Von jüdischem Zynismus und jüdischer Hoffnung

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Tal Becker

In Israel gilt es als gefährliche Schwäche, leichtgläubig und blauäugig zu sein. Die Gegend, in der wir leben, ist zu gefährlich, und unsere Feinde sind zu brutal, als dass wir uns Naivität oder unbefangenen Optimismus leisten könnten. Wohlwollen wird oft für Schwäche gehalten, geradezu für eine Einladung, ausgenutzt zu werden. Also neigen wir als Volk auch eher dazu, uns über worst-case-Szenarien Gedanken zu machen statt mit dem bestmöglichen Ergebnis zu rechnen. Gereizt reagieren wir auf das unschuldige Reden ausländischer Politiker, die uns über Frieden und Hoffnung belehren und zu überzeugen versuchen, jetzt sei die Gelegenheit gekommen, diese Träume zu verwirklichen.

Als die Welt euphorisch war über den „Arabischen Frühling“, kamen die Warnungen, dass unter den Ersten, die eine demokratische Öffnung für sich ausnutzen könnten, Extremisten sein könnten, aus Israel. Zwar beten wir für einen neuen, friedvollen Nahen Osten; in der Zwischenzeit aber müssen wir dem zurechtkommen, den wir haben.

Als Volk haben wir ganz bestimmt allen Grund dazu, auf der Hut zu sein. Die Traumata der Vergangenheit und die Gefahren und die zunehmende Isolation der Gegenwart ermutigen nicht zu etwas anderem. Nun sind wir in vielen Bereichen menschlicher Unternehmungen ein aussergewöhnlich innovatives und optimistisches Volk. Wenn es aber darum geht, einen besseren Nahen Osten zu gestalten, haben wir nicht viel Hoffnung zu bieten. In der Hinsicht sind wir wie der Typ, den man nicht gern zur Party einlädt. Misstrauisch gegenüber allen, die allzu begeistert und fröhlich sind, und skeptisch, was neue Ideen angeht. Wir sind abgestumpft und passiv geworden.

Was Israels Kritiker nicht verstehen, ist, dass diese Gefühlslage weniger mit der politischen Führung als mit den Erwartungen seines Volkes zu tun hat. Was in den letzten Jahrzehnten der Auseinandersetzungen beschädigt wurde, ist nicht unsere Fähigkeit, uns eine andere Zukunft vorzustellen, sondern unser Glaube daran, dass diese alsbald verwirklicht werden könnte.

Viele Journalisten behaupten, die Israelis würden nicht mehr von einem friedvollen Ende des Konflikts träumen. Das stimmt nicht! Die grosse Mehrheit der Israelis halten die Vision der Zwei-Staaten-Lösung für gut. Eine noch grössere Mehrheit allerdings kann einfach nicht glauben, dass ihre Verwirklichung realistisch ist. Wenn die zwei Staaten für die zwei Völker ihnen auf dem Silbertablett präsentiert würden, würden die Israelis sie mit Freuden in Empfang nehmen. Aber für diese Lösung zu kämpfen oder sie energisch von ihrer politischen Führung einzufordern, das kommt ihnen nicht in den Sinn – weil sie nicht machbar scheint. Frieden ist für viele eine messianische Grösse geworden; es gibt ihn in unseren Gebeten, aber nicht auf unserer Agenda.

Der Zyniker gefällt sich in einer wegwerfenden Haltung dem möglichen positiven Ausgang einer Sache gegenüber. Er hält die Leidenschaft und Ernsthaftigkeit derer, die daran glauben, für kindisch. Was andere als uninspiriert und schwunglos empfinden, hält der Zyniker für vernünftig und eine nüchterne Betrachtungsweise. Ja, er ist ein „Realist“. Aber sein Realismus ist in der Lage, das Schlimmste in anderen zu Tage zu fördern und verdammt ihn dazu, sich zu verschanzen und sein Bild der Wirklichkeit aufrechtzuerhalten.

In der jüdischen Welt ist diese Art des Zynismus weit verbreitet, besonders wenn es um Israels Wunsch nach Frieden und Sicherheit geht; aber eigentlich ist er dem Judentum fremd. Zynismus ist ein Schutzmantel, in den wir uns eingehüllt haben. Wir mögen so geworden sein, aber das ist es nicht, was wir sind.

Ein zynisches Volk erhebt sich nicht aus der Asche, um in seinem alten Stammland einen aufstrebenden Staat aufzubauen. Es rühmt sich nicht seiner Propheten und Schriften, die eine gerechte Welt nicht nur ausmalen, sondern jeden in die Verantwortung nehmen, sie mitzugestalten. Ein zynisches Volk nimmt sich nicht die Zeit zwischen Rosh Hashana und Yom Kippur zur individuellen und kollektiven Selbstreflexion und Veränderung.

Tatsächlich sind doch alle unsere Errungenschaften als Volk und als Staat ein Triumpf über den Zynismus. Sie sind das Werk eines Volkes, das eine andere Wirklichkeit immer für möglich gehalten hat und den Widrigkeiten zum Trotz alles dafür getan hat, sie zu erreichen. Vom Exodus aus Ägypten über die Makkabäer, von Herzl bis Ben-Gurion war es der risikobereite und mutige Reformer – nicht der Zyniker – der unsere Nationalgeschichte prägte.

Während sich der politische Diskurs mit der Türkei, Ägypten und den Palästinensern verschlechtert, findet Israel Trost im zynischen Ton. Die „Realisten“ warnen uns davor, bei uns selbst die Schuld zu suchen, zu glauben, dass bahnbrechende Veränderungen von uns abhängig sind oder dass irgendetwas, das wir tun könnten, an der unabwendbaren Abwärtsbewegung etwas ändern könnte. Wir müssen unser Schicksal als Volk, das alleine ist, annehmen und die Verteidigung Israels gegen die anstehenden Gefahren vorbereiten.

Es ist tatsächlich naiv zu glauben, dass es hier nur um uns geht, dass die Bedrohungen, denen wir ausgesetzt sind, harmlos sind, oder dass es allein an Israel liegt, den Kurs der Geschichte im Nahen Osten zu verändern. Aber es ist nicht weniger gefährlich, sich der Verzweiflung zu überlassen und die Verantwortung, Dinge besser zu machen, abzugeben. Das Problem mit dem Zynismus ist nicht nur sein falscher Glaube an den unausweichlichen Verlauf der jüdischen Geschichte. Das Problem ist, dass er uns die Energie raubt, um den wahren Gefahren mit Elan und Einfallsreichtum zu begegnen, und dass er uns einengt, wenn es darum geht, uns eine gerechte und lebendige jüdische und demokratische Gesellschaft vorzustellen und sie zu schaffen. Zynismus hat etwas Selbstzerstörerisches, und seine Überzeugung, wir seien unserer Zukunft als Objekte ausgeliefert und könnten sie nicht als Subjekte auch gestalten, steht völlig im Gegensatz zum Zionismus.

Die Vorstellung, wir könnten entweder hoffnungsvoll und naiv oder zynisch und realistisch sein, war schon immer zu simpel. Unsere Lage ist viel zu komplex für ein Denken in solch einfachen Alternativen. Es gibt vieles, was wir nicht lösen, aber es gibt nur wenig, was wir nicht verbessern können. Das ist gerade das Vielversprechende an den unerwarteten Sozialprotesten, die in diesem Sommer das Land überfluteten. Diese Proteste waren eine Verurteilung des Zynismus und eine Rückkehr zum Glauben, dass Dinge besser sein könnten und auch sollten. Mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit – und der Überzeugung, dass sie möglich ist – haben die Demonstranten einige der hervorragendsten jüdischen und zionistischen Instinkte gezeigt.

Israel wurde nicht gegründet, um unsere jüdische Angst und Besorgnis an einem einzigen Ort zu bündeln. Der Staat wurde geschaffen, damit das jüdische Volk seine eigene Wirklichkeit gestalten kann, damit nicht andere das übernehmen. Dafür müssen wir aber viel von dieser zynischen Haltung ablegen, die in Jahren des Kampfes und Leidens und der Gefahr gewachsen ist. Und gerade wenn es um Frieden und Sicherheit geht, müssen wir aufhören, neue Initiativen mit Naivität abzutun. Die innere  Arbeit daran, was uns als Gesellschaft ausmacht, ist nicht weniger wichtig als die politischen und strategischen Aspekte, die wir endlos diskutieren. Das ist Teil unserer kollektiven tshuva, gehört zur Rückbesinnung auf unser fundamentales Selbst. Die gute Nachricht ist: wir müssen unser eigentliches Wesen nicht neu erfinden, sondern nur wieder entdecken.

Dr. Tal Becker: On Jewish Cynicism and Jewish Hope, Shalom Hartman Institute, IEngage Team, October 10, 2011