Tunesien: Der Morgen danach

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Tunisian President Zine El Abidine Ben Ali
© istockphoto.com/murat sarica

Tunesien, der unerwartete  Auslöser der Aufstände im Nahen Osten, hat in den ersten Monaten nach der Revolution substantielle Fortschritte erzielt. Doch kann das Land, das seit seiner Unabhängigkeit 1965 stets am Rand des politischen Alltags in der arabischen Welt stand, als Vorbild für die Demokratisierung anderer arabischer Staaten dienen?

Den demokratischen Weg bahnen

Bereits 1991 identifizierte Samuel Huntington Tunesien als Hauptkandidaten für eine zukünftige Demokratisierung, u.a. weil der damals neue Präsident Zine al-Abidine Ben Ali einige Liberalisierungsmassnahmen unternahm. Huntingtons Prognose traf vollumfänglich zu, obwohl  es eher die Selbstverbrennung des Strassenverkäufers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 war, als Ben Alis flüchtige Reformen, die ein stetig wachsenden Proteststurm unter der Bevölkerung im Nahen Osten und Nordafrika auslöste. Ein einzigartiger Mix von verschiedenen Faktoren erhöht in Tunesien die Chancen für eine relativ erfolgreiche Demokratisierung:  Eine Vergangenheit als offenes mediterranes Handelsland; eine bedeutende, gebildete Mittelklasse; die höchste weibliche Bildungsrate und die tiefste Bevölkerungswachstumsrate in der arabischen Welt; eine traditionell aktive Zivilgesellschaft, und ein kleines, nicht politisiertes Militär.

Politischer, institutioneller und konstitutioneller Wandel

Im Vergleich zu Ägypten hat Tunesien einen höheren Grad an konstitutioneller Rechtmässigkeit und Kontinuität während seinem Wandel aufrechterhalten. Nach Ben Alis Abgang übernahmen hauptsächlich Mitglieder von früheren Regierungen und Kabinetten, Schlüsselrollen in der neuen „Regierung der nationalen Einheit“ unter Mohamed Ghannouchi. Als Resultat wurde Tunis weiterhin Zeuge von Massenprotesten.

Die Machthaber unternahmen eine Anzahl von Massnahmen, um die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten zu demonstrieren und um die Protestierenden zu beruhigen. So wurden einige der treusten Anhängern Ben Alis aus dem Kabinett entfernt und eine Anzahl seiner  wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Verbündeten verhaftet. Doch die Lohnstreiks, Demonstrationen und Sit-Ins gingen weiter und das Chaos nahm erst ab, als Ministerpräsident Ghannouchi nach einer Demonstration am 25. Februar im Zentrum von Tunis mit 100‘000 Teilnehmern sein Amt niederlegte.

Ghannouchis Nachfolger Beji Caid Essebsi schwor sofort den Zielen der Revolution seine Treue. Kleine Überbleibsel aus der Ära Ben-Alis waren weiterhin im neuen Kabinett vertreten und binnen einer Woche kündigte er die Abschaffung der verhassten Geheimpolizei an. Noch wichtiger war die Terminierung der Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung auf den 24. Juli 2011 [mittlerweile auf den 23. Oktober verschoben], welche den Auftrag haben wird, die Verfassung neu zu schreiben, ein neues Wahlgesetz und die Gesetzgebung bezüglich Pressefreiheit vorzubereiten und über das künftige politische System des Landes zu  entscheiden.

Aber kann das Bekenntnis der Machthaber zu einer echten Demokratisierung garantiert werden? Jahrzehnte autoritärer Herrschaft haben politische Parteien und zivil Vereinigungen geschwächt. Nichtdestotrotz hat der Sturz Ben-Alis dem politischen Dornröschen-Schlaf des Landes einen elektrischen Schock verpasst.

Während die Regierung auf die Forderungen der Parteien, nationalen Persönlichkeiten und ziviler Organisationen reagierte und eine Kommission zur Ausarbeitung von Reformvorschlägen einberief,  staunten die Tunesier über ihre Freiheit und nutzten die Chance zur offenen Diskussion und Debatte der nächsten Schritte. Print- und elektronische Medien waren über Nacht in lebendige und kontroverse Plattformen verwandelt worden. Blogger, wie etwa A Tunisian Girl, die beim Aufstand eine wichtige Rolle gespielt hatten und ins Visier der Sicherheitskräfte geraten waren, wurden zu kleinen Berühmtheiten, während sie weiter vor Selbstzufriedenheit warnten und Skepsis äusserten.

Die Wirtschaft

Die Wirtschaft und die neuerdings legale islamistische Strömung sind zwei Faktoren, die auschlaggebend sein werden für die politische Entwicklung in Tunesien.

Obwohl die tunesische Wirtschaft aus makroökonomischer Perspektive – tiefe Inflation, ausreichende Währungsreserven und ein akzeptables Budget-Defizit – stabil war, sorgte eine Anzahl  von strukturellen Problemen, u.a. ein blindes Vertrauen in die Landwirtschaft und die Schwäche des privaten Sektors, für eine chronisch hohe Arbeitslosigkeitsrate, vor allem unter  Jugendlichen.

Mitte März hatten die westlichen Regierungen die Notwendigkeit einer finanziellen Unterstützung erkannt. Sowohl die USA als auch die EU versprachen jeweils ca. 20 Millionen US-Dollar.  Am 1. April skizzierte Tunesiens Finanzminister Jalloul Ayed die kommenden Herausforderungen: Eine tiefere Wachstumsrate aufgrund abnehmender Investitionen aus dem Ausland und die Schaffung der Hälfte jener Anzahl Arbeitsplätze, die Ben-Ali in seinem Budget  angekündigt hatte Weiter würden  Anleihen in der Höhe von vier Milliarden Dollar für das Jahr 2011 benötigt.

Politischer Islam

Am 30. Januar 2011, zwei Wochen nach Ben-Alis Abgang, kehrte Rashid al-Ghannushi, der im Exil lebende Anführer der islamistischen Ennahda-Partei, nach Tunis zurück. Am Flughafen wurde er von tausenden jubelnden Anhängern begrüsst, aber auch von einer kleinen Anzahl Frauenrechtsaktivistinnen, die sich um die Bewahrung des säkularen Fundaments Tunesiens sorgten und die Gleichberechtigung der Frauen betonten. Ihre Besorgnis wurde von Tausenden (oder tausenden Personen) geteilt, wie sich bei einem Marsch Mitte Februar im Zentrum von Tunis zeigte, wo sie die Trennung von Moschee und Staat forderten.

Im Spektrum der islamistischen Denkaktivisten, tendiert Ghannushi zu den Befürwortern des Dialogs, der Mehrparteiendemokratie und Gewaltlosigkeit und wirbt für eine modernistisch-islamistische Synthese, was der in Tunesien geborene Politikwissenschaftler Larbi Sadiki als „Soft-Islamismus“ bezeichnet. In einem Gespräch mit Al-Jazeera zum Thema Kopftuch sagte Ghannushi, dass er und seine Partei sowohl gegen eine Kopftuchpflicht als auch gegen ein Kopftuchverbot seien. Aber er hat auch die Morde an säkularen, anti-islamistischen Intellektuellen in Algerien und Ägypten gerechtfertigt und nutzte übliche antisemitische Motive um Israel und den Zionismus zu verurteilen, wie etwa die angebliche Förderung westlicher Feindseligkeit gegenüber dem Islam.

Gemeinsam mit anderen Parteien – einige davon islamistisch – wurde die Ennahda anfangs März legalisiert. Allerdings wurde die radikale, panislamistische Hizb al-Tahrir verboten, die eine feindselige Demonstration vor der grössten Synagoge Tunesiens organisiert hat.

Schlussfolgerung

Die regionale und internationale Aufmerksamkeit auf die arabischen Unruhen hat sich bereits seit längerem von Tunesien auf andere Brennpunkte verlagert. Vom Bürgerkrieg in Libyen abwechslungsweise nach Yemen, Bahrain, Ägypten und aktuell Syrien. Diese mangelnde Aufmerksamkeit kommt den Tunesiern sehr zupass. Und sie zeigt auch, dass – wie schwer der Weg zu stärkerem politischem Pluralismus, Rechtstaatlichkeit und dem notwendigen Mass an Respekt unter den rivalisierenden sozialen Kräften und politischen Bewegungen auch sein möge – Tunesien substanzielle Fortschritte in den ersten Monaten seiner neuen Ära gemacht hat. Ob die Elite des Landes über die Weisheit und Führungskraft  zur Bewältigung des Wandels verfügt, wird sich zeigen.

von Bruce Maddy-Weitzman

 

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Gekürzte Fassung der Originalversion mit vollständigen Angaben der Fussnoten:  Tunisia’s Morning After – Middle Eastern Upheavals by Bruce Maddy-Weitzman, Middle East Forum, published in the Middle East Quarterly, Summer 2011, Volume 18: Number 3