Sie sind Legenden. Der eine wird an diesem Montag (22. März) 90 Jahre alt; der andere wäre es vier Tage später geworden: William Shatner alias „Captain James T. Kirk“ und Leonard Simon Nimoy alias „Lieutenant Spock“. Tausende Lichtjahre sind die beiden Helden mit ihren Polyester-Trikots auf dem Raumschiff „Enterprise“ geflogen, haben zusammen Welten aus den Angeln gehoben. Begonnen hat alles schlanke 400 Kilometer voneinander entfernt, auf der Nordhalbkugel des Planeten Erde. Zwei jüdische Kindheiten.
von Alexander Brüggemann (KNA)
Shatner wurde 1931 in Notre-Dame-de-Grace geboren, einem Stadtteil von Montreal. All seine Grosseltern waren jüdische Einwanderer: aus Österreich, Polen, Ungarn und der Ukraine. Grossvater Wolf änderte den Familiennamen Schattner in Shatner. Der junge William wurde konservativ jüdisch erzogen.
Nimoy kam vier Tage später und 402 Kilometer südöstlich zur Welt: im West End, einem Einwandererviertel von Boston. Seine Eltern Max und Dora kamen aus Scheslaw, im Westen der heutigen Ukraine. Wie sie wuchs Leonard im orthodoxen Judentum auf. Über dem Eingang der Vilna Shul im West End hängen bis heute die segnenden Hände, Symbol der Priesterkaste der Cohen (Kohanim), die im Jerusalemer Tempel den Altardienst verrichteten. Dieser Segen inspirierte den Enterprise-Offizier Spock später zu seinem Vulkanier-Gruss: „Live long and prosper“ (Lebe lang und in Frieden).
Computerlogbuch der Enterprise, Sternzeit 2021,3 – Captain Kirk. Für Fans („Trekkies“) hat diese Ansage Kultstatus. „Raumschiff Enterprise“, im US-Original „Star Trek“, eine der legendärsten TV-Serien aller Zeiten, spielt im Jahr 2200; einer Zeit, in der die Menschheit den Dritten Weltkrieg überlebt und sich friedlich mit anderen ausserirdischen Lebensformen zur „Vereinigten Föderation der Planeten“ zusammengeschlossen hat.
Die „Sternenflotte“ entsendet die Enterprise, um fremde Galaxien zu erkunden und unbekannte Lebensformen kennenzulernen. Das Schiff mit seiner (aus heutiger Sicht energetisch) absurden Form wird geführt von Captain James Tiberius Kirk (Shatner) und einer Multikulti-Crew, mit der Macher Gene Rodenberry seine Vision einer Überwindung von Krieg und Rassismus nährte. Die wichtigste Handlungsanordnung der Föderation, die „Oberste Direktive“, sich nicht in technologisch unterlegene Zivilisationen einzumischen, führt den Tatmenschen Kirk und Co immer neu ins Dilemma: gehorchen oder retten?
Die vermeintlich galaktische Perspektive war wohl ganz bewusst gewählt: Geh weiter weg von dir, damit du dich selbst besser erkennen kannst! Tatsächlich sind die „fernen Welten“ und vermeintlich unbekannten Gesellschaften doch immer ein Spiegelbild terrestrischer Gesellschaftsentwürfe. Wer waren im Kalten Krieg die aggressiven Klingonen anderes als militaristische Sowjets? Die verschlagenen, stets schwer zu deutenden Romulaner gehen am ehesten als Bedrohung aus dem fernen China durch. Matriarchalische Planeten reflektieren die aufkommende Frauenbewegung. Und auch die Rassentrennung in den USA wird thematisiert – und überwunden.
In der Folge „Platons Stiefkinder“ kommt es – unter psychokinetischem Einfluss des Volkes der Platonier – zum ersten Kuss der US-TV-Geschichte zwischen einer Schwarzen und einem Weissen. Ursprünglich war dafür womöglich „Mr. Spock“ vorgesehen; doch am Ende bekam der Captain den Vorzug. Filmhistoriker rätseln bis heute, ob sich Shatner selbst in den Vordergrund drängte – oder ob ein Kuss zwischen einer Schwarzen („Lieutenant Uhura“, Nichelle Nichols) und einem Ausserirdischen nicht doch zu krass gewesen wäre.
Schon als Kind war William Shatner Hörspielsprecher und spielte im Kindertheater, ebenso während seines Studiums der Wirtschaftswissenschaften in Montreal. 1956 ging er nach New York, übernahm Rollen in Fernsehen, Theater und Film. „Star Trek“ war sein Durchbruch. Doch tatsächlich blieb die Serie bei ihrer Erstausstrahlung in den USA – trotz einiger Achtungserfolge – weit hinter der Quotenerwartung zurück. Das Budget der letzten Staffel wurde auf einen Rumpfbetrag gekürzt, die Drehbücher drastisch vereinfacht. Zudem war der neue Sendeplatz am Freitagabend unattraktiv. Im Sommer 1969 kam das Aus nach nur drei Jahren.
Shatner, die Ikone von heute, war danach Anfang der 70er Jahre für einige Zeit finanziell so klamm, dass er in seinem Pick-Up schlafen musste. In den 80er Jahren hatte er in der Krimiserie „T. J. Hooker“ wieder eine Hauptrolle. Vor allem aber setzte dann der Kult um die „Star Trek“-Kinofilme ein (1979–1994) – mit allmählich wachsenden Trikotgrössen und stets wachsenden „Conventions“, den Fan-Zusammenkünften der „Trekkies“, bei denen die alternden Helden bis heute auftreten und gefeiert werden.
Shatner konnte nun seinen Kultstatus in experimentelle Vielfalt ummünzen. Anfang der 90er moderierte er die Reality-TV-Sendung „Rescue 911“. Er war Talkmaster, übernahm verschiedenste Filmrollen, spielte Werbespots, parodierte sich selbst. Fünf Alben nahm er als Sänger auf, zuletzt im Oktober 2020 ein Blues-Album. Er ist Romanautor, Pferdezüchter, Meeresschützer, Vegetarier. Viermal war er seit 1956 verheiratet, hat zwei Töchter; jüngste Scheidung 2020. Die US-Weltraumbehörde NASA zeichnete Shatner als „Inspirator“ aus. Seinen mehr als 2,5 Millionen Twitter-Followern berichtete er im Stil des Captains-Logbuchs aus der Corona-Isolation.
Auf der Brücke der alten Enterprise ist es zuletzt leerer geworden: Kirks Gefährte Mr. Spock starb 2015, Maschinist „Scotty“ 2005, Arzt Dr. „Pille“ McCoy 1999. William Shatner hat sein Ende, das sich zum Glück noch nicht abzeichnet, schon in einer emblematischen Filmszene vorweggenommen: als er in einer gemeinsamen Mission mit dem Captain der zweiten Enterprise, Jean-Luc Picard, als Held stirbt. Kirks berühmte letzte Worte: „It was fun!“ – es war ein Spass.
KNA/brg/cdt