Die syrischen Patienten

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Ein im syrischen Bürgerkrieg verwundeter Mann wird in das Ziv Krankenhaus in Safe eingeliefert. Foto Simon Haddad.
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Über 1‘500 Syrer sind seit Beginn des Bürgerkriegs in Spitälern im Norden Israels behandelt worden. Ihr anfängliches Misstrauen gegenüber dem „Feind“ weicht bald einer tiefen Dankbarkeit. Doch es bleibt die Ungewissheit, wie es nach einer Rückkehr nach Syrien weitergehen soll.

Eine junge Frau namens Siham (die Namen aller syrischen Patienten wurden zu ihrer Sicherheit geändert), 26, wird im Ziv Krankenhaus in Safed behandelt; sie erzählt über das Leben im Land des Feindes, der urplötzlich ihr Retter ist. „Als die Raketen in unser Haus einschlugen, hielt ich meinen Sohn. Er wurde am Knie verletzt, ich an den Beinen. Zuerst hat man uns zur Behandlung nach Dar’ah gebracht. Aber als sie dort sahen, wie schwer verletzt ich war, brachte man mich nach Israel. Ich weiss nicht, was mit meinem Sohn ist, ich weiss nicht, was mit ihm geschah, wie es ihm geht. Ich bin sehr besorgt.“

Siham ist die Mutter von zwei Kindern, einem 3-jährigen Sohn und einer 4-jährigen Tochter. „Als ich nach Israel kam, fühlte ich mich sicher. Ich frage jeden neuen Verwundeten, der von Quneitra (Anm. syrische Stadt auf dem Golan nahe der israelischen Grenze) kommt, ob er meine Familie kennt. Ich bitte sie, sich über ihr Schicksal zu erkundigen, aber niemand kann mir etwas sagen. Dieser Krieg ist schrecklich und ich bete, dass er schnell endet.“ Siham ergeht es wie den meisten syrischen Verwundeten. Nie im Leben hätten sie sich vorstellen können, eines Tages nach Israel zu kommen. „Und dann erhalte ich erst noch ein egute ärztliche Behandlung“, sagt sie.

Im gleichen Krankenzimmer liegt eine andere junge Frau, 32, namens Widaad. Sie hat fünf Kinder in Syrien zurückgelassen, das jüngste Kind ist 14 Monate alt und wurde kürzlich erst abgestillt. Die zwei Frauen, die sich anfangs fremd waren, sind inzwischen Freundinnen geworden und teilen ihr gemeinsames Schicksal. Sie versuchen ihre Tränen zu unterdrücken und ein breites Lächeln erstrahlt auf ihren Gesichtern, wenn sie von ihren Kindern in der Heimat sprechen.

„Der Mund lächelt, aber die Augen weinen“, sagt Widaad. Sie war zu Besuch bei Verwandten in Quneitra, als eine Granate das Wohnhaus traf. Alle Bewohner wurden verletzt, ausser einem eineinhalbjährigen Jungen, der auf der Stelle tot war. „Ich weiss, dass mein Haus vollkommen zerstört wurde und dass sich meine Familie versteckt und von Haus zu Haus zieht. Mein Mann sagte, er würde Syrien verlassen, um ein Flüchtlingslager zu erreichen, bevor ich ins Dorf zurückkehre.“ Die Dankbarkeit für die Behandlung und Umsorgung, die sie in Israel erfahren, sprechen die syrischen Verwundeten offen aus. „Hier haben wir eine grosse Portion Güte erfahren“, sagt Widaad. Auch aus der syrischen Oppositionsbewegung wird gedankt. Dr. Kamal al-Labwani, selbst ausgebildeter Arzt, und prominentes Mitglied der syrischen Oppositionsbewegung, besuchte während einem Aufenthalt in Israel im November 2014 das Ziv Krankenhaus: „Israel pflegt die syrischen Verletzten und schützt ihr Leben, Bassar Al-Assad dahingegen schlachtet sein Volk ab. Die wirft die Frage auf, wer denn der wahre Feind Syriens ist.“ Die Behandlung der Syrer in Israel symbolisiert für al-Labwani die Hoffnung auf eine bessere Zukunft:: „Die verletzten Syrer gehören zu meinem Volk, und ich sehe in ihrer Pflege eine humanitäre Geste, welche unsere beiden Völker beeinflusst und welche in ruhigeren Zeiten den Weg zum Frieden bahnen könnte.“

Ausgaben in Millionenhöhe zugunsten syrischer Patienten

Gemäss eines Bericht des israelischen Gesundheitsministeriums gab Israel in den letzten eineinhalb Jahren mehr als 33 Mio. Schekel (8’310’000 Sfr/ 6’911’000 EUR) für die Behandlung und Pflege von syrischen Verwundeten aus. Über 1‘500 Verwundete wurden in israelischen Spitälern aufgenommen. Ein Grossteil von ihnen, insgesamt 425, wurde im Ziv Krankenhaus in Spital behandelt, unter anderem von Professor Alexander Lerner, einem international renommierter Spezialist für Orthopädie: „Die Verwundeten, die in unser Krankenhaus eingeliefert werden, schweben in Lebensgefahr. In vielen anderen Fällen werden Personen mit leichten Verwundungen direkt im israelischen Feldlazarett nahe der Grenze behandelt und kehren nach der Behandlung wieder nach Syrien zurück.“

Zwei Cousins, die beide ihre Beine im syrischen Bürgerkrieg verloren haben. Im Ziv Krankenhaus wurden sie behandelt und erhielten Beinprothesen. Prof. Alexander Lerner in der Mitte des Bildes und zwei Physiotherapeuten. Foto Ziv Medical Center
Zwei Cousins, die beide ihre Beine im syrischen Bürgerkrieg verloren haben. Im Ziv Krankenhaus wurden sie behandelt und erhielten Beinprothesen. Prof. Alexander Lerner in der Mitte des Bildes und zwei Physiotherapeuten. Foto Ziv Medical Center

Viele werden mit schweren Fussverletzungen ins Spital eingeliefert, die durch Granaten oder Minen verursacht wurden. In der Regel bleiben die syrischen Patienten zwei Wochen im Spital, abhängig vom Schweregrad der Verletzung. Bei komplizierten Operationen bleiben einige Patienten bis zu zwei Monaten. Weil sie nach ihrer Genesung nach Syrien zurückkehren und die dortige medizinische Versorgung ungewiss ist, setzten Professor Lerner und sein Team im Ziv Krankenhaus alles daran, den syrischen Patienten die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen. „Wir nutzen modernste Technologie und Geräte und geben den Patienten die besten Medikamente, damit sie so schnell wie möglich genesen. Die Patienten werden von renommierten, international anerkannten Ärzten behandelt, die über viel Erfahrung mit Kriegsverletzungen von israelischen Soldaten verfügen.“

Anfangs begegneten die syrischen Patienten dem medizinischen Personal mit Misstrauen, doch mit der Zeit wuchs das Vertrauen zu den Krankenschwestern und Ärzten. „In unserem Krankenhaus haben wir viele Arabisch sprechende Mitarbeitende. Und ich selber habe durch die Arbeit mit den syrischen Patienten Grundkenntnisse in Arabisch gelernt“, erklärt Prof. Lerner. Auch verschwand die anfängliche Angst und Argwohn der Patienten gegenüber dem „Feind“, als sie verstanden, dass ihnen in Israel geholfen wird und sie eine gute medizinische Behandlung erhalten. Dies hat sich mittlerweile in Syrien rumgesprochen. „Es gibt Fälle, in denen Verwundete einen Brief ihres syrischen Arztes bei sich trugen, der uns den bisherigen Behandlungsverlauf beschrieb.“

Doch die syrischen Patienten werden nicht nur medizinisch versorgt. Unzählige Spenden von Privatpersonen und selbst von den Mitarbeitenden der Krankenhäuser sorgen für ihr Wohlergehen, insbesondere dasjenige der Kinder. „Es gibt nicht ein Zimmer auf der Kinderstation, in dem nicht ein iPad, Spielsachen und Puppen zu finden ist. Die Stationsschwestern bringen Kleidung und Schuhe ihrer Kinder für die verletzten syrischen Kinder mit“, so Prof. Lerner. Privatpersonen spenden Kleider und Grundausstattungen, weil die Patienten aus Syrien ohne Hab und Gut ankommen, sowie orthopädische Prothesen und medizinische Hilfsmittel. Für viele Ärzte und Krankenhausmitarbeiter geht die Beziehungen zu syrischen Verletzten über das übliche Arzt-Patienten-Verhältnis hinaus. „Besonders wenn Kinder involviert sind, wird es emotional schwierig, sie nach Hause in Syrien zu entlassen, ohne zu wissen, was mit ihnen geschehen wird“, sagt Lerner.

Das syrische Regime behandelt die zurückgekehrten Patienten als Spione des israelischen Geheimdienstes. Boutyahnis Shaban, politische Beraterin von Bashar al-Assad, verkündete in einem Interview mit dem Sender „Al-Midayan“, dass die Verletzten des Kriegs, die in israelischen Krankenhäusern behandelt werden, Soldaten von verdeckt operierenden israelischen Einheiten seien. Und die Hisbollah beschuldigt diese Verletzten, mit Israel zu kollabieren und das Land mittels Kommunikationsgeräten mit Informationen aus Syrien zu versorgen.

Der frühere drusische Knessetabgeordnete Ayoob Kara gehörte zu den ersten, die die Behandlung von verletzten Syrern mitinitiierte. Er etablierte ein Komitee, das Spenden aus dem In-und Ausland für die Behandlung von verletzten Syrern in Israel sammelte. Diese, so glaubt Kara, würden nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat zu Botschaftern Israels werden. Ein freiwilliger Helfer in Karas Stab, der anonym bleiben möchte, spricht über die Probleme, welche die syrischen Flüchtlinge nach ihrer Rückkehr in die Heimat erwarten. Er berichtet von Fällen, wo Verletzte nach ihrer Behandlung in Israel nicht nach Syrien zurückkehren wollen, weil von ihrem Zuhause nichts geblieben ist. „Wir haben mehreren Familien geholfen, aus Syrien zu fliehen. Nach ihrer Rückkehr nach Syrien sahen extremistische Organisationen in ihnen Kollaborateure mit dem Feind und sie baten uns, sie ausser Landes zu schaffen.“ Denn obwohl viele nach ihrer Rückkehr unauffällig bleiben, gibt es doch Fälle, in denen Rückkehrer über ihre guten Erfahrungen in Israel berichten. „Sie sprechen über die gute Behandlung, die sie erhalten haben, und ihre persönlichen Beziehungen zu den israelischen Pflegern. Damit sagen sie offen, dass Israel nicht der Feind ist, obwohl ihnen dies von klein auf beigebracht worden war. Tatsächlich aber gingen sie nun viel lieber ins „Feindesland“ Israel statt etwa nach Jordanien oder in die Türkei.“

© Assaf Gibor

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