Europa, Migranten und die jüdische Frage

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Flüchtlinge bei der Überquerung der ungarisch-serbischen Grenze. Foto Gémes Sándor. Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia Commons.
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Nur wenige Bilder haben solche Veränderungen ausgelöst wie jenes der an einen Strand gespülten Leiche eines kleinen kurdischen Jungen. Übernacht wandelte sich die Haltung der Europäer; hatten sie eben noch starr den Blick von der Migrationskrise abgewandt, gab es nun kollektive Wut und die ihre jeweiligen Regierungen reagierten. Diese Reaktionen sind lehrreich, steckt in ihnen doch das Europa des letzten Jahrhunderts, während sie gleichzeitig das neue formen und dabei Hinweise zur Lösung einiger alter Probleme liefern.

von Alex Joffe

Doch erst einmal muss eine Frage gestellt werden: Warum eigentlich waren die Europäer nicht von dem seit vier Jahren andauernden syrischen Bürgerkrieg erschüttert, von den Fassbomben und chemischen Waffen des Assad-Regimes oder von den medienwirksamen Enthauptungen des Islamischen Staates sowie dessen Wiedereinführung der massenhaften Sklaverei und den Vergewaltigungen? Lediglich die Beteiligung europäischer Bürger, von denen immer wieder einige aus Syrien zurückkehren, um in Europa Massaker zu verüben, hat unter den europäischen Regierungen und der Bevölkerung Besorgnis ausgelöst.

Die Antwort auf diese Frage ist ziemlich offensichtlich und hat ganz und gar mit der Kultur zu tun. Seit 1945 hatte es sich Europa unter der amerikanischen Sicherheitsdecke so gemütlich gemacht, dass die grosse Mehrheit der Europäer keinerlei Erfahrung mit Krieg hat. Die europäischen Institutionen haben Generationen von Europäern so sozialisiert, dass sie nicht einmal mehr in der Lage sind, in einem Konflikt Angreifer und Verteidiger oder Gut und Böse zu unterscheiden. Wenn sie das könnten, wenn sie mehr wahrnähmen als nur Grautöne, dann könnten sie sich zu Handlungen gezwungen sehen. Womöglich gar zum Krieg.

Viele Europäer verstehen, wenn sie Krieg sehen, nicht, was dort passiert. Eine Intervention zur Verhinderung oder Beendigung von Krieg oder zur Bekämpfung der Ursachen von Krieg, Flucht und Migration liegt jenseits ihres Vorstellungsvermögens und ihrer Fähigkeiten. Heute sind Grossbritannien und Frankreich ohnehin die einzigen Länder, die überhaupt über ernsthafte militärische Kapazitäten verfügen. Seit dem Ende des Kalten Krieges wurden die militärischen Mittel geflissentlich immer weiter reduziert, um zukünftige Handlungsoptionen zu beschränken.

Gleichzeitig betrachten die meisten Europäer sich selbst als humanitäre Wohltäter, eine moralisch befriedigende Rolle, die ausgewählten Anderen die Rolle von Opfern zuweist. Die derzeitige Unfähigkeit, zwischen Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten zu unterscheiden, spricht somit Bände. Jene werden willkommen geheissen und letztere einfach umbenannt, was ein altes Problem auf oberflächliche Weise löst. Berichten zufolge sind Afghanen und Pakistanis nur allzu glücklich, diese Charade mitzumachen und sich als Syrer auszugeben.

Doch die Migrationswelle fördert auch vielsagende nationale Unterschiede zutage: von der Vorsicht Grossbritanniens und Frankreichs über Ungarns Wut, die Warnungen Polens und Dänemarks bis hin zur Begeisterung Deutschlands und Österreichs sowie dem Diktat der Europäischen Union. Einige dieser Reaktionen sind auf Erfahrungen in der jüngsten Vergangenheit zurückzuführen, oder auch auf solche, die schon weiter zurückliegen. In Grossbritannien und Frankreich hat es furchtbare Ausschreitungen islamischer Gewalt vonseiten früherer Migranten gegeben, was in dem immer noch katholischen Polen beunruhigt registriert wurde. Dänemark hat gesehen, wie ein reissender Strom muslimischer Einwanderer das benachbarte Schweden (wo die Zahl der Vergewaltigungen in den letzten Jahren um 1‘400 Prozent zugenommen hat) und auch Norwegen völlig verändert hat.

Für die Europäische Union ist die Migrantenwelle eine weitere Gelegenheit, ihre Kontrolle über die Zukunft des Kontinents auszuweiten und Staaten zu zwingen, Migranten aufzunehmen, egal, ob sie dazu in der Lage sind oder nicht. Macht – nun im Gewand herausgeputzter Humanität – und die Auflösung der Nationen sind immer noch die Ziele der Union. Bertolt Brechts Gedicht „Die Lösung“ von 1953 enthält die folgenden Verse (die offenbar eher als Rat denn als Warnung aufgefasst wurden):

[…] auf denen zu lesen war, dass das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?“

Deutschland und Österreich eröffnet sich durch die Migrationswelle eine andere Möglichkeit. Auf der einen Seite birgt sie zumindest in der Theorie das Potenzial, den drohenden Arbeitskräftemangel zu vermeiden, der das Fundament des Sozialstaats untergraben könnte. Laut einer Schätzung werden in Deutschland bis 2020 gut 2,4 Millionen Arbeitskräfte fehlen. Die Migrationskrise käme von daher zu einem seltsam günstigen Zeitpunkt.

Auf einer abstrakteren Ebene bietet die Krise den Europäern aber auch in vielerlei Hinsicht eine Lösung der jüdischen Frage. Indem Deutschland und Österreich (und andere „gute“ Europäer) dem Tsunami von „Flüchtlingen“ Unterschlupf bieten, können sie endlich Busse tun für die verbleibende Restschuld wegen des Holocaust. Da, wie uns immer gesagt wird, Muslime die Hauptopfer unserer Zeit sind (selbst wenn sie durch die Hände anderer Muslime zu Opfern werden), können gute Europäer nun zeigen, dass sie „die Lehre aus dem Holocaust gezogen haben“.

Den Holocaust zu universalisieren und ihn von den unbequemen Tatsachen der Geschichte zu säubern bietet die Chance, ihn ein für alle Mal zu entjuden und von der Sorge um lebendige Juden zu trennen. Es muss einer bestimmten Art von kollektivem Bewusstsein grosse Erleichterung verschaffen, Juden durch Syrer und Muslime als Objekte der Sorge zu ersetzen. Und dass Deutsche und Österreicher, indem sie Willkommenstransparente hochhalten, ganz entgegen ihrer Art handeln, ist wohl in sich selbst schon Belohnung genug.

Doch die Migration wird auch sicherstellen, dass die jüdische Frage in Europa auf eine praktischere, wenn auch sanguine Weise gelöst wird. Eine ganz und gar vorhersehbare Folge wird neben der Erosion der Nationalstaaten der Import von noch mehr Dschihadisten und deren Sympathisanten sein, denen die Juden und Europas liberale Gesellschaft insgesamt zum Opfer fallen werden.

Die Massaker in den Büros von „Charlie Hebdo” und im Hyper-Casher-Supermarkt waren das Produkt winziger muslimischer Zellen in Europa, die im syrischen Bürgerkrieg trainiert worden waren. Jetzt aber werden Kämpfer in riesiger Zahl nach Europa gebracht und verstärken dort den bestehenden islamischen Antisemitismus. Juden werden unter den ersten und am leichtesten auszumachenden Opfern sein. Die Statistiken über Hassverbrechen überall in Europa zeigen die immer heftigeren Angriffe so deutlich, dass selbst amerikanische Mainstreammedien nicht umhin konnten, diese zu bemerken und nun ernsthaft darüber nachzusinnen, ob das Ende der jüdischen Gemeinden in Europa gekommen ist. Selbstverständlich ist es das. Ein Zyniker könnte gar fragen, ob dahinter nicht ein unbewusster Plan steckt: die gar nicht so subtile Entscheidung, eine Minderheit durch eine andere zu ersetzen – unter zufällig „humanitären“ Umständen.

Ein längerfristiges, aber ebenso vorhersehbares Resultat wird die Beschleunigung des Niedergangs der liberalen Demokratie in Europa sein, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen. Denn die Krise wird auf lokaler Ebene zu Reaktionen führen. Schon heute gibt es im Zuge des islamischen Terrorismus überall in Europa Sicherheitsstaaten mit engmaschiger Überwachung und einer militarisierten Polizei. Da sie schon jetzt der Lage nicht Herr werden, werden sie notwendigerweise weiter expandieren.

Überall wachsen rechte Parteien und Bewegungen, von Marine Le Pens immer noch nicht hoffähigem Front National in Frankreich über Ungarns autokratische Fidesz-Partei bis hin zu der rassistisch-nationalistischen und antisemitischen Jobbik-Partei. Eine Politik des rechten Flügels, die zum Teil auf der Verteidigung des lokalen christlichen Erbes gründet, wird wahrscheinlich in Osteuropa erstarken, sich in Skandinavien festsetzen und in Frankreich gute Aussicht auf Erfolg haben. Auch offener Faschismus wird gestärkt werden.

Noch interessanter sind die linken Parteien, allen voran Grossbritanniens Labourpartei, ein Musterbeispiel für die “rot-grüne Allianz” aus Sozialisten, Kommunisten und Islamisten, bei der jede Seite die andere als nützliche Idioten ansieht. Auch diese Parteien sind überall in Europa im Aufwind. Die meisten von ihnen unterstützen Zuwanderung, in der sie auch ein Mittel erblicken, mithilfe einer weiteren Welle von Abhängigen und zukünftigen Wählern die verhassten nationalen Kulturen weiter zu zersetzen.

Wie lange auch immer der Karneval der europäischen Demokratie weitergehen mag, irgendwann werden die oben genannten Parteien in Regierungskoalitionen eingebunden werden und wird man sich bei den Migranten als neuen Wählern lieb Kind machen wollen. Beides wird Einfluss auf die Politik haben. Und während dies geschieht, geht die Expansion der antidemokratischen Europäischen Union ungebrochen weiter. Bar jeglicher Kontrolle und ohne gegenüber irgendeiner Wählerschaft zur Rechenschaft verpflichtet zu sein, wird sie den Kontinent nach Herzenslust neu sortieren, in „gutes Europa“ und „böses Europa“.

Zur Freude vieler Europäer und Muslime wird eine solche „demokratische“ Transformation am Ende den jüdischen Staat zum Nazistaat erklären und dazu die jüdische Frage lösen. Die Feindschaft gegenüber Israel, die schon jetzt kaum gezügelt wird, wird noch weiter in den Vordergrund drängen und sich zuallererst gegen Europas Juden richten. Wenn sich das derzeitige Muster fortsetzt, wird die Auswanderung von Juden sich weiter beschleunigen. Auch dies löst Europas jüdische Frage.

Nach dem Massaker in Paris von 2015 sagte der französische Ministerpräsident Manuel Valls: „Es gibt kein Europa ohne Juden.“ Diese Hypothese wird eher früher als später einem Test unterzogen werden.

 

Alex Joffe ist Historiker und Archäologe. Er ist ein Shillman-Ginsburg Fellow des Middle East Forum.

Originalversion: Europe, Migrants, and the Jewish Question, 9. September, Times of Israel Blog

Übersetzung: Stefan Frank