Was hat sich im Nahen Osten tatsächlich verändert?

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iStock Jan Rysavy

Das Melodrama in New York über den israelisch-palästinensischen Konflikt hat die tatsächlich dramatische historische Lage im Nahen Osten heute fast überschattet. Die Region steht Kopf: In der gesamten arabischen Welt finden Aufstände statt, die türkisch-israelischen Beziehungen verschlechtern sich drastisch.

Inmitten des Chaos genau auszumachen, was sich in der Region verändert hat, ist nicht einfach. In einigen Ländern, wie in Libyen, hat ein kompletter Wandel stattgefunden – Gaddafi wurde vertrieben und getötet, und die neue Führung ist unter anderen aus Dschihadisten und Bürokraten zusammengewürfelt. In Ägypten ist der Wandel beunruhigend oberflächlich; Mubarak ist fort, doch die nachfolgenden Militärführer haben seine drakonischen „Notstandsgesetze“ wieder eingeführt und stellen Aktivisten weiterhin vor Militärgerichte. In Syrien ist überhaupt wenig Veränderung eingetreten – die Proteste gehen weiter, und genauso macht auch das Regime weiter.

Westliche Vertreter, denen es darum geht, die Interessen ihrer Länder im Nahen Osten zu schützen oder voranzubringen, stehen vor der entscheidenden Aufgabe, die oberflächlichen Veränderungen von den grundlegenden zu unterscheiden. Noch ist bei Weitem nicht klar, wie die Revolutionen ausgehen werden; doch drei signifikante Verschiebungen sind in der Region auszumachen, die wahrscheinlich längerfristig wirksam sind.

Zunächst besteht mittlerweile kein Zweifel mehr daran, dass es in der arabischen Welt auf die Innenpolitik ankommt. Vor den Aufständen lief für die herkömmliche westliche Weisheit Einsicht in die Politik eines Landes wie Ägypten auf das Gleich hinaus wie die Ansichten und Absichten vor allem einer Person zu verstehen, Hosni Mubarak – da diese Person in der Lage war, dem Land durch eine Mischung aus Zwang und Kooptation ihren Willen aufzuzwingen. Die öffentliche Meinung und die Ansichten oppositioneller Gruppen waren für das Verständnis der tieferen Dynamik des Landes wichtig, hatten jedoch wenig tatsächlichen Einfluss auf die ägyptische Politik. Wenn diese Sichtweise schon früher fragwürdig war, so ist sie heute mit Sicherheit falsch. Es gibt eine Vielzahl politischer Gruppierungen und Machtzentren, und die ägyptisch-amerikanischen wie die israelisch-ägyptischen Beziehungen sind aufgrund ihrer Symbolträchtigkeit genauso wichtig wie ihrer Substanz wegen. Die Politik in Ägypten, Libyen oder Tunesien zu beeinflussen, geschweige denn vorherzusagen, erfordert Fähigkeiten und Vorgehensweisen, die für Diplomaten in Europa selbstverständlich sind, im Nahen Osten aber nicht geübt wurden. Auch hier wird es jetzt darum gehen, Beziehungen über den Präsidentenpalast hinaus zu pflegen und die Interessen und Bestrebungen von grossen Teilen der Gesellschaft zu verstehen.

Zweitens werden die neuen Regierungen, die in der arabischen Welt entstehen, vermutlich stärker antiwestlich und antiisraelisch eingestellt sein als ihre Vorgänger. Ob zu Recht oder nicht, werden der Westen und besonders die USA stark mit den alten Regimes im Nahen Osten in Verbindung gebracht und darum als Komplizen der Unterdrückung betrachtet. Die historischen Wurzeln hierfür liegen im Kalten Krieg, als die USA arabische Diktatoren als Gegenmächte zum sowjetischen Expansionismus unterstützten und mit dieser Unterstützung auch nach dem Ende der UdSSR fortfuhren, anstatt auf demokratische Reformen zu drängen. Die Ansätze, bei denen die USA eine andere Herangehensweise wählte, wie Mitte der 2000er-Jahre, waren nicht von Dauer, und so war die öffentliche Wertschätzung für die USA am Ende niedriger als zu Beginn. Diesen Eindruck hat die Politik der USA während des Arabischen Frühlings wenig verändert. Sie wurden als Schönwetterfreund wahrgenommen, der erst dann Partei ergreift, wenn das Ergebnis eines Konfliktes bereits feststeht, anstatt seinen demokratischen Überzeugungen entsprechend zu handeln.

Der kalte Frieden zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn wird in der gesamten Region auch als zwielichtiges Arrangement wahrgenommen, das repressiven Regimes nützt. So hielten ägyptische Führer geflissentlich den Frieden mit Israel und genossen die strategischen und wirtschaftlichen Vorteile, die dies mit sich brachte. Doch betonten sie dem ägyptischen Volk gegenüber nie die Notwendigkeit dieses Friedens. Stattdessen benutzten sie in den offiziellen Medien sowohl antisemitische als auch antiisraelische Rhetorik zynisch als ein Mittel, um die öffentliche Wut von innenpolitischen Fragen abzulenken.

Drittens schliesslich, und dies ist die Verschiebung, die am meisten beunruhigt, wird der Nahe Osten zukünftig vermutlich noch gefährlicher und unberechenbarer werden. In den vergangenen Jahrzehnten herrschte eine relativ stabile regionale Ordnung rund um die arabisch-israelischen Friedensverträge und die engen Beziehungen zwischen den USA und den wichtigsten arabischen Staaten und der Türkei vor. Nun aber scheinen die USA weniger in der Lage oder willens, in der Region Einfluss auszuüben, und die Regimes, die die regionale Ordnung schützten, sind verschwunden oder stehen unter Druck. Mit der Möglichkeit oder Notwendigkeit, autonom zu handeln, gehen Staaten wie die Türkei, Saudi-Arabien und Iran zunehmend entschlossen vor, und alle sind gut bewaffnet und streben eine Führungsrolle in der Region an. Auch Ägypten könnte sich, wieder stabil, dieser Gruppe anschliessen. Zwischenstaatliche Konflikte sind keineswegs unvermeidlich, aber ihre Gefahr hat zugenommen, die Kräfte, die sie zu verhindern suchen, sind schwächer geworden. Bedrohlich ist dabei Irans Streben nach einer Atomwaffe; sie würde den Wettstreit um die regionale Vorrangstellung zum Überhitzen bringen.

Der Nahe Osten wird sich wohl grundlegender verändern, als bisher erkannt worden ist. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass der Arabische Frühling die Hoffnungen der amerikanischen Entscheidungsträger auf Demokratie erfüllen oder sie von ihren dunkelsten Sorgen vor Radikalisierung befreien wird. Mit Gewissheit jedoch wird er den Nahen Osten für immer verändern – in einer Weise, die wir gerade erst beginnen zu verstehen.

 

Originalversion: What has really changed in the Middle East by Michael Singh © The Washington Institute for Near East Policy, September 22, 2011. All rights reserved.