Dieser zweiteilige Artikel basiert auf dem gekürzten und überarbeiteten Vortrag „Gefühle als Basis des antisemitischen Ressentiments: Zur Symbiose von Emotion, Kognition und Sprache in literarischen Texten“ im Rahmen der interdisziplinären Fachtagung „Emotionen des Antisemitismus“des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs am 4.7.2017 in Greifswald. Der zweite Teil erscheint morgen am 8. September 2017.
Von Monika Schwarz-Friesel
Ein Blick auf die „Kulturgüter“ des Abendlandes offenbart stets eines: Dass das judenfeindliche Ressentiment kein Vorurteil unter vielen war und ist, sondern ein historisch unikales und im kollektiven Bewusstein verankertes Glaubenssystem, und als solches ein Phänomen der Weltdeutung. Antisemitisches Gedanken- und Gefühlsgut zeigt sich im 19. Jahrhundert nicht nur in Schriften der politischen Agitation und alltäglichen Diskriminierungskommunikation: Judeophobe Referenzialisierungen mit hohem Emotionspotenzial prägen auch massgeblich die Sphäre von Kunst und Literatur. Für die Erklärung des Phänomens der Judenfeindschaft spielen emotional geprägte Einstellungen eine herausragende Rolle. Kollektive Gefühle hatten und haben massgeblich Einfluss auf die Art und Weise, wie Juden mental konzeptualisiert sowie verbal bewertet wurden ( und werden) – insbesondere im Bereich der schöngeistigen Literatur. Hier zeigt sich deutlich, dass Judenfeindlichkeit keineswegs nur aus rassistischen, nationalistischen oder sozialdarwinistischen Gründen gespeist und stets bewusst als Judenhass kodiert sein muss, sondern dass es sich um ein kulturell verankertes Phänomen handelt, das auch nicht intentional artikuliert wird und dennoch bzw. gerade deshalb genauso gefährlich und nachhaltig auf das kollektive Bewusstsein einwirkt (wie gerade in diesen Tagen die verbal-antisemitische Aufforderung eines Schweizer Hotels an seine jüdischen Gäste gezeigt hat).
Antisemitismus und Emotionen: eine untrennbare Symbiose
Antisemitismus kann – als abendländisches Ressentiment – nicht ohne seine starke Gefühlsbasis verstanden werden, wie alle Korpusanalysen sowohl zu historischen als auch aktuellen judenfeindlichen Texten belegen. Emotionen stellen in erster Linie Bewertungssysteme dar: Jede Emotion beinhaltet Aktivierungen von bewertenden Urteilen. Entsprechend habe ich Judenfeindschaft als „kulturellen Gefühlswert“ bezeichnet, der tief im kollektiven Gedächtnis verankert ist. Dieser Gefühlswert hat als konzeptuellen Kern die Repräsentation ‚Juden als den Anderen/die Üblen‘ und emotional eine intensive Negativbewertung, die vom Hass gespeist wird. Als solcher hat er massgeblich nicht nur den Alltag und die Politik im Umgang mit Jüdinnen und Juden, sondern auch viele Kunstwerke der vergangenen Jahrhunderte geprägt. Da emotionale Aktivierungen sich – anders als kognitiv-rationale Prozesse – den Prinzipien des Verstandes und der Vernunft oft widersetzen, sind sie resistent gegenüber Fakten, Aufklärung und Argumentation. Daher ist der antisemitische Gefühlswert trotz der Auschwitzaufarbeitung nachwievor eine in weiten Teilen der Geselschaft unerschütterliche Konstante, die je nach Situation re-aktiviert wird, sei es bewusst, sei es unbewusst als Klischee-Kodierung (wie z.B. 2015 im Petrenko-Fall, als in einem Text von NDR Kultur als Stilmittel der Kontrastierung die Gegenüberstellung des germanischen Recken Wotan und des“ jüdischen Gnoms“ Alberich benutzt wurde).
Entsprechend habe ich Judenfeindschaft als „kulturellen Gefühlswert“ bezeichnet, der tief im kollektiven Gedächtnis verankert ist.
In vielen literarischen Texten stellen Gefühle ein wesentliches Charakteristikum der jeweiligen fiktiven Textwelt dar; und von vielen Dichtern, Schriftstellern und Wissenschaftlern werden Emotionsmanifestationen als zentrales Bestimmungsmerkmal von Literatur und Kunst angesehen. Die Wirkung literarischer Texte hängt massgeblich von ihrem Emotionspotenzial ab: Auf allen sprachlichen Ebenen lassen sich Einheiten und Strukturen identifizieren, die Gefühle kodieren. Es sind aber nicht nur explizite Sprachstrukturen, die emotionsausdrückend und -konstituierend sind, sondern auch die spezifische Interaktion von Referenz, Über- oder Unterspezifikation (also ein Mehr oder weniger an Informationen zur Realitätsabbildung) und Informationsstruktur des gesamten Textes. Insbesondere die impliziten emotionsbasierten Bewertungen spielen dabei eine entscheidende Rolle. Wenn beispielsweise in einem Roman immer wieder betont wird, wie schmutzig die Räume sind, in denen sich Juden aufhalten, kommt der Leser automatisch zur Bewertung, dass Juden und Schmutz assoziiert seien. So z.B. in Dickens Oliver Twist (S. 39): „Die Wände des Raumes waren von Schmutz und Rauch geschwärzt“ – hier werden auch die Gegenstände, die die jüdischen Figuren in ihren Händen halten, fast ausschliesslich als „schmutzig“ bezeichnet: „In der Gaststube war niemand anwesend ausser einem jungen Juden, der in einem schmutzigen Zeitungsblatt las“.
Literarischer Antisemitismus: die narrative Normalität
Während bei Sach- und Fachtexten sowie Gebrauchstexten die emotionale Dimension von eher geringer Bedeutung ist, spielt die Evozierung von Gefühlen bei literarischen Texten folglich eine herausragende Rolle. Viele Werke erzeugen über figurenbezogene Emotionsmanifestationen Empathie beim Leser, andere Spannung oder Ekel und Wut. Unter literarischen Antsiemitismus subsumiere ich alle Formen des fiktiven Text-Genres, in denen intentional oder nicht-intentional judenfeindliche Stereotype kodiert und negative Gefühle vermittelt werden. Die fiktive Textwelt vermittelt also Konzeptualisierungen, in denen Juden und Judentum mittels pejorativer Zuschreibungen gezeichnet werden. Im Gegensatz zu antisemitischen Pamphleten, Predigten, Artikeln usw. ist das Thema der Werke nicht notwendigerweise mit Juden und Jüdinnen assoziiert. Weder die narrativen Makro- noch die Mikrostrukturen des Textes müssen jüdisches Leben im Fokus haben. Die Analyse einiger bekannter und einflussreicher Romane des 19. Jahrhunderts, die primär andere Hauptthemen haben, zeigt aber, dass deren Antagonisten und/ oder auch deren Neben-Figuren so repräsentiert werden, dass zwangsläufig eine antisemitische Lesart entsteht. Dabei ist hervorzuheben, dass die Produzenten dieser Texte keine überzeugten und obsessiven Antisemiten waren – (wie viele ihrer Zeitgenossen, die sich auch politisch aktiv gegen Juden einsetzten und öffentlich aussprachen) – deren Werke aber, dem Zeitgeist gemäss, Verbal-Antisemitismen als normale und übliche Kodierungen enthalten.
Im Gegensatz zu antisemitischen Pamphleten, Predigten, Artikeln usw. ist das Thema der Werke nicht notwendigerweise mit Juden und Jüdinnen assoziiert.
Zu diesen Werken gehören u.a. Literatur-Klassiker wie die deutschsprachigen Romane „Soll und Haben“ von Gustav Freytag und „Der Hungerpastor“ von Wilhelm Raabe sowie der berühmte englische Jugend-Roman von Charles Dickens „Oliver Twist“ oder „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde.
Dabei kommen „böse Juden“ als Antagonisten wie in Raabes Hungerpastor (der Moses Freudenstein ) oder Dickens Oliver Twist (die Figuren Fagin und Sikes) vor und dominieren damit die gesamte Makrostruktur des Textweltmodells durch einen Dualismus, der gut und böse als moralische Kategorien sehr genau und unzweideutig aufteilt (und zwar zu Ungunsten der jüdischen Figuren). Oft sind es aber auch die für narrative Struktur und Textwelt ganz marginalen Randfiguren, die als ‚Juden‘ kodiert und negativ entwertet werden, und die dem Werk das kulturell geprägte antisemitische Konzeptualisierungsmuster geben und den zeitgemässen Gefühlswert vermitteln (wie bei Wildes Dorian Gray, s. nächster Teil).
Monika Schwarz-Friesel ist Antisemitismusforscherin und Kognitionswissenschaftlerin an der TU Berlin.