Rosch Haschana 5778 – Rückblick und Verbesserung

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Foto Len Radin / Flickr.com https://www.flickr.com/photos/drurydrama/21236098610 (CC BY-NC-SA 2.0)
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Diesen Donnerstag und Freitag ist Rosch Haschana, der Beginn des jüdischen Jahres. Die beiden Tage zeichnen sich primär durch ihre Ernsthaftigkeit aus. Rosch Haschana ist ein Fest des Rückblicks und der Vorsätze. Die beiden Tage sollen verwendet werden, auf das vergangene Jahr zurückzublicken und Bilanz zu ziehen, mit der Absicht und dem Ziel, das neue Jahr mit guten Vorsätzen zu beginnen.

Es ist vollkommen klar, dass die Bilanz des vergangenen Jahres nicht nur positiv ausfällt. Wir Menschen können nicht vermeiden, Fehler zu begehen. Es kann nicht ein ganzes Jahr vergehen, ohne dass wir etwas – besser gesagt: einiges – falsch machen.

In der religiösen Terminologie werden Fehler als „Sünden“ bezeichnet. Es ist also – religiös gesprochen – nicht möglich, ein ganzes Jahr ohne Sünden zu verbringen. Der Rückblick auf das vergangene Jahr führt deshalb jedem Menschen unweigerlich vor Augen, dass er ein Sünder ist. Es drängt sich folglich die Frage auf, wie die Religion damit umgeht, dass jeder Mensch ein Sünder ist. Wir wollen uns hier mit der Frage beschäftigen, wie das Judentum damit umgeht.

Der Midrasch ist ein integraler Teil der so genannten Mündlichen Tradition des Judentums. Die Mündliche Tradition hat zum Ziel, die Schriftliche Tradition – die Bibel – zu erklären und anwendbar zu machen. Der Midrasch verwendet gerne und recht häufig Allegorien, um seine Aussagen zu illustrieren und verständlich zu machen. Wir wollen uns hier eine Allegorie aus dem Midrasch anschauen, welche der Frage nachgeht, was die Strafe eines Sünders ist.

In diesem fiktiven und allegorisch zu verstehenden Midrasch wird zuerst der Weisheit die Frage gestellt, was die Strafe des Sünders sei. Sie antwortet mit einem Zitat aus den Sprüchen (Proverbia): „Das Schlechte wird die Sünden verfolgen.“ (13, 21) Damit will die Weisheit ausdrücken, dass die Strafe, die der Sünder zu erwarten hat, das Schlechte selbst ist. Er hat etwas falsch gemacht und hat dadurch Schlechtes bewirkt. Dieses von ihm selbst verursachte Schlechte wird ihn verfolgen. Das ist seine Strafe. Der Sünder muss damit leben, dass er Schlechtes verursacht hat.

Danach wird der Prophetie dieselbe Frage gestellt und sie antwortet mit einem Zitat aus Ezechiel, einem der Prophetenbücher der Bibel: „Die sündende Seele muss sterben.“ (18, 4) Für die Prophetie ist eine Sünde derart schwerwiegend, ist dem Ziel des menschlichen Lebens so entgegengesetzt, dass ein Mensch, der gesündigt hat, gar nicht verdient, weiterzuleben, und deshalb sterben muss.

Nach der Prophetie wird die Frage an die Thora gerichtet, wobei mit Thora hier der Text der Fünf Bücher Moses gemeint ist, der nach traditionell jüdischer Auffassung von Gott selbst verfasst und Moses diktiert worden ist. Die Thora antwortet, dass ein Sünder ein Opfer darzubringen habe und ihm dann vergeben werde. Das Opfer, welches ein Mensch auf Befehl der Thora darbringt, hat die Wirkung, dass dem Sünder vergeben wird, dass Gott ihm vergibt.

Schliesslich berichtet der Midrasch, dass G-tt höchstpersönlich gefragt wird, was die Strafe für einen Sünder sei. Nachdem bis anhin Antworten gegeben wurden, die sich auf den biblischen Text stützen, soll nun G-tt selbst zu Wort kommen.

G-tt antwortet, dass der Mensch „Tschuwa“ machen solle und ihm dann vergeben werde. Mit „Tschuwa“ ist gemeint, der Mensch solle zurückblicken und sich selbst überprüfen, solle dadurch seine Sünden erkennen und sie bekennen, soll sich daraufhin innerlich von den Sünden distanzieren und sich schliesslich vornehmen, sie in Zukunft nicht wieder zu begehen. Dann wird ihm vergeben.

Die Antwort G-ttes unterscheidet sich von allen anderen Antworten. Die Weisheit sieht die Strafe des Sünders darin, dass seine Sünde ihn für immer verfolgen wird. G-tt hingegen gibt dem Sünder die Möglichkeit zur Vergebung. Die Prophetie lässt den Sünder nicht weiterleben. G-tt hingegen gibt ihm die Chance weiterzuleben. Die Thora verlangt vom Sünder ein Opfer. G-tt hingegen lässt ihn auch ohne ein Opfer Vergebung erreichen.

Die von G-tt selbst gegebene Antwort ist die heute praktizierte und die für den Inhalt und ernsthaften Charakter des Rosch Haschana-Festes verantwortliche. Wenn wir Juden jetzt ein neues Jahr beginnen, so sollen wir Tschuwa tun. Wir sind aufgefordert, auf das vergangene Jahr zurückzublicken, Bilanz zu ziehen und Verantwortung zu übernehmen; unsere Sünden zu erkennen und zu bekennen; und vor allem, uns von den Sünden zu distanzieren, um uns verbessern zu können.

Tschuwa ist ein äusserst schwieriger, herausfordernder und anstrengender Prozess. Doch er verspricht uns, dass G-tt uns auch ohne Opfer vergeben wird; dass die Sünden des vergangenen Jahres uns nicht weiter verfolgen werden, und dass wir trotz unserer Sünden am Leben bleiben können.

Über Dr. David Bollag

Rabb. Dr. David Bollag ist Rabbiner in Efrat, einem Vorort von Jerusalem, und Lehrbeauftragter für Judaistik an den Universitäten Luzern und Zürich.

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