden oder zu benehmen haben. Ausserdem gibt es an mehreren Universitäten den Versuch, eine Geschlechtertrennung durchzusetzen. Ganz offensichtlich werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen immer konservativer und restriktiver.

Vielen Dank für das Gespräch.

Amna Guellali, 40 Jahre, ist seit September 2011 die leitende Direktorin von Human Rights Watch in Tunesien. Zuvor arbeitete sie am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als Datenanalystin und war für zahlreiche weitere Menschenrechtsgruppen tätig.

 

Über Michel Wyss

Michel Wyss ist freischaffender Analyst bei der Audiatur-Stiftung und beschäftigt sich hauptsächlich mit Sicherheitspolitik im Nahen Osten. Er absolviert derzeit ein MA-Studium in Government mit Fokus auf Internationale Sicherheit am Interdisciplinary Center in Herzliya, Israel und ist als Research Assistant beim International Institute for Counterterrorism (ICT) tätig.

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