Unter der Gürtellinie

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Eine Redaktorin der Zeitschrift „Annabelle“ (Nr.12/11 am 29.06.11) porträtiert die orthodoxe Gemeinschaft Zürichs – zementiert sie dabei Vorurteile?

Eines muss Julia Hofer attestieren: die Reporterin der Frauenzeitschrift „Annabelle“ aus dem Hause TA-Medien schenkt ihren Leserinnen zum Thema „orthodoxe Jüdinnen und Juden“ gleich zu Beginn ihres Textes reinen Wein ein: ihre erste Zürcher Wohnung, so Hofer, sei im Kreis 3 „nahe der erzkonservativen Synagoge Agudas Achim“ gelegen. Der alte Jude, der über ihr gewohnt habe, habe jeweils „grusslos zu Boden geschaut“, wenn er ihr begegnet sei. Im Sommer habe es von den Nachbarn, ebenfalls orthodoxe Jüdinnen und  Juden, Reklamationen gegeben – weil sie nämlich mit einem ärmellosen T-Shirt herumgelaufen war.

Hofers erstes Kurz-Fazit daher: wenn ihre Mietzeit im Haus dazu gedient haben sollte, eine „Begegnung der Kulturen“ zu ermöglichen, dann müsse man sagen: „Sie ist misslungen.“

Misslungen ist die Reportage über die Befindlichkeit jüdisch-orthodoxer Frauen im „Stedtl Zürich“ sicher nicht. Die „Annabelle“-Journalistin trifft mehrere jüdische Frauen aus dem orthodoxen und nicht-orthodoxen Lager, bemüht sich auch zu Yves Kugelmann, „Tachles“-Chefredaktor und liest sich offenbar auch minutiös  ins Thema ein. Entsprechend erhält sie denn auch durchaus lesenswerte und prägnante  Aussagen: z.B. über das jüdisch-strenggläubige Eheleben, die Ausbildung aber auch die Aufgaben jüdischer Ehefrauen in einer nach der Halacha lebenden Familie.

Dass die fragende Julia Hofer dabei mehr als kritisch hinterfragt, dass jüdisch-orthodoxe Frauen eben nicht fragen sondern das machen, was Religion und Ehemann vorschreiben, das kann ihr nun niemand übelnehmen – diese Fragestellung ist sicher dem Zeitgeist, aber auch einer geschuldeten kritischen journalistischen Grundhaltung zuzuschreiben.

Was da mehr stört, ist der doch deutlich wahrnehmbare negative Unterton der gesamten Reportage – nicht bloss der oben zitierte Einstieg mit dem offenbar grundlos unfreundlichen älteren Juden (der sicher leider so existiert!). Frau Hofer hätte ja vielleicht aber auch erwähnen können, dass als orthodox wahrnehmbaren Jüdinnen und Juden oft nicht bloss Gleichgültigkeit oder Indifferenz entgegen gebracht wird sondern oft leider auch Ablehnung oder sogar Hass. Verhaltensweisen der nichtjüdischen Umwelt, die Unhöflichkeiten einiger oder mancher in der Minderheit zwar nicht entschuldigen sollen, aber vielleicht erklären können. Davon liest man bei Julia Hofer nichts.

Ebenso so stark mokiert sich die „Annabelle“-Frau offensichtlich über die Kleidung orthodoxer Frauen. Das kann sie selbstverständlich, aber vielleicht müsste frau, wenn sie denn in die Gedankenwelt dieser Porträtierten eintauchen will, dann fairerweise auch darauf hinweisen, dass die Sexualisierung des öffentlichen Lebens (nicht zuletzt der Werbung) mittlerweilen ebenso eine Tatsache ist wie andererseits die sicher stark vorhandene stärkere Zuwendung zu einer engen Auslegung der jüdischen Religion. Und an der „Versexung“ (auch z.B. der Kleidung junger Mädchen) stören sich schliesslich in diesem Land nicht bloss orthodoxe Juden oder Moslems.

Irgendwie  bedauert Julia Hofe auch, so scheint es, dass der politische Diskurs des Landes zurzeit sich vor allem mit verschleierten muslimischen Frauen beschäftigt und viel weniger auch mit den orthodoxen Jüdinnen: „Warum machen wir uns so viele Gedanken über muslimische Frauen, die unters Kopftuch gezwungen werden, aber keine über diese jüdischen Frauen?“ schreibt sie dazu, bleibt die Antwort aber doch vielsagend schuldig, denn es war wohl rhetorisch gemeint.

Falls die Journalistin mit ihrer Reportage dazu beitragen möchte, dass nun beide, Muslima und orthodoxe Jüdin, beim Durchschnittsschweizer oder der –schweizerin noch kritischere Blicke als bisher auf sich ziehen, dann hat sie allerdings wohl keinen schlechten Job gemacht. Bei allem Respekt vor der Meinungsfreiheit, die in einer Demokratie das höchste Gut sein muss: eine besondere Auszeichnung, mit Verlaub, ist das nicht. Auch und gerade nicht für die prominenteste Frauen-Zeitschrift der Schweiz.

Ludwig Gall