Der Überfall der Hamas offenbarte ein schwerwiegendes Versagen im israelischen Frühwarnsystem, doch Vertreter der Sicherheitsbehörden betonen, dass die Konzentration auf die Hauptbedrohungen – Iran und Hisbollah – die Möglichkeiten zur genauen Beobachtung der Hamas stark einschränkte. Welche Prioritäten wurden gesetzt und welche Einschränkungen hatten Einfluss auf die Entscheidungen der Geheimdienste?
von Ehud Eilam
Am 7. Dezember 1941 griff Japan den amerikanischen Marinestützpunkt in Pearl Harbor, Hawaii, an und es kam zu einem der bekanntesten Fälle von Geheimdienstversagen. Man kann eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 feststellen, aber es ist wichtig, die besonderen Einschränkungen der Geheimdienste in diesem Fall zu erkennen.
In Israel herrschte die Annahme vor, dass die Hamas durch verschiedene Faktoren in Schach gehalten wurde und den Status quo bevorzugte. Allenfalls würde die Hamas eine begrenzte Operation durchführen, die im Voraus entdeckt werden könnte und in jedem Fall Israel keinen nennenswerten Schaden zufügen würde. Diese Annahme trug dazu bei, dass es keine Frühwarnung vor dem massiven Angriff der Hamas gab.
Von Anfang an war es jedoch für Israel problematisch, sich ausschliesslich auf Frühwarnungen zu verlassen, und zwar aufgrund verschiedener Faktoren, darunter eine übermässige Abhängigkeit von Technologie. Darüber hinaus lag der Schwerpunkt auf dem Iran und der Hisbollah, was zu Lasten der Hamas ging. Während die Hamas ihre Bemühungen auf Israel konzentrierte, war der israelische Geheimdienst gezwungen, seine Ressourcen auf mehrere Staaten und Organisationen aufzuteilen. Diese Priorisierung wirkte sich auf die Überwachung der Hamas aus und damit auf die Fähigkeit, rechtzeitig Warnungen bereitzustellen.
Die Konzentration auf den Iran war logisch, da seine potenzielle Bedrohung weitaus grösser ist als die aller anderen. Hätte Israel mehr Zeit darauf verwendet, die Schritte der Hamas vorherzusehen, wäre es möglicherweise besser auf den Angriff vom 7. Oktober vorbereitet gewesen. Dies hätte jedoch möglicherweise dazu geführt, dass die Überwachung des Iran, insbesondere seines Atomprogramms, vernachlässigt worden wäre, was für Israel weitaus schwerwiegendere Folgen hätte haben können.
Israel wurde bereits in der Vergangenheit von Enthüllungen über die nuklearen Ambitionen seiner Gegner überrascht, wie im Fall von Syrien und Libyen. Die plötzliche Entdeckung, dass der Iran der Erlangung nuklearer Fähigkeiten viel näher ist – insbesondere im Falle des Besitzes von Atomwaffen – würde existenzielle Auswirkungen haben. Dies entschuldigt zwar nicht die Vernachlässigung der Hamas, unterstreicht jedoch die Notwendigkeit, solche Bedrohungen im breiteren Kontext der primären Sicherheitsbedenken Israels zu bewerten.
Die Hisbollah, nach dem Iran Israels zweitgrösste Sicherheitsbedrohung, stellte eine gewaltige Herausforderung dar. Seit dem Krieg von 2006 konnte die Hisbollah ihre Position deutlich stärken und ein riesiges Arsenal an Raketen, Flugkörpern und Drohnen aufbauen. Trotz gelegentlicher Eskalationen im Gazastreifen galt die Hisbollah als weitaus grössere Bedrohung als die Hamas.
Hätte man der Hisbollah weniger Ressourcen zugewiesen und sich stattdessen stärker auf die Hamas konzentriert, hätte dies die Frühwarnfähigkeiten verbessern können, aber Israel wäre weniger gut auf die Hisbollah vorbereitet gewesen. Eine solche Verlagerung hätte möglicherweise die Erfolge Israels gegen die Hisbollah im „Eisernen Schwert“-Krieg geschmälert, der sich stark auf die Aufklärung der Hisbollah stützte.
Darüber hinaus wurden erhebliche nachrichtendienstliche Anstrengungen unternommen, um den Waffentransfer vom Iran an die Hisbollah über Syrien und die militärische Verankerung des Iran in Syrien sowie den anhaltenden Konflikt im Westjordanland zu überwachen. Diese Prioritäten rechtfertigen zwar nicht das Versäumnis, den Angriff der Hamas vorherzusehen, müssen aber im Rahmen der allgemeinen Sicherheitslage berücksichtigt werden.
Selbst wenn Israel mehr Mittel und Zeit für die Überwachung der Hamas aufgewendet hätte, bleibt die Vorhersage der Absichten eines Gegners – insbesondere einer abgeschotteten und in sich geschlossenen Organisation wie der Hamas – eine immense Herausforderung. Die Entscheidungsfindung innerhalb der Hamas ist stark zentralisiert, was die nachrichtendienstlichen Bemühungen weiter erschwert. Während der israelische Geheimdienst über umfangreiche Erfahrungen mit diesem langjährigen Gegner verfügt, konnte die Hamas aufgrund ihrer Nähe zu Israel auch die Schwachstellen des israelischen Geheimdienstes untersuchen und im Rahmen ihrer Angriffsvorbereitungen einen Täuschungsplan ausarbeiten.
Warnungen können oft vage, irreführend oder völlig ungenau sein. Es ist erwähnenswert, dass selbst wenn es rechtzeitig eine Warnung gegeben hätte und die IDF ihre Präsenz in der Umgebung von Gaza vor dem 7. Oktober rasch verstärkt hätte, die Hamas, welche die israelischen Aktionen genau beobachtete, an diesem Tag möglicherweise auf einen Angriff verzichtet hätte. In einem solchen Szenario wäre es nicht zu einem Angriff gekommen, was in Israel und international zu Kritik an der massiven militärischen Aufrüstung in der Umgebung von Gaza geführt hätte. Dies wäre wahrscheinlich als falscher Alarm bezüglich der Absichten der Hamas angesehen worden, wobei frühere Einschätzungen, dass die Hamas nicht angreifen würde, ausser Acht gelassen worden wären.
Einige hätten argumentieren können, dass der Einsatz der IDF aus politischen Gründen Panik erkennen liess oder sogar einen Versuch darstellte, die Hamas zu einem Krieg zu provozieren. Die Hamas hätte die Gelegenheit genutzt, um sich als Opfer israelischer Aggression darzustellen. Darüber hinaus hätten Kritiker behaupten können, dass die erhöhte Bereitschaft übertrieben war und eine übertriebene Angst vor der Hamas widerspiegelte, und vor allem vor ihrer Fähigkeit, einen grossflächigen Angriff durchzuführen, ein Schritt, den die Hamas vor dem 7. Oktober noch nie unternommen hatte. Eine solche Kritik hätte, da es nicht zu einem Angriff kam, zu einem späteren Zeitpunkt zu Bedenken bei den Nachrichtendiensten hinsichtlich der Herausgabe von Warnungen und zu Dilemmas bei den israelischen Streitkräften hinsichtlich der Wiederholung solcher Vorbereitungen führen können, was der Hamas möglicherweise eine weitere Gelegenheit zum Angriff gegeben hätte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Versäumnis, angemessen vor der Hamas zu warnen, auch innerhalb der Geheimdienste ein schwerwiegender Fehler war, der zu den Ereignissen vom 7. Oktober führte. Dieses Versäumnis muss jedoch vor dem Hintergrund der Priorität, die dem Iran, Syrien und der Hisbollah eingeräumt wurde, und der Wahrscheinlichkeit, dass die Hamas angesichts der erhöhten israelischen Bereitschaft von Angriffen absehen würde, bewertet werden.
Dr. Ehud Eilam befasst sich seit 35 Jahren mit der nationalen Sicherheit Israels. Er diente im israelischen Militär und arbeitete später als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das israelische Verteidigungsministerium. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt „Israeli Strategies in the Middle East: The Case of Iran“ (Palgrave Macmillan, 2022) und ist Korrespondent des Israel Defense Magazins. Übersetzung Audiatur-Online.
Dr. Eilam zieht eine Parallele zwischen dem Angriff auf Pearl Harbour und dem Angriff der Hamas am 7. Oktober. Das ist insofern bemerkenswert, als es im Fall von Pearl Harbour nicht verstummende Stimmen gibt, welche behaupten, der damalige US-Präsident Franklin D. Roosevelt persönlich hätte vorab vom Angriff gewusst und die damit verbundenen Verluste in Kauf genommen, um die isolationistische Stimmung in den USA zu kippen und einen Kriegseintritt seines Landes zu ermöglichen. Sogar auf der Ebene der Geheimdienste ist bekannt, dass der Amerikanische Botschafter Joseph C. Grew fast ein Jahr vor dem Angriff den Plan der Japaner , Hawaii anzugreifen, seinen Vorgesetzten gemeldet hatte. Die Parallelen sind frappierend, und können wahlweise als Geheimdienstversagen, oder auch als politisches Kalkül gedeutet werden, je nachdem, welchen Blick man auf die Angelegenheit hat und welches Niveau an Skrupellosigkeit man den jeweiligen politischen Führern zutraut. Tatsache ist, dass in beiden Fällen eine zögerliche Amerikanische Öffentlichkeit dazu gebracht wurde, anstatt einer diplomatischen Lösung eine militärische als einzige Alternative zu befürworten.
Was mich persönlich viel mehr interessiert, ist der Grund für das Ausbleiben der IDF nach den erfolgten Angriffen auf den Grenzzaun und den Beginn der Massaker an der Zivilbevölkerung. Trotz Drohnen, Hubschraubern, Panzern und jeder Menge anderer technischen Mittel dauerte es 6-8+ Stunden, bis die Hilfe vor Ort eintraf. Wären die Soldaten der nahegelegenen Militärbasen zu Fuß losgelaufen, als der Angriff begann, wären sie innerhalb der nächsten Stunde vor Ort gewesen. 80-jährige Knesset Abgeordnete haben es geschafft, sich an den Ort des Geschehens zu begeben und mit ihren Privatwaffen Leben zu retten, bevor das Militär kam! Das Versagen der Geheimdienste ist eine Sache, das Versagen der IDF nach dem Angriff eine ganz andere. Wie bei Golda Meir müssen wir aber auf Konsequenzen in der Führungsebene wohl bis nach dem Krieg warten. Die Hauptsache ist aber, dass sie kommen, denn wer aus seinen Fehlern nicht lernt, ist verdammt, sie zu wiederholen. Und im Falle von Israel kann jeder Fehler der letzte sein.