Über 22 mutige Rorschacher Schülerinnen einer Mädchenklasse von 1942

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Brief der 22 Schülerinnen der Rorschacher Mädchensekundarschule Klasse 2c an den Bundesrat, 7. September 1942. Bild dodis. Diplomatische Dokumente der Schweiz, 3244
Ausschnitt vom Brief der 22 Schülerinnen der Rorschacher Mädchensekundarschule Klasse 2c an den Bundesrat, 7. September 1942. Bild dodis. Diplomatische Dokumente der Schweiz, 3244
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In diesen Tagen ist an jene 22 mutigen Schülerinnen aus einer Mädchenklasse der Realschule Rorschach (SG) zu erinnern, die vor 80 Jahren – nachdem sie von der Rückweisung von 6 jüdischen Flüchtlingen im Jura erfahren hatten – am 7. September 1942 – einen Brief an Bundesrat von Steiger schrieben und darin ihre Empörung ausdrückten, «dass man die Flüchtlinge so herzlos wieder in das Elend zurückstösst».

von Hanspeter Büchi

Der Wortlaut des Briefes der Rorschacher Schülerinnen:

„Rorschach, den 7. September 1942

Sehr geehrte Herren Bundesräte!

Wir können es nicht unterlassen, Ihnen mitzuteilen, dass wir in den Schulen aufs höchste empört sind, dass man die Flüchtlinge so herzlos wieder in das Elend zurückstösst. Hat man eigentlich ganz vergessen, dass Jesus gesagt hat: ‚Was ihr einem der Geringsten unter euch getan habt, das habt ihr mir getan.‘ Wir hätten uns nie träumen lassen, dass die Schweiz, die Friedensinsel, die barmherzig sein will, diese zitternden, frierenden Jammergestalten, wie Tiere über die Grenze wirft. Wird es uns nicht so gehen wie dem Reichen, der den armen Lazarus nicht gesehen hat. Was nützt es uns, wenn wir sagen können: Ja, im letzten Weltkrieg hat die Schweiz noch etwas geleistet, dürfte man nur erwähnen, was die Schweiz in diesem Kriege schon Gutes getan hat, besonders an den Emigranten. Haben nicht alle diese Menschen noch die ganze Hoffnung auf unser Land gelegt, und was für eine grausame schreckliche Enttäuschung muss es sein, wieder zurückgestossen zu werden, von wo sie gekommen sind, um dort dem sicheren Tod entgegenzugehen. Wenn das so weiter geht, können wir sicher sein, dass wir die Strafe noch bekommen. Es kann ja sein, dass Sie den Befehl erhalten haben, keine Juden aufzunehmen, aber der Wille Gottes ist es bestimmt nicht, doch wir haben Ihm mehr zu gehorchen als den Menschen. Wo wir zum Sammeln aufgerufen wurden, taten wir es sehr gerne für unser Heimatland und haben willig die Freizeit geopfert, deshalb erlauben wir uns für die Aufnahme dieser ärmsten Heimatlosen zu bitten!

Mit Hochachtung und Vaterländischer Verbundenheit grüssen:

Sekundarschule Klasse 2c“

Der Hintergrund war die Schweizer Flüchtlingspolitik, für die besonders 2 Jahre von Bedeutung waren: 1938 war die Schweiz an der Kennzeichnung der Pässe deutscher Juden und Jüdinnen beteiligt und im August 1942 schloss die Schweiz die Grenze für Flüchtlinge «nur aus Rassegründen». Angesichts der Massenflucht, die nach dem «Anschluss Österreichs» im Frühjahr 1938 einsetzte, suchte die Schweiz nach Wegen, um die Flüchtlinge fernzuhalten. Schliesslich hiess der Bundesrat die Kennzeichnung der Pässe jüdischer Inhaber gut. Damit legte die Schweiz ihrer Einreisepraxis die in den deutschen Gesetzen begründeten rassistischen Kriterien über die Bestimmung von «Ariern» und «Nichtariern» zugrunde.

Man wusste um die Folgen des «J» Stempels

Für Juden aus Deutschland hatte das «J» zur Folge, dass ihre Ausreise – oder besser Flucht – auch in andere Länder erschwert oder verunmöglicht wurde. Es besteht kein Zweifel, dass der Bundesrat, das Justiz- und Polizeidepartement und die Spitze der Armee im Sommer 1942 wussten, dass den zurückgewiesenen Flüchtlingen die Deportation und damit der Tod drohte. Angesichts dessen protestierten der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und Teile der Bevölkerung vehement gegen die Grenzschliessung.

Es geht um ein trübes Kapitel der jüngeren Geschichte der Schweiz, dem zu stellen sich einige schwer taten oder immer noch tun. Ein einzig an die Opfer der damaligen Flüchtlingspolitik erinnerndes Mahnmal kommt offenbar nicht zustande, leider. Auch deshalb sei heute an den 80 Jahre zurückliegenden mutigen Protest jener Rorschacher Schülerinnen erinnert.

Wie Jörg Krummenacher in der Neuen Zürcher Zeitung vom 9. Juni 2017 schreibt, hatten Schweizer Vertretungen im Ausland damals mindestens 16’000 Begehren um Reisevisa abgelehnt. Zudem waren an der Schweizer Grenze deutlich mehr als die bisher dokumentierten 24’400 Flüchtlinge abgewiesen worden. Diesen Zahlen wäre die unbekannte Zahl jener hinzuzufügen, die angesichts der Erfahrungen Abgewiesener den Weg Richtung unseres Landes erst gar nicht wagten.

Wie hat Bundesrat von Steiger 1942 auf den Protest reagiert? Er entwarf eine Antwort, die von einigen korrigiert, dann aber auf Anraten der Bundesanwaltschaft doch nicht abgeschickt wurde.

Entwurf für einen Brief des Chefs des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Heinrich Rothmund, Bern, 14. September 1942
Quelle: dodis. Diplomatische Dokumente der Schweiz, 12055 

Der Lehrer der Klasse wurde verdächtigt, die Schülerinnen zu ihrem Brief angeregt zu haben. Diese werden vom Schulratspräsidenten in Anwesenheit des Gerichtsschreibers und Schulvorstehers zweieinhalb Stunden verhört, wobei sich herausstellt, dass sie auf eigene Initiative gehandelt haben.

Erste Seite des Untersuchungsprotokolls vom 23.10.1942 betreffend “Brief an den Bundesrat der Mädchensekundarschulklasse 2c”. Quelle: dodis.ch/35365

Den Mädchen wurde mit harten Vorwürfen klargemacht, dass sie den Bundesrat beleidigt hätten, der sich ohne Unterlass und selbstlos für ihr Wohlergehen abrackere und jetzt zu hören bekomme, er hätte bei seinem Entscheid – wie bereits bei der Einführung der Verdunkelung – auf die Deutschen Rücksicht genommen.

Ein Protokoll hält das Verhör fest, welches der Gemeindeschulrat Rorschach im Rahmen der Untersuchung betreffend dem Brief an den Bundesrat durchführt. Befragt wurden alle Unterzeichnerinnen, insbesondere die Hauptverfasserin und der Lehrer der Klasse, welcher im Verlaufe des Verhörs vom Vorwurf der “geistigen Urheberschaft” des Briefes entlastet wird. Die Schülerinnen wurden angehalten, über das Vorgefallene Stillschweigen zu bewahren.

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