Warum die Türkei nicht in Syrien interveniert

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Recep Tayyip Erdogan

Dass Ministerpräsident Erdogan die Einrichtung von humanitären Hilfskorridoren forderte, um den Zivilisten dort zu helfen, war die bisher mutigste Reaktion der Türkei auf die Krise in Syrien. Doch wer hoffte, Ankaras aggressiver Rhetorik würden bald schon ebensolche Taten folgen, wird bitter enttäuscht sein. Wenn es in diesen Tagen eine politische Priorität in der Türkei gibt, dann die Aufrechterhaltung ihrer „weichen Macht“ und ihrer Popularität im Nahen Osten. Jede Art militärischer Intervention unter Beteiligung türkischer Bodentruppen auf syrischem Boden würde beides unmittelbar untergraben.

Eine aktuelle Umfrage von TESEV, einer in Istanbul ansässigen Denkfabrik, die untersucht, wie die Türkei von den Menschen im Nahen Osten wahrgenommen wird, fasst Ankaras Dilemma im Hinblick auf Syrien zusammen. Der Umfrage zufolge ist die Türkei das beliebteste Land im Nahen Osten: Stolze 78 Prozent der Menschen in der Region sagen, dass die Türkei ihnen besser gefällt als jedes andere Land. Der Iran, Ankaras einziger politischer und militärischer Konkurrent in der Region, kommt auf 45 Prozent, während die USA nur 33 Prozent erhalten.

Was erklärt den Anstieg von Ankaras Beliebtheit? Sie hat ihren Grund in der  erfolgreichen Projektion der weichen Macht der Türkei im gesamten Nahen Osten während der letzten zehn Jahre. Türkische Produkte, die die Regale der Geschäfte in der gesamten Region beherrschen, haben der Türkei auf eine Weise Einfluss beschert wie der weltweite Respekt, den japanische Autos in den 1970er- und 1980er-Jahren Japan einbrachten. Und türkische Seifenopern, die emanzipierte Frauen auf der Folie einer modernen und funktionierenden Gesellschaft darstellen, finden bei der Bevölkerung der Region ebenfalls Anklang; sie präsentieren ein ansprechendes soziales Modell, das in Reichweite liegt. „Die meisten Menschen im Nahen Osten glauben, dass die Erfolge der Türkei auch andernorts zu realisieren sind“, hat mir ein arabischer Freund zu verstehen gegeben. „Die Türkei war einst wie wir, und deshalb gefällt sie uns, weil sie uns einen Weg nach vorne anzeigt.“

Die neugewonnene Popularität der Türkei im gesamten Nahen Osten ist ihr grösstes aussenpolitisches Kapital; für Aussenminister Ahmet Davutoglu ist sie der Schlüssel zur Wiederherstellung der regionalen Machtstellung des Landes. Doch man stelle sich vor, was eine türkische Besetzung Syriens mit der türkischen Beliebtheit in der arabischen Welt machen würde. Eine türkische Intervention, selbst wenn an ihrem Ende die Beseitigung Assads stünde, würde die Türken in den Augen des syrischen Volkes zu Besatzern machen; in diese Falle sind die USA im Irak gelaufen. Und: eine türkische Militäraktion in Syrien würde die Erinnerung an die osmanisch-türkische Hegemonie im Nahen Osten wecken und Widerstand hervorrufen. Es gibt für die Türkei nun einmal keinen einfachen Weg, Assad durch militärische Macht vertreiben, wenn sie hofft, in der Region weiter beliebt zu sein.

Ankara war in der Lage, dieses Problem in Libyen zu vermeiden, indem es starke politische Unterstützung für den Wandel bot, während es eine begrenzte militärische Rolle bewahrte. Die Türkei sprach sich öffentlich gegen Gaddafi aus und hat eine nicht öffentlich gemachte Unterstützung im Hintergrund zugesagt, aber sie lehnte es ab, bei der NATO-Operation eine wahrnehmbare Rolle einzunehmen. In der Tat hat diese zweigleisige Politik zur türkischen Popularität nur beigetragen: Laut TESEV-Umfrage hält man die Türkei „für das Land, das [im Arabischen Frühling] die positivste Rolle spielte“. 77 Prozent der Menschen in der Region sagen, dass ihnen gefällt, was Ankara bisher unternommen hat. In Libyen liegt sind es 93 Prozent.

Doch eine militärische Intervention in Syrien würde wohl nicht mit den gleichen Vorteilen einhergehen. Tatsächlich hat sich die günstige Position der Türkei seit dem Beginn des Aufstandes in Syrien bereits auf Talfahrt begeben. Im Jahr 2010 war es eine Rekordmarke von 93 Prozent der Syrer, die die Türkei mochten, 2011 fiel diese Zahl auf 44 Prozent; denn die Syrer, die dem Aufstand misstrauisch gegenüberstehen, lehnen ab, was sie für Einmischung der Türkei halten. Dies trifft für die syrischen Alewiten zu, die rund 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen und Ankaras Unterstützung der Rebellion zutiefst ablehnen. (Während meines jüngsten Besuchs in Antakya, einer türkischen Stadt an der Grenze zu Syrien, erlebte ich dies ganz unmittelbar: ich traf auf eine Pro-Assad-Demonstration, an der türkisch-arabische Alewiten teilnahmen, deren Slogans gegen Ankara gerichtet waren und Assad zustimmten.) Weniger extrem, aber genauso orientiert reagieren Christen, Drusen und Familien der syrischen Oberschicht, die noch nicht davon überzeugt sind, dass der Aufstand erfolgreich sein wird und aus diesem Grund eine Intervention Ankaras nicht begrüssen. Ausserdem erfährt die Türkei Widerstand von den Kurden in Syrien, die nicht mit der Kurdenpolitik der Türkei einverstanden sind und eine türkische Intervention wohl ablehnen würden, auch wenn sie sie vom Joch Assads befreite.

Mit jeder militärischen Intervention würde die Türkei riskieren, ihren bereits schwachen Einfluss auf die Zuneigung der Syrer zu verringern. Aus türkischer Perspektive sähe die ideale Syrienpolitik aus wie ihre Strategie in Libyen: Ankara spricht sich öffentlich gegen Assad aus und sammelt internationale Unterstützung für politische Massnahmen gegen ihn, versucht aber im Hintergrund zu bleiben, wenn es um militärische Aktionen geht. Man könnt es „Führung aus dem Hintergrund“ nennen.

Soner Cagaptay ist Leiter des Turkish Research Program am Washington Institute.

Originalversion: Why Turkey Hasn’t Intervened in Syria by Soner Cagaptay © The Washington Institute for Near East Policy, March 13, 2012. All rights reserved.