Eindrücke von einem Israel, in dem sich der Kreis schliesst

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Tausende Menschen protestierten in Tel Aviv gegen die Justizreform am 4. März 2023. Foto IMAGO / ZUMA Wire
Tausende Menschen protestierten in Tel Aviv gegen die Justizreform am 4. März 2023. Foto IMAGO / ZUMA Wire
Lesezeit: 5 Minuten

“Das hätte mit Mord enden können”, sagte Sara Netanjahu letzte Woche, nachdem sie mehrere Stunden lang in ihrem Tel Aviver Friseursalon von linken Demonstranten belagert worden war. Die Frau von Premierminister Benjamin Netanjahu, die für ihre Marie-Antoinette-Haltung in Bezug auf die Hilfe und – wie manche meinen – das Land berüchtigt ist, war zweifellos und zu Recht verängstigt, obwohl es unwahrscheinlich scheint, dass der Mob sie tatsächlich getötet hätte.

von Benjamin Kerstein

Dennoch erschien mir ihre Bemerkung als schmerzhafte Ironie, denn etwas Ähnliches wurde gesagt, als Israel das letzte Mal von vergleichbaren Unruhen erschüttert wurde.

Vor dreissig Jahren war es die politische Rechte, die die Strassen zum Kochen brachte und zu Hunderttausenden gegen die Osloer Abkommen und die Friedensverhandlungen von Premierminister Yitzhak Rabin mit der PLO und Yassir Arafat demonstrierte. Die Hetze gegen Rabin war überwältigend, er wurde als Verräter und Mörder gebrandmarkt, und laut Ehud Baraks Autobiografie schlug der damalige Wohnungsbauminister Binyamin Ben-Eliezer einmal auf den Tisch des Kabinetts und brüllte: “Das wird mit einem Mord enden!”

Er hatte Recht. Es “endete” mit der Ermordung Rabins durch einen Rechtsextremisten.

Heute ist die Ironie dieses Vorgangs fast unerträglich. Der Attentäter von Rabin war ein Bewunderer von Baruch Goldstein, dem Kahanisten, der 1994 das Massaker in der Höhle der Patriarchen verübte. Jetzt ist ein Bewunderer (oder ehemaliger Bewunderer) von Goldstein, der Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir, an der Spitze der Macht.

Die Massen auf der Strasse sind jetzt keine rechten Demonstranten mehr, wie es Ben-Gvir selbst einmal war, sondern die biedere bürgerliche Linke, die in den letzten 20 Jahren weitgehend geschlafen hat – mit der einzigen Ausnahme der Proteste für soziale Gerechtigkeit 2011, welche offiziell unpolitisch waren.

Und es ist die Frau des erfolgreichsten rechtskonservativen Politikers in der Geschichte Israels, die auf den Tisch hämmert und erklärt, dass alles mit einem Mord enden könnte.

All dies erweckt den Eindruck, dass sich in Israel der Kreis geschlossen hat.

Die Geschichte ist von Ironie geprägt, und so ist jetzt die Rechte – und nicht die linke Arbeiterpartei – das Establishment und die eigentliche Regierungspartei, nachdem sie Israel in den letzten drei Jahrzehnten fast durchgehend regiert hat.

In Rabins Regierung waren die extremistischen Parteien, die auf einen radikalen Wandel in der israelischen Gesellschaft drängten, Post-Zionisten wie Meretz. Heute ist es die religiöse Rechte in Gestalt von Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich.

All dies ist zweifellos besorgniserregend. Das letzte Mal, als Israel so leidenschaftlich gespalten war und die Strassen von Empörten heimgesucht wurden, ist ein Ministerpräsident ermordet worden. Wir sollten beten, dass Sara Netanjahu sich irrt, aber nichtsdestotrotz ist der allgemeine Eindruck, dass Israels soziales Gefüge stark ausgefranst ist und zu zerreissen droht.

Kürzlich habe ich einen befreundeten Linken gefragt, was passieren würde, wenn die Justizreformen durchkommen. Er zuckte mit den Schultern und sagte: “Vielleicht spalten wir uns ab.

Mit anderen Worten: Das säkulare, gemässigte Mittelklasse-Israel, das Israel der Start-Up Nation und derjenigen, die sich hinter der grünen Grenze verschanzen, wird sich einfach von den umstrittenen Gebieten trennen und sie den national-religiösen Israelis überlassen, die sie besiedeln und annektieren wollen. So wird es einen säkular-demokratischen Staat Israel neben einer Art “Staat Judäa” geben, der nach dem Gesetz der Tora regiert wird.

Diese Vorstellung ist bemerkenswert, nicht so sehr, weil sie unrealistisch ist, sondern eher wegen der Gleichgültigkeit meines Freundes gegenüber einer solchen Möglichkeit. Sollen sie doch ihren eigenen Weg gehen, sagte er. Solange sie uns in Ruhe lassen, wen kümmert es?

Es ist also ein Punkt erreicht, wo eine Seite der israelischen Gesellschaft relativ zuversichtlich ist, sich von der anderen Seite abzuspalten, und die andere Seite sieht das vielleicht auch so. Es gibt jetzt zwei Arten von Israelis, und vielleicht können sie nicht miteinander leben, so dass eine einvernehmliche Scheidung einem möglichen Bürgerkrieg vorzuziehen ist.

Doch zumindest aus meiner Perspektive im berühmt-berüchtigten linken Tel Aviv – wo die Menschen eigentlich wütend sein sollten – hat Israel nicht das Gefühl, dass es am Rande eines solchen Bruchs steht. Auf der alltäglichen Ebene funktioniert das Land noch immer, die Menschen gehen noch immer ohne viel Groll miteinander um, und die tägliche Mühsal der Existenz geht weiter.

Wenn die politische Situation zur Sprache kommt, erntet man in der Regel einen langgezogenen jüdischen Seufzer und ein Abwinken: Am besten, man spricht nicht darüber. Es scheint, als ob die schweigende israelische Mehrheit einfach möchte, dass sich die beiden Seiten zusammensetzen, einen Kompromiss aushandeln und damit fertig werden, aber auch weiss, dass dies höchst unwahrscheinlich ist.

Man muss also mit der Ironie leben. Das letzte Mal, als dies geschah, hatte es schreckliche Folgen, aber die israelische Gesellschaft hat die Prüfung bestanden und überlebt. Heute geschieht etwas Ähnliches, mit umgekehrten Rollen, und es könnte durchaus zu schrecklichen Dingen führen, aber die israelische Gesellschaft hält offenbar erneut der Prüfung stand.

Vielleicht, wenn wir Glück haben, endet dies nicht mit einem Mord, sondern mit einer Rückkehr zu einer gewissen Vernunft. Die Linke und die Rechte könnten einen gemeinsamen Kompromiss zur Justizreform akzeptieren. Netanjahu, der aufgrund des innenpolitischen Chaos und seiner abtrünnigen Koalitionspartner nicht regierungsfähig ist, könnte zurücktreten und einen neuen Likud-Führer einsetzen, der in der Lage ist, mit der Opposition zusammenzuarbeiten. Die Protestbewegung könnte einfach verpuffen, erschöpft von ihrer eigenen Empörung.

Es gibt viele Möglichkeiten, dass sich der Kreis in Israel schliesst, aber beten wir, dass es dieses Mal nicht anders ausgeht.

Benjamin Kerstein ist Schriftsteller und Redakteur und lebt in Tel Aviv. Übersetzung Audiatur-Online.

2 Kommentare

  1. Es gab doch schon Mal zwei historische israelische Reiche. Letztlich ist es wirklich schwierig, die Ultras einzugliedern. Sollen sie doch in Samaria leben, es gibt einen Gebietstausch und die arabischen Gruppen bekommen Gaza.

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