Die Niederlande sollten sich bei der jüdische Gemeinde entschuldigen

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Dr. Els Borst-Eilers

„Wenn ich Ministerpräsidentin gewesen wäre, hätte ich der jüdischen Gemeinde in den Niederlanden ohne Zögern eine Entschuldigung angeboten. Und zwar für beides, das Verhalten unserer Regierung während des Zweiten Weltkrieges wie auch die sehr späte Erkenntnis nach dem Krieg, dass der Restitutionsprozess sehr unausgereift war.“

Dr. Els Borst-Eilers war von 1994 bis 2002 Ministerin für Gesundheit und Sport und vier Jahre lang auch Vize-Ministerpräsidentin der Niederlande. Über ihren eigenen Hintergrund sagt sie: „Ich war acht Jahre alt, als die Deutschen in unser Land einfielen, und 13, als sie rausgeworfen wurden. Während des Krieges wohnten wir im Amsterdamer Stadtteil Rivieren, wo damals viele Juden lebten. Unsere Nachbarn in der unteren Etage waren Juden, und es wohnten auch Juden ein paar Häuser von uns entfernt. Wir sahen, wie sie zusammengetrieben und weggebracht wurden. Das ist mit rief im Gedächtnis geblieben.“

„Heute wissen wir, dass die Verfolgung der niederländischen Juden Königin Wilhelmina in ihrem Londoner Exil kaum gekümmert hat. Sie redete dauernd von den Helden des Widerstandes und dachte offenbar, die ganzen Niederlande befänden sich im Widerstand. Sie sprach in dieser Art von ‘Ihr alle, die ihr so heldenhaft gekämpft habt’ – das war weit entfernt von der Wahrheit.“

„Die schwache niederländische Exilregierung in London hätte nicht alles der Königin überlassen sollen. Ministerpräsident Pieter Gerbrandy hätte die Bevölkerung durch das Radio ansprechen sollen, um deutlich zu machen: ‘Wir erwarten von euch, dass ihre eure jüdischen Mitbürger vor der Deportation beschützt. Versucht, sie in eure Heime aufzunehmen, helft ihnen bei der Flucht, unternehmt, was ihr könnt. Tut etwas für unsere Mitbürger!’“

„Wenn alle Katholiken und Reformierten deportiert worden wären, dann hätte die niederländische Regierung in London der Bevölkerung im besetzten Holland angewiesen zu helfen, glaube ich. Die Einstellung der Regierung zeigt, dass die Regierungsmitglieder, wie viele andere, die jüdischen Niederländer für eine besondere Gruppe hielten – eben nicht für ‘echte Niederländer’.

„Vor dem Krieg waren viele Niederländer der Ansicht, dass man die 140.000 Juden in den Niederlanden gut beobachten sollte, weil sie eine Gefahr sein könnten – weil sie beispielsweise einen besseren Job bekommen oder gleich die ganze Finanzwelt dominieren könnten. Die Menschen haben etwas nachgeplappert, ohne wirklich die Tatsachen zu kennen.“

„Dieses fehlende Interesse am Schicksal der Juden war eine Folge des Vorkriegs–Antisemitismus in den Niederlanden. Auch in meiner netten Familie gab es den. Ich hatte einen jüdischen Onkel, der mit einer nicht–jüdischen Frau verheiratet war. Am Anfang des Krieges liess er sich von seiner Frau scheiden, um sie keiner Gefahr auszusetzen. Damit hat er aber sich selber in Gefahr gebracht, weil er nun nicht mehr in der Mischehe geschützt war. Während des ganzen Krieges wurde er versteckt und hat glücklicherweise überlebt. Unsere ganze Familie war sehr froh darüber. Und doch war es vor dem Krieg so, dass es zum Beispiel bei Familienfeiern wie Geburtstagen ziemlich üblich war, Bemerkungen wie ‘typisch jüdischer Trick’ zu hören, oder ‘die Juden passen gut auf sich auf’. Das wurde gesagt, wenn jemand geschickt mit Geld umgegangen ist, das ist mir bereits als kleines Kind aufgefallen.“

„Keiner von uns hätte einem Juden etwas Böses angetan. Doch es gab dieses Gefühl, dass sie doch finanziell gut gestellt sind – trotz der Tatsache, dass es viele arme Juden in Amsterdam gab.“

Borst sieht Parallelen zwischen den Kriegsjahren, ihrer Zeit in der Regierung und der aktuellen niederländischen Politik. Zur ihrer Zeit als Ministerin waren in der bosnischen Stadt Srebrenica Massenmorde verübt worden; eine darauf folgende Untersuchung des Dutch Institute of War Documentation (NIOD) veröffentlichte seine Ergebnisse 2002. Diesem Bericht zufolge hat die niederländische Regierung nichts von der Gefahr gewusst, in die die bosnischen Bürger gerieten, als sie den Abzug der niederländischen UN–Einheiten befahl. Borst meint dazu: „Der NIOD hat die Geschehnisse geschönt“. Als Minister Jan Pronk von der Arbeitspartei sagte, die Regierung hätte eigentlich um die Geschehnisse in Srebrenica und der Gefahr für die Bürger dort gewusst, bestätigte Borst dies.

Im Hinblick auf die Gegenwart sagt Borst: „Es gibt viele nette, friedvolle Muslime; aber die Niederlande gehen viel zu tolerant mit den Aussagen des radikalen Flügels des Islam um. Das betrifft zum Beispiel auch marokkanische Jugendliche, die antisemitische Bemerkungen machen oder antisemitische Straftaten begehen. Sie sind nicht als Juden–Hasser geboren, aber sie leben in einer Kultur, die so ein Verhalten toleriert oder sogar ermutigt.“

Borst kommt zu dem Schluss: „In den Niederlanden gibt es viel Vertuschung im Namen einer multikulturellen Gesellschaft. Ayaan  Hirsi Ali hat dies schon öfter deutlich gesagt und hatte diesbezüglich absolut recht“ [1].

 

Gekürzte Version des Interviews, das auf Holländisch in Manfred Gerstenfelds Buch “The Decay: Jews in a Rudderless Netherlands“ (2010) erschien. Das vollständige Interview auf Englisch kann hier nachgelesen werden.


[1] Ayaan Hirsi Ali, a secular Muslim, is a former member of the Dutch parliament for the Liberal Party. She has since left for the United States.