Die arabischen Aufstände – ein Jahr danach

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Plakat des ehemaligen tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali © istock/murat sarica

Es ist bereits üblich geworden anzumerken, dass das vergangene Jahr 2011 – wie 1948, 1967 und 1979 – als ein Jahr tiefgreifender Veränderungen im Nahen Osten in die Geschichtsbücher eingehen wird. Doch welcher Art ist die Veränderung, die es bringt?

Der Begriff, der am häufigsten mit den Ereignissen des vergangenen Jahres in Verbindung gebracht wird, „Arabischer Frühling“, bietet so gut wie keinen Anhaltspunkt. Dieser Begriff ist angelehnt an einen hoffnungsvollen Moment des „Prager Frühlings“, eines Aufstands, der vor mehr als einer Generation von sowjetischen Panzern niedergeschlagen wurde, und wurde 2005 zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Nahen Osten verwendet: Als die Ermordung Rafik Hariris einen Ausbruch libanesischer „Volksmacht“ auslöste, die die syrischen Truppen aus dem Land vertrieb und nach einem 30 Jahre währenden blutigen Krieg Hoffnungen auf eine wahrhaft neue Ära im Libanon aufkeimen liess.

Im Rückblick ist seine Verwendung tragischer Weise angemessen, da die Hisbollah – wie die Sowjets damals – am Ende den Sieg davongetragen und die Chance auf eine wirkliche positive Veränderung damit auf irgendwann aufgeschoben hat. Ob die Facebooker und Twitterati, die den „Arabischen Frühling“ des Jahres 2011 feiern, sich an diesen unglückseligen Verlauf erinnern?

„Arabisches Erwachen“ ist der zweite Begriff, der zunehmend verwendet wird. Ganz unterschiedliche Nachrichtensender wie der Economist oder al-Jazeera haben begonnen, den Begriff „Arabisches Erwachen“ zu verwenden, um die im Dezember 2010 mit der symbolträchtigen Selbstverbrennung eines tunesischen Strassenverkäufers entfachten vulkangleichen Ausbrüche in der gesamten Region zu beschreiben.

Auch dieser Begriff hat einen historischen Vorläufer, der tatsächlich im Nahen Osten verwurzelt ist. Er geht zurück auf das 1938 erschienene wegweisende Buch von George Antonius mit ebendiesem Titel. Antonius, ein griechisch-orthodoxer Libanese und einstiger Beamter unter dem Britischen Mandat in Palästina bejubelte den Aufstieg eines erneuerten pan-arabischen politischen und kulturellen Bewusstseins nach Jahrzenten europäischer – vor allem britischer – Herrschaft und Machenschaften. „Arabisches Erwachen“ beschwört damit genau die falschen Bilder herauf für das, was im vergangenen Jahr in den arabischen Ländern geschehen ist. Antonius hatte sein Buch zunächst vor allem verfasst, um Araber für die Sache der Palästinenser zu gewinnen. Bei den Veränderungen von 2011 ging es im Gegensatz dazu im Kern um eine Widerlegung der Ideologien, die behaupten, Araber sorgten sich nur, hauptsächlich oder sogar vorwiegend um Palästina. Und während, zum zweiten, Antonius‘ „Arabisches Erwachen“ ein Aufruf zum pan-arabischen Nationalismus war – der Idee, dass sich die Araber vom Atlantik bis zum Golf ein sprachliches, kulturelles, soziales und sogar politisches Erbe teilen –, sind die Ereignisse von 2011 nationale und eben nicht pan-arabische Phänomene, bei denen Ägypter, Libyer, Jemeniten, Syrier und andere ihren jeweils lokalen Nationalismus zelebrieren und nicht eine abstrakte überregionale Ideologie. Insofern verschleiern die beiden romantischen Begriffe vom „Arabischen Erwachen“ und „Arabischen Frühling“ mehr als sie erklären.

Es gibt dagegen, meine ich, einen häufig verwendeten arabischen Begriff jüngeren Datums, der die Explosivität, die Herausforderung und die Unsicherheit dessen, was im vergangenen Jahr in der gesamten Region geschehen ist, besser erfasst. Zwar ist dieser Begriff sehr eng mit dem palästinensisch-israelischen Konflikt verbunden; doch gerade weil er im politischen Bewusstsein an eine einzelne nationale Erfahrung geknüpft ist, eignet er sich, im Plural verwendet, für die Vielfalt der im Jahr 2011 bezeugten nationalen Erfahrungen.

Das Wort, dessen ursprüngliche Bedeutung im Arabischen „abschütteln“ bedeutet, lautet „Intifada“ und wird inzwischen als die arabische Übersetzung für „Aufstand“ verwendet. Was die Welt im vergangenen Jahr zu sehen bekam, ist eine Reihe von „arabischen Aufständen“, das heisst von Bemühungen des Volkes – einige davon friedlicher als andere –, die bisherige Obrigkeit abzuschütteln. Wie ihre palästinensischen Namensvetter erinnerten diese Aufstände die Welt daran, dass Massenaktionen in der arabischen Politik manchmal eine genauso wichtige Rolle spielen können wie das Verhalten der Elite. Und wie bei den früheren „Intifadat“ – das ist der Plural des Wortes „Intifada“ – ist der Ausgang dieser Aufstände entschieden ungewiss.

Gewinner (sunnitische Islamisten) und Verlierer (Israel und Iran) dieser Aufstände aufzuzeigen, ist zu einem beliebten Gesellschaftsspiel geworden, aber nach nur einem Jahr ist es bei weitem zu früh, um zu beurteilen, ob die Ereignisse von 2011 eine tatsächlich nachhaltige Wirkung haben werden. Während in vier arabischen Staaten – Tunesien, Ägypten, Jemen und Libyen – Machthaber vertrieben wurden, kann man nur bei einem dieser Länder (Libyen) eindeutig sagen, dass auch das führende Regime seine Macht eingebüsst hat. In Tunesien und Ägypten ist die zentrale Institution, die die Übertragung der Macht ursprünglich ermöglichte – die Armee – nach wie vor intakt; in Jemen ist der abgesetzte Führer nicht einmal wirklich verschwunden.

Eine weitere arabische Republik, Syrien, steht am Rande eines umfassenden Bürgerkriegs; während viereinhalb andere – Sudan, Algerien, Irak, Libanon und die Palästinensischen Autonomiegebiete – vom Tsunami der Aufstände kaum berührt wurden. Andernorts hat eine Monarchie gegen ihren Aufstand gekämpft und scheint gewonnen zu haben (Bahrain), während weitere Monarchien die Täuschungsstrategie einer Reform anwandten, um die Aufmerksamkeit des Aufstandes zu absorbieren, und bislang grössere Unruhe vermieden haben. Die Vielfalt nationaler Erfahrungen selbst ist das beherrschende Motiv.

Trotzdem haben die Ereignisse des vergangenen Jahres – unabhängig davon, wie sie letztlich ausgehen werden – eine tiefgreifende Auswirkung bereits gehabt; weniger, was die Gestaltung eines neuen Nahen Ostens angeht, als im Hinblick auf die Zerschlagung einiger lang gehegter Annahmen über den alten Nahen Osten. Fünf davon sind:

Erstens stimmt die Annahme nicht länger, dass der Wettbewerb unter den Eliten und nicht der Einfluss des Volkswillens Aufstieg und Fall der arabischen Regimes bestimmt. Für die Einschätzung der Politik in der Region war die arabische Strasse vier Jahrzehnte lang weitgehend irrelevant. Dieses Kapitel hat der Tahrir-Platz abgeschlossen. Dies bedeutet nicht, dass der Mob in Zukunft das Schicksal der arabischen Nationen bestimmen wird, doch er ist wieder ein Akteur auf der arabischen Bühne.

Zum zweiten ist nicht länger davon auszugehen, dass autoritäre Regimes alle Machtmittel des Staates nutzen können und werden, um ihre Kontrolle zu erhalten. Zwei Generationen lang hat das Schreckgespenst des allmächtigen Staates einen dunklen Schatten auf die Politik der Region geworfen und die Entwicklung jeder nennenswerter Oppositionsbewegung bereits im Keim erstickt. Die Macht und Kraft dieser Regimes ist in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen wie ein Meteorit, nachdem viele Staatsführer den beängstigenden Fall des iranischen Schahs mit angesehen und entschieden haben, jeden verfügbaren Dollar in ihre vielfältigen Sicherheits- und Geheimdienstapparate zu stecken. Mit der Zeit jedoch haben Korruption und das überhebliche Gefühl der Unbesiegbarkeit diese Regimes von innen her zersetzt.

Drittens gilt die Annahme nicht länger, dass die Hauptbedrohung für moderate, prowestliche Regimes in der gesamten Levante von der Entstehung eines von Iran dominierten „schiitischen Halbmonds“ ausgeht. An seiner Stelle ist die möglicherweise grössere Angst getreten, dass ein „sunnitischer Halbmond“ sich von Marokko bis zum Golf erstrecken wird: Regimes, die von der Muslimbruderschaft angeführt oder beeinflusst sind und die Osama bin Ladens anti-amerikanische, anti-westliche und anti-israelische Ziele ohne seine radikal gewalttätigen und drängenden Mittel unterstützen. Ministerpräsidenten, die der Ikhwan verbunden sind, haben bereits von Rabat bis Gaza-Stadt – mit der Ausnahme Algiers – das Amt angetreten oder sind dazu bereit, und  weitere werden sich wahrscheinlich in Damaskus und vielleicht in Amman anschliessen, bevor das Jahr 2012 zu Ende geht.

Viertens stimmt es nicht länger, dass der saudischen Gerontokratie die Energie und das Vorstellungsvermögen fehlen, etwas anderes zu unternehmen, als ihre Feinde zu bestechen oder sich für ihren Fortbestand auf die USA zu verlassen. Ganz im Gegenteil hat das Jahr der „arabischen Aufstände“ – das ungewöhnliche Mühen für die saudische Königsfamilie mit sich brachte – auch einen erstaunlich mutigen und selbstbewussten saudischen Hang zur Selbsterhaltung erlebt, wie es die Entsendung saudischer und anderer Golftruppen nach Bahrain zeigte. Dies ging bis zur Ausrufung einer Riad-Version der Monroe-Doktrin: dass es nämlich keiner benachbarten Monarchie gestattet sein sollte, mit der liberalen Demokratie zu experimentieren, geschweige denn, ihren Reizen zu erliegen. Die Wahhabiten des Nadschd, so scheint es, gehen nicht kampflos unter – und werden auch ihre royalistischen Nachbarn nicht untergehen lassen.

Fünftens ist die Annahme nicht länger gültig, dass die USA der Erhaltung des „Teufels, den wir kennen“ immer den Vorrang über die Ungewissheit und der damit einhergehenden Instabilität des „Teufels, den wir nicht kennen“ geben werden. Sicher, das offizielle Washington glaubte an die Vermittlung durch die ägyptische Armee, um den Übergangs in eine Zukunft nach Mubarak zu erleichtern, als eine Möglichkeit, ihre abnehmenden Anteilswerte zu sichern – und nicht daran, sich auf die Seite der Massen von Demonstranten auf den Strassen zu schlagen. Doch in weniger als einem Jahr hat eine Verwaltung, die ganz von innenpolitischen Notständen absorbiert und darauf bedacht ist, aussenpolitische Verstrickungen abzuschütteln, bereits damit begonnen, sich mit einem neuen, von Islamisten beherrschten Nahen Osten auszusöhnen.

Um eine neue Reihe von Thesen zu formulieren, die die Wege des Nahen Ostens in den kommenden Jahrzehnten mit gleicher Treffsicherheit und Präzision erklären werden, wie uns die alten Thesen hilfreich durch das vergangene halbe Jahrhundert geführt haben, ist es zu früh. Doch wir beginnen das Jahr 2012 ähnlich, wie die Bewohner des Nahen Ostens die Jahre 1949, 1968 und 1980 begannen – mit der Sicherheit, dass der neue Massstab Unsicherheit heisst.

Robert Satloff ist Executive Director des Washington Institute.

Originalversion: The Arab Uprisings, One Year On by Robert Satloff, December 14, 2011, © The Washington Institute for Near East Policy. All rights reserved.