An diesem Schabbat lesen wir den Toraabschnitt Vayera und das ergreifende Drama der Akeida, der Bindung Isaaks, die zehnte und schwierigste Glaubensprüfung, die unser Stammvater Abraham im Leben zu bestehen hatte. Würde er bereit sein, seinen geliebten Sohn Yitzchak, Isaak, auf dem Altar Gottes zu opfern, zumal er so viele Jahre auf die Geburt dieses Sohnes seiner Frau, unserer Matriarchin Sarah, gewartet hatte?
von Rabbiner Yossy Goldman
Warum ist dieser berühmte Akt des Beinahe-Martyriums so besonders? Was macht Abraham und Isaak so einzigartig? Gab es nicht viele Millionen jüdischer Märtyrer im Laufe unserer langen und qualvollen Geschichte? Vor nur einer Generation wurden 6 Millionen Märtyrer, darunter mehr als 1 Million unschuldige Kinder, getötet. Und vor einem Jahr wurden 1.200 unserer Besten – jung und alt – von der Hamas niedergemetzelt.
Warum also, frage ich, ist das Beinahe-Martyrium von Abraham und Isaak so besonders?
Es gibt viele berühmte Antworten auf diese Frage, aber ich möchte mit Ihnen eine unkonventionelle Antwort teilen, von der ich glaube, dass sie uns heute anspricht und eine sehr wichtige und persönliche Botschaft für uns alle hat.
Der Abschnitt in der Tora beginnt mit diesen Worten: „Und es geschah nach diesen Dingen, und Gott prüfte Abraham.“
Das war’s. Ich habe Ihnen gerade die Antwort gegeben. Haben Sie sie verstanden? Nein? Haben Sie sie übersehen? OK, ich wiederhole sie. „Und Gott prüfte Abraham.“ Haben Sie die Bedeutung dieses Mal verstanden? Gott selbst prüfte Abraham.
Worauf will ich hinaus? Tragischerweise sind wir Juden nur allzu sehr an das Märtyrertum gewöhnt. Wir sind es gewohnt, unser Leben und das unserer Kinder zu opfern, wenn wir von unseren Feinden, von Antisemiten und von den bösartigen Schurken der Geschichte bedroht und angegriffen werden. Wir wissen, dass das Leben ein Kampf zwischen Gut und Böse ist. In dieser epochalen Konfrontation haben wir nur allzu oft unser Leben für unseren Glauben, für unsere Grundsätze und für Gott gegeben, damit die Kräfte des Lichts die Kräfte der Finsternis und des Bösen besiegen können.
Es wäre also verständlich, wenn Abraham aufgefordert würde, sein Leben oder das seines Sohnes in einer Schlacht gegen den mächtigen König Nimrod zu opfern. Aber hier wurde Abraham nicht von Nimrod oder Hitler oder der Hamas auf die Probe gestellt. Hier tritt Abraham gegen Gott an. Gott selbst stellte Abraham auf die Probe!
Dass ein Antisemit Ihrem Kind das Leben nehmen will, ist eine Realität, mit der wir leider nur allzu vertraut sind. Aber Gott? Gott bedroht das Leben meines Kindes? Damit können wir uns nicht so leicht abfinden.
Aber Abraham sagte nichts. Kein einziges Wort. Er stand am nächsten Morgen früh auf und begab sich im vollen Vertrauen auf Gott auf diese Mission. Er verlangte keine Antworten auf die vielen Fragen, die er hätte stellen können.
Die einzige Prüfung für Abraham bestand darin, ob er durch den klaren Widerspruch in Gottes eigenen Worten desillusioniert werden würde.
„Hey Gott! In der einen Minute sagst du mir, dass du mir einen Kronprinzen schenkst und dass er mein Erbe und das nächste Glied in der Reihe der Gründerväter des jüdischen Volkes sein wird, und in der nächsten Minute sagst du mir, dass ich ihn opfern soll? Und er hat noch nicht geheiratet und keine Kinder gezeugt. Ich verstehe das nicht, Gott.“
Abraham hätte das sagen können, aber er tat es nicht. Er schwankte nie. Nicht einen Augenblick lang. Und das ist Teil seiner Unsterblichkeit. Deshalb bleibt sein Opfer einzigartig, selbst nach Millionen und Abermillionen von heroischen Taten jüdischer Märtyrer im Laufe der Generationen.
Gott hat Abraham geprüft. Nicht der Antisemit. Nicht die Hamas. Sondern Gott. Und Abraham bestand die Prüfung mit Bravour.
Enttäuschung ist eine grosse Prüfung im Leben, besonders wenn sie von einer unerwarteten Quelle kommt – wie Gott. Wir werden oft mit Prüfungen der Enttäuschung konfrontiert, und zwar nicht nur bei grossen Ereignissen, wie dem Holocaust oder dem 7. Oktober.
Ich kann verstehen, warum mein Konkurrent meinen Umsatz schmälert. Das ist auch sein Wille. Aber warum lässt Gott zu, dass dies mit meinem Geschäft passiert? Ich bin brav gewesen. Ich gehe in die Synagoge. Ich bin wohltätig. Hat Gott nicht in der Bibel versprochen, dass, wenn wir gut zu ihm sind, er auch gut zu uns ist? Warum macht er mein ganzes Geschäft kaputt?
Das ist eine grosse Prüfung. Werden wir es uns erlauben, in Enttäuschung zu versinken?
Das Wort „Elokim“ steht nicht nur für Gott, sondern auch für das Göttliche. Auch das Fromme kann uns manchmal auf die Probe stellen.
Wie der Rabbi! Der Rabbiner soll ein Mann Gottes sein. „Nun, er hat mir nicht „Guten Morgen“ oder „Schabbat Schalom“ gesagt oder mir ein „Chag Sameach“ gewünscht. Er hat mich nicht besucht, als ich im Krankenhaus lag oder als ich die Grippe hatte.“ Wenn der Rabbiner nicht die Erwartungen erfüllt, die man an einen geistlichen Führer stellt – die hohen Standards, die man von einem Mann Gottes erwartet -, dann kann man desillusioniert werden. Viele Menschen auf der ganzen Welt haben Synagogen verlassen, weil sie von ihrem Gottesmann, ihrem Rabbiner, desillusioniert waren.
Auch das ist eine Prüfung.
Und dann ist da noch die häufigste Prüfung von allen. Davon habe ich bestimmt schon mindestens tausendmal gehört!
„Rabbi, ich kenne einen Mann, der 10 Mal am Tag in die Synagoge geht. Er betet, er schunkelt wie wild und tut so, als sei er der heiligste Mann der Stadt. Und wenn es ums Geschäft geht, ist er ein Abzocker! Ein gonif (Dieb, Anm.d.Red.)! Wenn er Religion repräsentiert, will ich nichts damit zu tun haben!“
Und wissen Sie was? Ich persönlich kann die Menschen verstehen, die so reagieren, wenn sie solch eklatante Fälle von schändlicher Heuchelei sehen. Die so genannten „gottesfürchtigen“ Menschen stellen uns vielleicht wieder auf die Probe.
Aber um ehrlich zu sein, bin ich all diese alten Geschichten über religiöse Abzocker leid. Nehmen wir an, Sie haben Recht, und dieser Kerl ist tatsächlich ein frommer Schwindler. Gut in der Synagoge und schrecklich bei der Arbeit. Ja und? Was hat das mit Ihnen zu tun? Nur weil jemand anderes seine Prüfungen im Leben nicht bestanden hat, warum sollten Sie Ihre nicht bestehen?
Ob wir von den so genannten „Gottesfürchtigen“ unter uns, die sich unethisch verhalten, desillusioniert werden, kann durchaus eine Prüfung für unseren eigenen Glauben sein.
Jeder von uns hat eine direkte Beziehung zu Gott. Juden brauchen keine Mittelsmänner. Wenn so und so ein Gauner ist, ist das sein Problem, nicht meins. Und wenn Mr. X ein Heuchler ist, ist Gott dann nicht Gott? Ist die Thora nicht die Thora? Ist das Judentum nicht das Judentum?
Warum sollte das Verhalten eines anderen meine Beziehung zu Gott schwächen? Entbindet mich das von meinen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten?
Die Verbindung eines Juden zu Gott ist heilig, unantastbar und nicht verhandelbar, ungeachtet des Verhaltens anderer, selbst der „Frommen“ unter uns. Die scheinbaren Ungereimtheiten im Verhalten eines Rabbiners, Chazzans, Rebbenzins, Gabbai oder irgendeines Gauners, der sich zufällig „religiös“ kleidet, sind völlig irrelevant.
Lassen Sie mich mit einer Geschichte schliessen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, nachdem die US-Armee das Konzentrationslager Mauthausen befreit hatte, ging Rabbi Eliezer Silver, ein bekannter Führer des amerikanischen Rabbinats, den Überlebenden zur Hilfe. Er arrangierte einen Gebetsgottesdienst mit allen Häftlingen, bei dem sie das Kaddisch für ihre gefallenen Familienmitglieder sprachen und Gott für ihr Überleben dankten. Der Rabbiner bemerkte, dass ein Überlebender sich vom Gebet abwandte und nicht daran teilnehmen wollte, also ging er zu ihm hin und lud ihn ein, sich ihnen anzuschliessen. Der Mann erklärte dem Rabbiner, warum er nicht beten wollte.
„In unserem Lager hatte es ein Jude geschafft, einen Siddur (jüdisches Gebetsbuch, Anm.d.Red.) ins Lager zu schmuggeln. Wann immer es sicher war, stellten sich die Juden an, um den Siddur in den Händen zu halten und ein Gebet zu sprechen. Zunächst zollte ich ihm grossen Respekt für diesen edlen Akt des Mutes und der Aufopferung. Aber dann sah ich, dass der Mann mit dem Siddur dafür Geld verlangte! Er nahm ein Viertel der täglichen Lebensmittelrationen der Menschen als Bezahlung für den Siddur. Wie verachtenswert! In diesem Moment verlor ich meinen Glauben und beschloss, nie wieder zu beten. Wie kann ein Jude so etwas tun?!“
Der weise Rabbi legte seinen Arm um den Überlebenden und sagte: „Lass mich dir eine Frage stellen. Warum siehst du nur auf den einen schändlichen Juden, der von seinen armen Brüdern Geld für seine Siddur verlangte? Warum schaust du nicht auf die Dutzenden von heiligen Juden, die bereit waren, ein Viertel ihrer mageren Rationen aufzugeben und ihr Leben zu riskieren, nur um einen Moment mit dem Siddur zu beten? Warum schaust du nicht auf sie und lässt dich von ihnen inspirieren?“
Der Überlebende räumte ein, dass der Rabbiner Recht hatte. Zu seiner Ehre drehte er sich um und schloss sich dem Rabbi beim Gebet an. Dieser Überlebende war kein anderer als der berühmte Nazi-Jäger Simon Wiesenthal.
Unabhängig davon, ob sich unsere jüdischen Mitbürger, selbst vermeintlich „gottesfürchtige“ Juden, korrekt verhalten oder nicht, sollten wir sicherstellen, dass wir trotzdem das Richtige tun.
Rabbi Yossy Goldman ist emeritierter Rabbiner der Sydenham Shul in Johannesburg und Präsident der South African Rabbinical Association. Er ist der Autor des Buches «From Where I Stand» über die wöchentlichen Tora-Lesungen, erhältlich bei Ktav.com und Amazon. Auf Englisch zuerst erschienen bei Jewish News Syndicate. Übersetzung und Redaktion Audiatur-Online.