Es gibt Biografien, die eigentlich in mehrere Leben passen. Die Biografie des jüdischen Anwalts Willy Perl ist so eine. Der österreichische Historiker Robert Lackner berichtet in seinem Buch von den Heldentaten dieses Wiener «Rabauken», der oft nur durch blosses Glück dem Tod entkam. Perl brachte mit Schiffen Tausende Juden vor den Nazis in Sicherheit.
Willy Perl, 1906 in Prag geboren, vertraute in seinen jungen Jahren offenbar häufig mehr dem Glück als dem Verstand. Angst jedenfalls schien der junge Anwalt aus Wien keine zu haben. Dafür umso mehr Chuzpe. Selbst Jude, unterbreitete Perl den Nazis einen Vorschlag, das neu eroberte Österreich «judenrein» zu machen. Die sprangen darauf an. Und so organisierte Perl von 1937 bis 1940 Schiffsüberquerungen von Europa nach Palästina. Und bewahrte so Tausende Juden vor dem sicheren Tod.
Der Historiker Robert Lackner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung in Graz, hat in seinem Buch «Wie ein junger Anwalt Tausende Juden rettete: Die abenteuerliche Geschichte des Willy Perl» dem bis dato eher wenig bekannten Retter ein kleines Denkmal gesetzt.
Wer das Buch liest, kann sich gut eine Verfilmung der Lebensgeschichte Willy Perls vorstellen. Nicht weil Lackner besonders reisserisch schreibt – im Gegenteil bleibt der Historiker grösstenteils sachlich und distanziert, manchmal vielleicht sogar zu distanziert. Sondern weil dieser aufmüpfige und smarte Anwalt keine Scheu hat und den Nazis immer wieder schlicht die Wahrheit sagt: dass er Juden ins Ausland bringen möchte. Und zwar möglichst viele.

«Ein Rabauke, für den Disziplin ein Fremdwort war»
Sein Unternehmen – «die Aktion» genannt – brachte in jenen drei Jahren schätzungsweise 40.000 Juden aus Zentral- und Osteuropa mithilfe griechischer Schmuggler über die «umgedrehte» Balkanroute ins damals britische Mandatsgebiet Palästina. Sein Buch sei nicht als vollständige Biografie zu verstehen, betont Lackner, es konzentriere sich auf diese drei Jahre. Die sind dafür aber um so detaillierter beschrieben. Vielleicht manchmal sogar etwas zu detailliert.
Perls Vater war Inhaber einer der grössten Grosshandelstextilfirmen Österreichs, der Sohn wuchs daher in einer wohlhabenden Familie auf. Der Vater verspekulierte sich jedoch und verlor all sein Vermögen. «Möglicherweise waren diese Verwerfungen im Leben des jungen Perl einer der Gründe, warum er ein Rabauke, und Disziplin ein Fremdwort für ihn war», schreibt Lackner. Perls ungezügeltes Verhalten sorgte dafür, dass er fast vom Gymnasium und später auch von der Universität flog. Seinem Griechischlehrer warf er auf eine Frage ein «Leck mich am Arsch» an den Kopf; im Vorfeld eines Aufmarschs deutschnationaler Burschenschafter trat Perl deren Anführer allein gegenüber und ohrfeigte ihn. Doch wie schon hier entkam Perl auch später immer wieder durch Glück schlimmeren Konsequenzen.
Perl studierte an der Universität Wien Rechtswissenschaften und trat in die jüdischen Verbindungen «Emunah» und «Ivria» ein. «Die Ivria war nicht nur Ort studentischer Umtriebe, sie war auch eine Selbstschutzorganisation», klärt Lackner auf. «Denn regelmässig kam es zu Übergriffen auf jüdische Studenten.» Perl, mittlerweile als Anwalt tätig, lernte den russischen Journalisten Wladimir Zeev Jabotinsky kennen, Begründer des radikalen «revisionistischen» Zionismus.
Die Briten beschränkten ab 1939 die Immigration von Juden nach Israel auf maximal 75.000 in den kommenden fünf Jahren. Auch der Zweite Weltkrieg und der Holocaust sollten an dieser Politik nichts ändern. Tausenden Juden blieb daher nur die heimliche Einreise nach Palästina, um Verfolgung und Tod zu entkommen. Perl begann, Schiffe zu organisieren, die Dutzende, manchmal Hunderte Juden ins Gelobte Land brachten. Der Deckname der Aktion: «Af-Al-Pi» («trotz allem»).
Adolf Eichmann trifft auf Chuzpe
Perls Kanzlei wurde in kurzer Zeit zum Zentrum der illegalen Einwanderung nach Palästina, immer wieder bildeten sich gefährliche, weil verdächtige Menschentrauben vor seinem Haus. Im April 1938 heiratetet er Lore, die vom Katholizismus zum Judentum konvertierte. Wenige Tage, nachdem die deutsche Wehrmacht in Österreich einmarschiert war, verhörte der damals noch wenig bekannte SS-Offizier Adolf Eichmann Perl. Der machte dem «Stellvertreter des Teufels», wie er später genannt wurde, ein fast unglaubliches Angebot. Er könne helfen, Wien «judenrein» zu machen, wie es der «Führer» wolle. Eichmann lehnte jedoch ab. «Wir brauchen keine Verbrecherzentrale in Palästina», sagte der SS-Mann, der vom späteren Staat Israel 1962 für seine Verbrechen hingerichtet wurde. «Die Juden werden atomisiert», fügte er hinzu.
Fast noch mehr Chuzpe bewies Perl, als er es schaffte, für seine «Aktion» Geld der Nazis umzutauschen. Die griechischen Schmuggler akzeptierten keine Reichsmark, nur britische Pfund. Bei einer «hollywoodreifen Scharade» (Lackner) spazierten Perl und sein Begleiter unter einem Vorwand ins Ministerium und klopften auf gut Glück an eine beliebige Tür. Tatsächlich wurde ihr Anliegen angehört. Die nationalsozialistischen Beamten gingen wie selbstverständlich davon aus, dass die beiden Männer in offizieller Mission in Abstimmung mit den NS-Behörden unterwegs waren. Die «Aktion» durfte 480.000 Reichsmark in 24.000 britische Pfund wechseln lassen. Damit konnten die Ausreisen von 2.000 weitere Personen finanziert werden.
Immer wieder wurde Perl festgenommen, immer wieder entkam er. Die Flüchtlinge selbst erlebten unendliche Strapazen. Die an Bord herrschenden hygienischen Bedingungen boten den idealen Nährboden für Krankheiten, es gab auch Todesfälle. Die Seeleute forderten immer wieder mehr Geld von ihnen und entwendeten zuweilen sogar ihre wenigen Habseligkeiten. In Palästina angekommen, mussten die Flüchtlinge bis zum Land schwimmen, meistens nachts. Ständig bestand die Gefahr, von einem britischen Patrouillenboot abgefangen zu werden. Perl war gezwungen, harte und unbarmherzige Entscheidungen treffen, denn nur junge und gesunde Menschen sollten die Reise antreten dürfen. Jedes Nein war für beinahe gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Einen Jungen konnte Perl nicht mitnehmen, weil er zu jung war und es niemanden gab, der sich auf der Reise um ihn gekümmert hätte.
Perls Vision war es, einen grossen Überseedampfer zu kaufen und ihn mit 10.000 Menschen an Bord vor Tel Aviv stranden zu lassen. Am nächsten kam dem die «Parita», die mit einer Fahrt fast 1.000 Personen nach Palästina bringen konnte. Die «Sakarya» war das grösste und zugleich letzte Schiff, das Willy Perl für seine Rettungsüberfahrten charterte. Es transportierte im März 1940 über 2.200 Passagiere.
In der US-Armee und an der Universität
Perl selbst wurde von der griechischen Polizei festgenommen und in einen Zug nach Deutschland gesetzt. Auf keinen Fall wollte er lebend in deutsche Gefangenschaft geraten, daher schnitt sich Perl in der Zug-Toilette die Pulsadern auf. Die Polizisten bemerkten es, Perl wurde auf dem Land von einem Arzt behandelt. Von dort konnte Perl entkommen, über Portugal kam er nach Mosambik, wo er im US-Konsulat ein tschechoslowakisches Visum erhielt und 1941 in die Vereinigten Staaten ausreiste.
In einem eher knappen Epilog fasst Lackner das darauffolgende Leben Willy Perls zusammen, das wiederum allein genug Stoff für einen Film böte. Der 36-jährige Perl meldete sich 1942 freiwillig bei der US-Armee, um gegen die Nationalsozialisten zu kämpfen. Er wurde Spezialist für die Befragung von Kriegsgefangenen. Ab 1944 arbeitete Perl in einem Verhörzentrum in London. Ab Dezember 1944 erlebte er im belgischen Namur Deutschlands letzten grossangelegten Gegenangriff an der Westfront hautnah mit.

Nach dem Krieg fand Perl seine Frau Lore nach sieben Jahren der Trennung in Wien wieder. Sie hatte das Konzentrationslager Ravensbrück überlebt. Das Paar bekam zwei Söhne. Perl absolvierte ein Masterstudium in Psychologie an der renommierten Columbia University. 1951 kehrte er als klinischer Psychologe zu den Streitkräften zurück und bekleidete dort leitende Positionen. Danach lehrte er an der George Washington University.
Weil er als führendes Mitglied der «Jewish Defence League» Anfang der 1970er-Jahre gegen die Verfolgung von Juden in der UdssR protestiert hatte, nahm ihn das FBI fest und ein Bundegericht verurteilte ihn zu einer eine Geldstrafe und eine Bewährungszeit von drei Jahren. Vom Verfahren gezeichnet und finanziell angeschlagen, zog sich Perl ins Private zurück.
Erst spät wurde Perls Rettung so vieler Juden geehrt. 1984 erhielt er einen Orden des Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles, 1986 wurde er zu seinem 80. Geburtstag vom US-Senat geehrt, ein Jahr später auch von Präsident Ronald Reagan. Im Jahr 1990 wurde ihm das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien verliehen. Im selben Jahr wurde er gebeten, in Tel Aviv eine Ansprache beim fünfzigjährigen Jubiläum des Flüchtlingstransports zu halten. Perl starb am 1. Dezember 1998 in Beltsville im US-Bundestaat Maryland im Alter von 92 Jahren.
Lackners Buch ist nicht nur spannender Lebensbericht lesenswert, sondern auch weil es geschichtliche Hintergründe in Erinnerung ruft. So erklärte sich etwa bei der Konferenz von Évian im Juli 1938 von den vertretenen 32 Staaten nur ein Land bereit, jüdische Flüchtlinge in grosser Zahl aufzunehmen (die Dominikanische Republik). Manchmal ist Lackners Buch fast schon zu kleinteilig, minutiös erzählt er einzelne Schiffsreisen sowie die vielen auftretenden Probleme nach. Schön wäre es zudem gewesen, von späteren Prominenten in Israel zu erfahren, die womöglich unter seinen Geretteten waren. Insgesamt ist Lackners Buch ein wertvolles historisches Dokument zu einem bislang eher weniger bekannten jüdischen Helden.
Robert Lackner: «Wie ein junger Anwalt Tausende Juden rettete: Die abenteuerliche Geschichte des Willy Perl», September 2024, Kremayr & Scheriau Verlag, 304 Seiten, 27 Euro, ISBN: 978-3-218-01432-8