Syrien: Die Unwägbarkeiten einer Zeit nach Assad

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Bashir al-Assad

Am Ende der ganzen Diskussion über Diplomatie und ihre Grenzen und der robusten Debatte über militärische Aktionen in Syrien steht die Frage, wie ein Syrien nach Assad beschaffen sein wird. Wird Syrien am Ende so dastehen wie der Irak? Oder wie das Libanon der 1970er- und 1980er-Jahre? Beide Länder haben unter den konfessionellen und ethnischen Gegensätzen, die von Politikern für  eigene Interessen manipuliert wurden, stark gelitten. Könnte es sein, dass Syrien noch viel schlimmer zu leiden hätte? Das befürchten Kommentatoren für die Syrer in einer Welt ohne das Regime Assads. Nur wenige Beobachter sind mit einem Blick auf die tief gespaltene syrische Opposition ohne überzeugenden Anführer der Meinung, Syrien könne nach Assad zumindest kurzfristig ein besserer Ort werden. Dabei geht es vor allem geht um das sunnitisch-alawitische Blutvergiessen. Ich selbst bin zu der Meinung gelangt, internationale Massnahmen in Syrien sollten unterstützt werden; aber die grossen Unwägbarkeiten eines Syriens nach Assad mit seiner politischen, ethnischen und konfessionellen Dynamik geben mir zu denken.

Zwar ist die oft gehörte Überzeugung, Syrien würde automatisch in einen Konflikt der Volksgruppen stürzen, in ihren unterschiedlichen Ausprägungen vor allem die Kopfgeburt eines bestimmten westlichen Denkens über den Nahen Osten, das die vom autoritären Griff befreiten Araber einer Art von archaischem Blutrausch anheimfallen sieht. Aber vielleicht ist dieses Szenario ja falsch? Erinnern Sie sich daran, dass Syrien nach dem Tod Hafiz al-Assads die Anarchie vorausgesagt wurde? Obwohl jeder wusste, dass es zu einer Familiennachfolge kommen würde, wurde ein Blutvergiessen erwartet: dass nämlich die sunnitische Mehrheit einschliesslich der Muslimbruderschaft in einem Moment der Schwäche des Regimes an den Alawiten Rache üben würde. In Wahrheit verlief der Übergang von Hafiz zu Baschar dann verhältnismässig glatt. Es muss dabei fairerweise erwähnt werden, dass der Übergang von langer Hand geplant war und der ältere Assad dafür sorgte, dass seine loyale alte Garde die Dynastie absicherte. Aber ist es nicht trotzdem möglich, dass Beobachter mit einer Art über das Ziel hinausschiessendem ethnisch-konfessionellem Konflikt beschäftigt sind?

Kurz gesagt: weil es im Irak nach der Invasion der USA zu Kampfhandlungen kam und auf der Grundlage der nur zu bekannten Gewaltgeschichte unter den Volksgruppen des Libanon liegt es nahe, dass es in Syrien nach Assad genauso kommen wird. Das halte ich für eine Vermutung –  vielleicht für eine gute Intuition – aber eben nur eine Vermutung. Weil Syrien nicht Libyen ist, ist es auch nicht der Irak. Aus all dem, was ich über die Geschehnisse in Syrien gelesen habe, kann ich nichts schliessen, was mit Wahrscheinlichkeit auf einen ethnischen und konfessionellen Konflikt hinausläuft, und dennoch scheinen alle Analysen ihn als unabwendbar anzusehen. Es gibt die sozialwissenschaftlichen Werkzeuge der agentenbasierten Modelle, die uns etwas über die „Zukunft“ von Staaten sagen sollen; doch derzeit weiss doch niemand wirklich, was in Syrien geschehen wird.

Wenn das Schicksal für Syrien eine gewalttätige Zukunft in einer Zeit nach Assad vorsieht, warum sich dann die Mühe machen mit einer „Baschar muss weg“-Rhetorik und diplomatischen Manövern? Schliesslich war es Hafiz al-Assads wichtigstes Vermächtnis, Stabilität in ein Land zu bringen, das seit den 1940er-Jahren nichts als politische Intrigen, Putsche und Gegenputsche kannte. Und vor der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1941 hatte die französische Imperialpolitik Minderheiten auf Kosten der sunnitischen Kernbevölkerung ausdrücklich bevorzugt. Wenn das Land also einen starken Mann braucht, um es zusammenzuhalten und dadurch Massengewalt zu vermeiden, sollte das politische Ziel der internationalen Gemeinschaft dann nicht genau dies sein? Denn selbst wenn es entlang der Linien, die die Arabische Liga oder nun die Türkei lanciert haben, zu einer Art von verwaltetem Übergang kommt, würde diese Entwicklung den ethnischen und konfessionellen Trennlinien Syriens nichts entgegen setzen und damit auch nichts gegen den vorhergesagten Konflikt, der aus ihnen entspringen könnte.

Es geht hier nicht darum, internationale Intervention oder Untätigkeit zu rechtfertigen. Vielmehr sollen die Logik und die logischen Fehler in den Argumenten herausgearbeitet werden, die für oder gegen eine Intervention vorgebracht werden. Letztlich spielen sich die Risiken einer militärischen Aktion oder des fortgesetzten diplomatischen Drucks zum grössten Teil im Bereich der durchdachten Meinung ab. Bisher kann keine Seite der Debatte der anderen ihren Willen aufzuzwingen: das sagt etwas über die Qualität der Debatte aus. Das heisst aber, dass die beiden Fragen im Kern des Problems noch von niemandem effektiv beantwortet wurden: Wie viele Tote sind nötig, um in der Kosten-Nutzen-Analyse von „Intervention“ gegenüber „Nichtintervention“ den Schalter umzulegen? Wie verhalten sich die Risiken internationaler Massnahmen zu den angeblichen strategischen Vorteilen einer Beendigung des Assad-Regimes mit den dazugehörigen Unwägbarkeiten? Ich habe meine eigenen Vermutungen, aber ich weiss es nicht sicher.

 

Vom CFR.org. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung. Für weitere Analysen und Blogeinträge über den Nahen Osten und Aussenpolitik, besuchen Sie CFR.org.

Originalversion: Syria: The Post-Assad Unknowns by Steven A. Cook © Council on Foreign Relations. March 5, 2012. Deutsche Übersetzung © Audiatur-Online