Eine Hightech-Mauer gegen die Hamas

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Israelische Soldaten bewachen Netiv Ha'asara nahe dem Gazastreifen. Foto Corinna Kern / Flash90
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Das kleine israelische Dorf Nativ Ha‘assara liegt nur wenige hundert Meter vom Gazastreifen entfernt. Ein unterirdischer Grenzwall soll für mehr Sicherheit sorgen.

 

Ofer Beider ist ein ausgeglichener Mensch, ein Landwirt, der in Gewächshäusern Saatgut züchtet. Aber wenn auf seinem Handy ein Alarm aufheult, ist es vorbei mit der Gelassenheit. Dann stürmt Beider in das kleine Zimmer hinter seiner Küche, holt ein M16-Sturmgewehr aus dem Safe und rennt auf die Strasse, um die Bewohner seines Heimatorts vor Terroristen zu schützen. Denn das kleine israelische Dorf Nativ Ha’asara, in dem Beider lebt, ist nur wenige Hundert Meter vom Gazastreifen entfernt – dem Sitz der radikal-islamischen Terrororganisation Hamas, die die Vernichtung Israels anstrebt.

Beider ist Leiter der lokalen zivilen Bereitschaftstruppe. Er muss deshalb jederzeit für ein Szenario bereitstehen, das hier viele Menschen seit Jahren umtreibt. Wie auch seine Nachbarin Zameret Samir. „Ich fürchte die Angriffstunnel der Hamas. Jederzeit könnte ein Terrorist aus einem Loch in meinem Gemüsebeet steigen, um meine Familie und unsere Nachbarn zu ermorden oder zu entführen“, sagt die Frau.

Die Hamas im Gazastreifen investierte über Jahre viele Millionen Euro in ein gewaltiges Netzwerk von Tunneln. Die sollen sie vor Luftangriffen schützen, falls es wieder zum Krieg mit Israel kommt. Aber sie dienen auch dazu, bis nach Israel vorzudringen, um dort Zivilisten oder Soldaten anzugreifen. So wie es die Hamas im Krieg des Jahres 2014 tat. Israel gelten die Tunnel als nichts weniger als eine der zentralen Bedrohungen seiner Sicherheit.

Bestehende Mauer in Nativ Ha‘assara zum Schutz vor Hamas-Scharfschützen aus Gaza. Foto Netivwall

Weltweit einmalige Hightech-Mauer

Eine Milliarde Euro nahm die Regierung deshalb in die Hand, um ein Instrument gegen die Tunnel zu erschaffen: eine weltweit einmalige Hightech-Mauer. Schweres Baugerät sorgt nun für Dauerlärm an Israels grösstem Infrastrukturprojekt. Hier in Nativ Ha’asara, an der Grenze zum Gazastreifen, sind 1000 Arbeiter auf rund 40 Baustellen rund um die Uhr im Einsatz, sechs Tage die Woche. Unter ihnen befinden sich Experten aus Brasilien, Spanien, Italien, Moldawien, Eritrea und Deutschland.

Sie bauen an einem Bollwerk, das rund 60 Kilometer lang sein und ganz Gaza umgeben soll. Nur wenige technische Details wurden bekannt: An einem sechs Meter hohen Zaun sollen Kameras und Selbstschussanlagen Eindringlinge fernhalten. Noch wichtiger ist die bis zu 40 Meter tiefe Betonmauer, die „zehn Meter unter den Grundwasserpegel reichen wird, sodass man sie nicht einfach untergraben kann“, sagt Beider.

Zum Vergleich: 40 Meter entsprechen, nach oben gebaut, etwa einem 13-stöckigen Haus. Zudem befinden sich in der Mauer neuartige Sensoren, die melden, falls jemand den Beton beschädigt oder in der Nähe gräbt. Es ist das erste solche unterirdische Grenzhindernis weltweit.

Neue Drohungen der Hamas

Das liegt auch daran, dass sonst kein Staat einer Bedrohung durch Tunnel ausgesetzt ist – ausser Südkorea. Der kommunistische Norden soll den 38. Breitengrad ebenfalls mit Hunderten, wenn nicht Tausenden Angriffstunneln untergraben haben. Es heisst, die südkoreanische Regierung verfolge das Projekt in Israel aufmerksam.

Aber sie beobachtet den Konflikt an der Grenze zwischen Israel und Gaza ohnehin längst genau. Sie interessiert sich für Israels Raketenabwehr, die auch Seoul vor Salven aus dem Norden schützen könnte. Beiden Ländern ist gemein, dass die feindlichen Raketen zum Teil gleich hinter der Grenze stehen und die Vorwarnzeiten sehr kurz sind.

Zivile Infrastrukturen die mit den Terrortunnels von Hamas verbunden sind (gelb markiert). Foto IDF

Die neueste israelische Technologie verhinderte im letzten Krieg den Raketenbeschuss mehrerer Städte durch die Hamas. Hamas-Chef Jachia Sinwar drohte zwar kürzlich, seine Organisation könne jetzt „in 51 Minuten mehr Raketen abfeuern als im letzten Krieg in 51 Tagen“. Doch Israels Abwehrsystem „Iron Dome“ (Eisenkuppel) dürfte wie damals die meisten Geschosse noch während des Fluges in der Luft abschiessen. Steht erst der neue Hightech-Wall, wäre die Hamas also ihrer beiden wichtigsten Angriffsmethoden – Tunnel und Tausende selbst gebaute Raketen – beraubt.

Raketen, die Israel nicht abschiessen kann

Aber auch die Hamas zog Lehren aus dem letzten Krieg. Damals forderten nicht symbolträchtige Salven auf Tel Aviv, sondern der intensive Beschuss der Umgebung Gazas mit Granaten die meisten Opfer. Die Hamas entwickelt daraufhin Geschosse, wie sie die libanesische Hisbollah-Miliz im syrischen Bürgerkrieg einsetzte. Sie ähneln den Burkan-Raketen, die auf der russischen Scud basieren.

„Das sind Kurzstreckenraketen mit riesigen Sprengköpfen, die nicht von unserer Raketenabwehr abgeschossen werden können, weil sie nur wenige Sekunden in der Luft sind“, sagt Beider. Jede einzelne Rakete kann seinen Angaben zufolge Mehrfamilienhäuser zum Einsturz bringen. Bei einem direkten Treffer sind selbst Schutzräume nutzlos.

Deshalb „gibt es bereits einen Plan für die Evakuierung aller Dörfer“, sagt Beider. Er blickt über die Landschaft, überall sieht man Soldaten, Grenzzäune und Stacheldraht. Und Baugerät. Die Hightech-Mauer wird bald stehen – aber sie wird den Kampf zwischen der Hamas und Israel nicht beenden. Und Ofer Beider wird weiter die zivile Bereitschaftstruppe leiten. Umziehen kommt für ihn jedenfalls nicht infrage. „Diese Gegend ist einfach nichts für ängstliche Typen.“

Zuerst erschienen bei Die Welt.

Über Gil Yaron

Dr. Gil Yaron ist Buchautor, Dozent und Nahostkorrespondent der Tageszeitung und des Fernsehsenders WELT, sowie der RUFA, der Radioabteilung der dpa. Er schreibt ebenso für die Straits Times in Singapur, und arbeitet als freier Analyst in zahlreichen Fernsehsendern.

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