Gedankenlosigkeit und mangelnde Urteilskraft

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Am 27. Mai  konnte man lesen, dass der aussenpolitische Sprecher der Hamas in einem Interview sagte, die Zwei-Staaten-Lösung sei vom Tisch und der bewaffnete Widerstand gegen die „Zionistische Entität“ werde verstärkt fortgesetzt. Es gehe um die „Befreiung Palästinas“ und die „Rückkehr“, nämlich die der palästinensischen Flüchtlinge in ihr Heimatland und die der Israelis in die Länder, aus denen sie gekommen sind (vgl. Memri Clip). Was hier – auch nach der „Versöhnung“ mit Abbas’ Fatah – geäussert wird, ist das, was wir kennen: Hamas will keinen Frieden mit Israel, will keinen jüdischen Staat („Zionistische Entität“), sondern will das Land – und zwar das ganze und dies ohne Juden. Aber auch Abbas anerkennt nicht einen jüdischen Nationalstaat und fordert die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge in das ganze ehemalige britische Mandatsgebiet. Fatah nähert sich immer deutlicher der Hamas an.

Am selben 27. Mai konnte man im Tages-Anzeiger einen Kommentar von Claudia Kühner unter der Überschrift: Israel ist isoliert lesen. Frau Kühner setzt sich darin mit Netanjahus Rede vor dem US-Kongress auseinander. Ihre Meinung wird so zusammengefasst:

„Netanyahu geht es nicht um Frieden, sondern um Land.“

Ich habe mich nicht verschrieben. Es heisst nicht: „Hamas geht es nicht um Frieden, sondern um Land“, vielmehr eben: „NETANYAHU“.  Der hatte allerdings vor dem Kongress gesagt: „Ich bin bereit, schmerzhafte Kompromisse einzugehen“ – gemeint sind solche bezüglich der Grenzen. Und er ist bereit, einen palästinensischen Staat anzuerkennen, aber nicht in den Grenzen der Waffenstillstandslinien von 1949, mithin denen vor dem Sechstagekrieg von1967. Schon Abba Eban hat diese Linie die „Auschwitz-Grenze“ genannt. Denn sie reicht militärisch nicht sicher aus, um bei weiteren Angriffen den zweiten Genozid zu verhindern. Frau Kühner unterstellt Netanjahu allerdings: Er möchte damit „einen lebensfähigen Palästinenserstaat unbedingt verhindern“. Für sie stimmt:

„Er bezeichnet die Grenze von 1967 als «nicht zu verteidigen». Dabei hat Israel gerade 1967 militärisch den grössten Sieg errungen.“

Frau Kühner will uns Lesern – die wir zumeist wie sie keine Experten sind in militärischen Fragen der Sicherheit – offenbar sagen, dass bei einer Grenzziehung auf der Basis der Waffenstillstandslinie von 1949 (das ist der Sinn der verschleiernden Rede von einer Grenze von 1967!) Israels Sicherheit im Fall eines neuen Kriegs nicht gefährdet wäre. Nur Netanjahu sieht das anders, aber selbstverständlich für sie falsch bzw. noch schlimmer: Er will so nicht die Überlebensfähigkeit des Staates Israel sichern, sondern umgekehrt: „einen lebensfähigen Palästinenserstaat verhindern“. Natürlich: Man muss nur Netanjahu sagen und jegliche Unterstellung ist geradezu Pflicht.

Pikant ist allerdings, dass Frau Kühner sich zwar im Artikel beschäftigt mit Fragen der militärischen Sicherheit und damit Antizipationen von möglichen neuen kriegerischen Auseinandersetzungen selbst vorgenommen hat. Hat sie nicht etwa der friedliebenden palästinensischen Seite damit theoretisch so etwas wie Gewalt zugetraut? Nein, das kann nur einem bekannten Bösewicht wie Netanjahu einfallen. Deswegen empört sie sich über ihn:

„Warum antizipiert der israelische Premier nach einem Friedensabkommen bereits neue Gewalt? Ist denn nicht ein Friedensschluss die grösste Sicherheitsgarantie?“

Man bedenke das Denkverbot: Nach einer langen Geschichte von Kriegen und Terror sollte man nun wirklich an Frieden denken – gewährt durch ein Abkommen unterschrieben auch von Hamas. Kurz blitzte ein Gedanke bei Frau Kühner auf, dass das nicht stimmen könnte. Aber Gedankenlosigkeit und mangelnde Urteilskraft erkämpft sie sich sofort wieder: gegen sich selbst. Wie kann man auch darauf kommen, dass Israel, wenn es denn die Auschwitz-Grenze in einem Friedensabkommen anerkannt hat, womöglich nicht sicher wäre oder jedenfalls im Licht seiner Geschichte mit arabischer und palästinensischer Gewalt das denken könnte, was sie sich zuliess? Dann wäre sie ja nicht anders als – NETANJAHU! Und Israel. Das ist doch – wir kennen diesen Topos für Juden schon lange vor der Entstehung des Staates  – übermächtig! Es siegte sogar in den Grenzen von Auschwitz, und zwar am grössten.

Frau Kühner kennt allerdings nicht nur den eigentlichen israelischen Bösewicht, gegenwärtig in Netanjahu ins Fleisch gekommen, sie ist auch eine Versteherin der Palästinenser(führer) und diktiert für die womöglich folgenden Verhandlungen schon mal:
1. „Ohne Verhandlungen über Kompensation wird kein Palästinenser je sein Rückkehrrecht aufgeben.“

2. „Zu einem souveränen Staat gehören eigene Streitkräfte. Israels Anspruch, in einem entmilitarisierten Palästinenserstaat eigene Truppen zu stationieren, ist ohne Rechtsgrundlage.“

Frau Kühner verschweigt, dass es Hamas, aber auch dem „gemässigten“ Abbas (bei uns hätte er sich als Holocaustleugner mit seiner Dissertation strafbar gemacht) nicht (nur) um Kompensation, also um Geld geht. Geld bekommen sie ja sowieso von vielen Seiten, von der arabischen Seite (Hamas vor allem auch aus dem Iran)  und der westlichen zumal. Frau Suha Arafat lebt von dem durch ihren Mann davon kärglich Abgezweigtem bekanntlich äusserst komfortabel. Nicht nur sie. Hamas, aber auch Abbas wollen die Rückkehr der Flüchtlinge in den Staat Israel, in welchen Grenzen auch immer, allerdings trotz Frau Kühner nicht kompensiert wissen, sondern beharren darauf, dass sie real geschieht, und zwar deswegen, weil sie sich davon versprechen, den jüdischen Staat auszulöschen: die „Zionistische Entität“. Nie in ihrem Leben haben Abbas, Arafat, Hanijeh daran gedacht, hier einzulenken. Frau Kühner will jedoch die Forderung nach Rückkehr durch die Palästinenserführung positiv uminterpretieren. Der pure Revanchismus der palästinensischen Führer ist nach ihr deren Recht.  Aber zusätzlich zum Rückkehrrecht will sie die Palästinenser auch noch militärisch weiter aufrüsten. Es reicht ihr offenbar nicht, was Hamas in Gaza schon an Raketen gebunkert hat und weiter bunkert. Hamas soll noch, weil das angeblich zu einem „souveränen Staat“ gehört, Truppen und Waffen offiziell bekommen. Ich erinnere mich, dass Deutschland nach 1945 entmilitarisiert und besetzt wurde von den Truppen der Siegermächte. Mit Recht und auf völkerrechtlichem Grund. Es gab Anlass, Revanchismus zu fürchten.

Damit kommen wir zum letzten Punkt, der entscheidenden Gedankenlosigkeit und mangelnden Urteilskraft:

„Mit einer Palästinenservertretung, welche die Hamas miteinschliesst, lehnt Netanyahu jeden Kontakt ab. Wie aber soll ein Abkommen aussehen, das 1,5 Millionen Palästinenser im Gazastreifen ausschliesst?“

Nur fragt sich: Wie viele der 1,5 Millionen die Nase voll haben von der tyrannischen und islamistischen und die Menschenrechte nicht achtenden Herrschaft der Hamas. Wie viele von denen wären wohl gern diese islamistische Diktatur los? Wohl: sie wurden gewählt. Wie die Nazis. Aber danach haben sie in Gaza geputscht und brutal ihre Herrschaft aufgerichtet. Wie die Nazis.

Wie soll Israel ein Abkommen mit Hamas finden, das mehr als 5 Millionen Juden in Israel ausschliesst? Will Hamas, will Abbas mit Juden und vor allem mit einem jüdischen Staat leben? Selbst Frau Kühner weiss, dass das nicht der Fall ist. Das ist bei Hamas wie bei Eichmann: die wollen nicht mit Juden in derselben Welt leben. Und in die Phantasiewelt, die sich Frau Kühner ausgedacht hat, kann man vorderhand nicht emigrieren mit dem Erdenrest zu tragen peinlich.

Besonders bösartig ist, was Claudia Kühner hier sagt:

„Netanyahu untermauerte bei alledem den Anspruch, dass Israel als einziger Staat über dem Völkerrecht steht. Und auch das beklatschte die Mehrheit im US-Kongress.“

Hat sie für diese gravierende Beschuldigung irgendeinen Beweis? Wenn ja, warum nennt sie ihn nicht? Reicht es, Netanjahu zu sagen, um jeden extremen Vorwurf unbewiesen zu kolportieren? Das ist – mit Verlaub – der bekannte Diskurs über Juden. Wer Nachteiliges über sie sagt, muss es gar nicht erst begründen. Man kennt ja seine Netanjahus.

Zuletzt noch ein Muster für die parteiliche und einseitige Wahrnehmung der Realität:

„Und trotzdem täte die Hamas gut daran, Israel endlich anzuerkennen. Das würde den Druck auf die Staatengemeinschaft, insbesondere auch die EU, enorm erhöhen, den Palästinenserstaat anzuerkennen. Mit ihrer Verweigerungshaltung spielt sie Netanyahu nur in die Hand – und trägt so zur Misere des eigenen Volkes bei.“

Hamas – Frau Kühner wird das wohl leider nie begreifen – wird nicht und will nicht und um keinen Preis einen Judenstaat anerkennen. Auch Abbas nicht. Für einen solchen Staat gibt es für Hamas auch erklärtermassen keine Grenzen – ob von 1948, 1949, 1967 usw. Und dass Frau Kühner die Hamas offenkundig für die moralischere Seite ansieht, weil sie sie ermahnt, Netanjahu nicht in die Hände zu spielen, das ist – mit Verlaub – der Gipfel der Verdrehung. Man muss Netanjahu nicht mögen. Aber die Hamas ihm als moralisch und politisch erreichbarer vorzuziehen: O tempora, o mores!

Am Ende stelle ich fest: Claudia Kühner setzt auf Einsicht bei Hamas, hält aber Israel für verstockt. Aber in dieser mangelnden Urteilskraft ist sie nicht allein. Frau Kühner ist nur die Repräsentantin einer grassierenden banalen Gedankenlosigkeit unserer Zeit. Das Problem ist, dass sie in der Mitte der Gesellschaft damit ankommt – im Tagi.

Ekkehard W. Stegemann

 

Über Ekkehard W. Stegemann

Ekkehard W. Stegemann war von 1985 bis 2014 Ordinarius für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Basel.

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