Zerfällt Libyen als Staat?

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Foto: © istock/Baris Simsek

Mehr als zwei Monate nach dem Tod von Muammar Gaddafi und fast fünf Monate nach seiner Entmachtung steht Libyens neue Regierung vor dem Problem, die Ordnung und die Einheit Libyens als Staat zu sichern. Der Nationale Übergangsrat (NTC) und seine Armee sind weder in der Lage gewesen, die Milizen dazu zu bewegen, den neuen Streitkräften beizutreten, noch ist es ihnen gelungen, sie zu zügeln. An ihrer Unabhängigkeit mehr interessiert als an der nationalen Einheit, haben die Brigaden die inständigen Bitten des NTC, sich aufzulösen, zurückgewiesen.

Die neue libysche Regierung ist zu schwach, um den Brigaden entgegenzutreten. Weiterhin bestehen die tiefen Gräben unterschiedlicher Stammeszugehörigkeiten, Regionen, Ideologien und manchmal zu den Nachbarn zwischen den rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Und bislang gibt es keine Anzeichen dafür, dass eine zentrale politische Autorität mit der nötigen militärischen Schlagkraft entsteht, die ihren Befehlen Nachdruck verleihen würde. So ist es unwahrscheinlich, dass die Schaffung einer nationalen Streitmacht als Ersatz der im ganzen Land verstreuten regionalen Einheiten in absehbarer Zeit gelingt. Die Armee des NTC versucht, die angeschlagene wirtschaftliche Situation zu nutzen und Mitglieder der Milizen anzuwerben; aber wenn sich finanzielle Anreize als wirkungslos erweisen, muss der NTC Brigaden zur Auflösung möglicherweise zwingen. Doch nach acht Monaten des Blutvergiessens zögert der Übergangsrat vor einem gewaltsamen Schritt.

Obwohl die westliche Allianz bei der Zerschlagung von Gaddafis Regime Erfolg hatte, konnte oder wollte sie die dadurch sich öffnende Sicherheitslücke nicht schliessen. Die NATO und ihre Partner erkannten einfach den aus Bengasi stammenden NTC und die verbündeten bewaffneten Truppen als die legitime Autorität an, versorgten ihn mit Unterstützung und Ressourcen, und hofften auf das Beste.

Das Problem war natürlich, dass die libyschen Rebellen niemals eine Armee gewesen waren; sie setzten sich patchworkartig aus kleinen lokalen Milizeinheiten zusammen, aus Deserteuren der regulären Armee und einigen ehemaligen Emigranten mit militärischer Erfahrung. Ausserdem übertraf die Anerkennung, die ausländische Mächte dem NTC entgegenbrachten, bei weitem das Mass, mit dem die Libyer bereit waren, ihre Führung zu akzeptieren.

Die Rebellen stehen nun vor der Herausforderung, einen neuen Staat auf den Ruinen des alten aufzubauen; und der erste Auftrag des Staatsaufbaugeschäftes besteht darin, ein Monopol auf die militärische Gewalt innerhalb seiner Grenzen einzurichten. Der NTC kämpft darum, dieser Herausforderung gerecht zu werden. Besonders düster ist die Situation für die Einwohner von Städten und Gegenden, von denen angenommen wird, dass sie Gaddafi unterstützt haben; sie haben routinemässig unter Misshandlungen durch Kämpfer zu leiden, über die der NTC herzlich wenig Kontrolle hat.

Eine solche Entfremdung von Gegenden, die Gaddafis Regime unterstützten, schafft fruchtbaren Boden für einen Aufstand. Zahlreiche Männer im waffenfähigen Alter, und viele von ihnen bewaffnet, haben für das alte Regime gekämpft. Britische Offizielle warnten Ende letzten Monats warnten, dass eine Reihe von Top-al-QaidaFührern Pakistan in Richtung Libyen verlassen hätten in der Absicht, das Sicherheitsvakuum auszunutzen. Derweil hat das wichtigste Propagandamedium des Gaddafi-Regimes, Al-Dschamahirija, seine Sendungen über den ägyptischen Satelliten Nilesat wieder aufgenommen.

Die sicherheitspolitischen Herausforderungen wären besser handhabbar, wenn ein politischer Konsens über die Bedingungen für den Aufbau eines neuen demokratischen Staates in Libyen bestehen würde; doch der scheint in weiter Ferne. Der NTC sieht sich Vorwürfen wegen Intransparenz bei seiner Zusammensetzung und im Auswahlprozess ausgesetzt.

Die Milizen vertrauen der Rebellenführung in Bengasi nicht und sie nutzen schamlos ihre militärische Kraft, um einen grösseren Teil vom politischen Kuchen zu fordern; sie melden ihren Anspruch auf Macht und Ressourcen in der Weltordnung nach Gaddafi an. Es ist keineswegs klar, wie das offizielle politische System, das etabliert wurde, um solche Ansprüche zu regulieren, die Spannungen verringern wird.

Wahlen zu versprechen, löst die entstehenden Spaltungen möglicherweise nicht. Der Gesetzesentwurf, der die Bestimmungen für die Wahlen im Juni festlegt, vermeidet die brisante Frage der Festlegung der Wahlbezirke; das bedeutet, dass keine Klarheit darüber herrscht, wie viele Sitze in der neuen gesetzgebenden Versammlung den Städten und Regionen jeweils zugewiesen werden. Diese Entscheidung aber wird die Verteilung von Reichtum durch Öl im neuen System gestalten. Ausserdem ist im Gesetzesentwurf vorgesehen, Kandidaten, die in der jetzigen Übergangsregierung und ihren lokalen und militärischen Räten Positionen innehaben sowie Beamte des alten Regimes und diejenigen, die sich erst spät der Revolution angeschlossen haben, von der Wahl auszuschliessen.

Dies ist die Kehrseite der „Intervention light“: Es ist wesentlich einfacher, ein Regime zu stürzen, als eine neue Ordnung zu etablieren.

Die Dominanz der Milizen in Libyen ist nun mit der jüngsten Ernennung eines Stabschefs für die neue nationale Armee an einer entscheidenden Wegkreuzung angelangt. Bisher sagten die Milizen, ohne vorhandene Kommandostruktur könnten sie ihre Waffen nicht abgeben und ihren Kämpfern nicht erlauben, in die Armee einzutreten. Die Ernennung Youssef al-Mangoushs, eines pensionierten Generals der MisrataBrigade, zum Leiter der Streitkräfte durch den NTC stellt die Milizen vor die Wahl – sie müssen entweder damit beginnen, die Kontrolle an die Armee abzutreten, oder sich offen der Führung Libyens widersetzen.

Fast drei Monate, nachdem die Befreiung des Landes offiziell erklärt wurde, scheint Libyen ruhiger und weniger unbeständig zu sein, als viele es vorhergesagt hatten. Doch das Fortbestehen der Milizen wird als eine ernsthafte – und wachsende – Bedrohung für die Stabilität angesehen. Sie zu entwaffnen und zu überzeugen, sich in die nationalen Streitkräfte zu integrieren, ist derzeit wohl die grösste Herausforderung, die sich dieser noch jungen Regierung stellt bei ihrem Versuch, Sicherheit vor Wahlen zu gewährleisten, die in diesem Jahr geplant sind.

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Oberst a. D. Dr. Jacques Neriah, spezieller Analyst für den Nahen Osten am Jerusalem Center for Public Affairs, war aussenpolitischer Berater des israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin und stellvertretender Leiter für Informationsbeurteilung im Nachrichtendienst der israelischen Streitkräfte.

Originalversion: Is Libya Disintegrating as a State? by Jacques Neriah © Jerusalem Center for Public Affairs Blog, January 8, 2012.