Die Türkei und Napoleons Erbe

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Recep Tayyip Erdogan

Nach Jahren der Konkurrenz um den Nahen Osten und Nordafrika während des Kalten Krieges stehen zwei alte imperialistische Mächte im Wettbewerb um den politischen Einfluss über die arabischen Länder im Umbruch. Frankreich und die Türkei wetteifern um lukrative geschäftliche Beziehungen und die Möglichkeit, auf eine neue Generation von Führungskräften in den einst von ihnen kontrollierten Ländern einzuwirken.

Diese Rivalität ist nichts Neues. Seit Napoleon im Jahr 1798 in Ägypten einmarschierte, haben Frankreich und die Türkei um die Vorherrschaft im Nahen Osten gekämpft. Ihre Rivalität klang im 20.Jahrhundert ab; die Türkei wurde ein nach innen gekehrter Nationalstaat, und während Frankreich seine politische Kontrolle während der Ära der Entkolonialisierung verlor, behauptete es wirtschaftlichen und politischen Einfluss durch die Unterstützung grosser französischer Unternehmen, die lukrative Beziehungen mit den Herrschern der Region etablierten. Die dominante Stellung Frankreichs ändert sich allerdings gerade, und wenn die Türkei ihre Stärken richtig ausspielt, könnte sie Frankreich an Einfluss gleichkommen oder sogar zur vorherrschenden Macht in der Region werden.

In den letzten zehn Jahren hat die Türkei ein rekordverdächtiges Wirtschaftswachstum erfahren. Sie ist nicht länger ein armes Land, das verzweifelt den Beitritt zur Europäischen Union anstrebt. Während politische Unruhen Nordafrika, Syrien und den Irak lähmen und die Wirtschaftskrise grosse Teile des mediterranen Europas lahmlegt, sind die Türkei und Frankreich weitgehend verschont geblieben.

Zusammen mit den Bemühungen Frankreichs, eine Europa-Mittelmeer-Union zu schaffen, die Nicolas Sarkozy im Jahr 2008 als Weg konzipierte, der Frankreich an die Spitze des Mittelmeerraums setzen sollte, hat dies den Türken eines klar gemacht: Paris wird die Türkei nicht in der Europäischen Union haben oder zulassen wollen, dass sie zu einem mächtigen Akteur in einer französisch geführten Mittelmeerregion wird.

Die neuerdings aktivistische Aussenpolitik der Türkei hat sich deshalb von Europa weg verlagert und pflegt stattdessen nun Beziehungen mit ehemals osmanischen Ländern, die lange ignoriert wurden. Von den 33 im vergangenen Jahrzehnt eröffneten neuen diplomatischen Vertretungen der Türkei befinden sich 18 in muslimischen und afrikanischen Ländern.

Dies führte zu neuen geschäftlichen und politischen Verbindungen, oft auf Kosten der türkischen Beziehungen zu Europa. Im Jahr 1999 entfielen über 56 Prozent des türkischen Aussenhandels auf die EU; 2011 waren es nur noch 41 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil islamischer Länder am türkischen Handel von zwölf auf 20 Prozent.

Neue Handelsstrukturen haben zur Entstehung einer sozial eher konservativen ökonomischen Elite geführt, die ihre Stärke aus dem Handel jenseits von Europa bezieht und ihren neuen Wohlstand dazu nutzt, die traditionellen Herangehensweise der Türkei an den Säkularismus neu zu definieren. Seit ihrem Sieg im Jahr 2002 fördert die herrschende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) eine sanftere Form des Säkularismus, die mehr religiöse Ausdrucksformen in der Regierung, Politik und Bildung zulässt; das ist ein für arabische Länder attraktives Modell.

Beide Länder pflegten einst einen Schmusekurs mit Diktatoren; doch die Türkei unterstützte frühzeitig die arabischen Aufstände, so gewann sie Fans in der ganzen Region. Frankreich hatte auf das dauerhafte Wesen der Diktaturen gesetzt und niemals Bündnisse mit den demokratischen Kräften geschmiedet, die sich ihnen entgegensetzten, bis es dann im vergangenen Jahr die libyschen Rebellen unterstützte. Indem die Türkei eine sanfte Macht auf arabische Länder erweiterte, geschäftliche Netzwerke aufbaute und hochmoderne weiterführende Schulen gründete, um die zukünftige arabische Elite auszubilden, baute sie ihre Unterstützung auf. Nun bietet der Arabische Frühling der Türkei eine einmalige Gelegenheit, ihren Einfluss zu erweitern.

Frankreichs Einfluss schwindet, da seine Geschäftsverbindungen sich mit der alten säkularen Elite auflösen. Doch es bleibt eine militärische und kulturelle Macht und wird weiterhin arabische Eliten – darunter auch islamistische –, auf der Suche nach Waffen und Luxusgütern anziehen. Allerdings wird es Frankreich schwerfallen, seine Art des Säkularismus in der Region zu vermitteln oder mit den wirtschaftlichen Graswurzel-Netzwerken der Türkei, die bereits erheblichen Einfluss gewonnen haben, gleichzuziehen.

Dennoch wird der Weg für die Türkei steinig sein. Sie herrschte bis zum Ersten Weltkrieg über den arabischen Nahen Osten, und sie muss jetzt vorsichtig sein, wie ihre Botschaften dort wahrgenommen werden. Die Araber mögen sich zu ihren Glaubensbrüdern hingezogen fühlen, aber sie drängen auf Demokratie. Wenn die Türkei sich wie eine neue Imperialmacht verhält, wird der Schuss nach hinten losgehen.

Auch wenn die Türkei die Oberhand haben mag, wenn es um „weiche“ Macht geht, so hat Frankreich mehr „harte“ Macht, wie der jüngste Krieg in Libyen und seine Stellung als Vetomacht bei der UN zeigen. Und trotz des phänomenalen Wachstums der Türkei seit 2002 ist die französische Wirtschaft immer noch mehr als doppelt so gross wie die türkische und Frankreich noch dominant in Nordafrika.

Die relative Stabilität der Türkei zu einer Zeit, in der sich die Region im Umbruch befindet, zieht Investoren aus weniger stabilen Nachbarländern wie dem Iran und Irak, Syrien und dem Libanon an. Letztendlich sind politische Stabilität und regionale Bedeutung bare Münze für die Türkei, und ihr Wirtschaftswachstum wird von beiden abhängig sein.

Wenn die Türkei zum Leuchtfeuer der Demokratie im Nahen Osten werden will, muss ihre neue Verfassung umfassendere Individualrechte für die Bürger des Landes, einschliesslich der Kurden, vorsehen. Sie wird auch Aussenminister Ahmet Davutoglus‘ Vision einer „No problem“–Aussenpolitik erfüllen müssen, was bedeutet, über den Ship-to-Gaza-Zwischenfall des Jahres 2010 hinauszukommen, wieder starke Beziehungen mit Israel aufzubauen und mit den griechischen Zyprioten auszukommen.

Die jüngste Entdeckung von Erdgasvorkommen vor der Südküste Zyperns ist dabei eine grosse Chance. Die Türkei könnte die Wiedervereinigung der Insel im Austausch für ein Abkommen über die Aufteilung der Gaseinnahmen vorschlagen. Eine solche Vereinbarung, verbunden mit verbesserten türkisch-israelischen Beziehungen, könnte die Gewinnung noch grösserer Gasvorkommen vor Israels Küste erleichtern; die Türkei ist der logische Bestimmungsort für eine Pipeline von dort zu den ausländischen Märkten.

Die Türkei wird nur dann als Regionalmacht aufsteigen, wenn sie ein echtes Beispiel als liberale Demokratie setzt und starke Beziehungen zu all ihren Nachbarn aufbaut. Dies ist Erdogans Herausforderung, wenn er versucht, das Erbe Napoleons loszuwerden.

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Soner Cagaptay ist Leiter des Turkish Research Program am Washington Institute.

Dieser Artikel erschien am 14. Januar 2012 in der New York Times.

Gekürzte Übersetzung der Originalversion: The Empires Strike Back by Soner Cagaptay © The Washington Institute for Near East Policy, January 14, 2012. All rights reserved.