Der Arabische Frühling in Tunesien: Niedergang der säkularen Bewegungen

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Tunisian President Zine El Abidine Ben Ali
© istockphoto.com/murat sarica

Da Tunesien weithin als das säkularste der Länder galt, die ihre langjährigen Führer gerade abgesetzt haben, glaubten viele, es hätte die besten Chancen hätte, eine gemässigte, demokratischen Prinzipien und den Menschenrechten verpflichtete Regierung zu wählen. Doch solche Hoffnungen wurden im Oktober enttäuscht, als die islamistische Ennahda-Partei 41 Prozent der Stimmen für die Verfassungsgebende Versammlung erhielt; sie hat den Auftrag, eine Verfassung zu erarbeiten.

Unter dem früheren Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali war Ennahda gemeinsam mit anderen islamistischen Bewegungen verboten worden. Ihr Gründer und Vorsitzender, Rashid al-Ghannouchi, bezeichnet sich als Schüler des iranischen Ayatollah Khomeini. In einer Rede kurz vor dem Ausbruch des Ersten Golfkriegs in Khartum sagte al-Ghannouchi: „Wir müssen so lange Krieg gegen die Amerikaner führen, bis sie das Land des Islam verlassen“; während einer islamischen Konferenz zu Palästina im Jahr 1990 nannte er Amerika „den grossen Satan“. Der renommierte Nahostgelehrte Martin Kramer bezeichnete al-Ghannouchi während seines 22-jährigen Exils in Grossbritannien als „den prominentesten Islamisten im Westen“.

Die internationale Gemeinschaft hat diese extremistische Rhetorik ignoriert und die revolutionären Beweggründe Tunesiens für „mehr Freiheit“ gelobt. Ennahda beginnt jedoch, ihr wahres Gesicht zu zeigen: sie tastet die Meinungsfreiheit an und erlaubt es gewalttätigen islamistischen Bewegungen einen islamistischen Staat zu fordern und damit die lange ersehnten revolutionären Ideale zu plündern.

Der Tod freier Meinungsäusserung

Nachdem er den französisch-iranischen Animationsfilm Persepolis ausgestrahlt hat, muss sich der Besitzer des tunesischen Fernsehsenders Nessma TV Nabil Karoui derzeit wegen Gotteslästerung vor Gericht verantworten; der Film zeigt eine Cartoondarstellung Gottes und wird bei einigen Muslimen als Frevel angesehen. Im Anschluss an die Ausstrahlung des Films in Tunesien warf ein von Salifisten angeführter Mob am 14. Oktober Molotowcocktails in Karouis Haus. Falls Karoui verurteilt wird, könnten ihm drei bis fünf Jahre Gefängnis bevorstehen. Sein Prozess wurde auf den 19. April 2012 vertagt.

Karoui bezeichnete den Prozess als „Tod der freien Meinungsäusserung [in Tunesien]“ während Ghannouchi den Prozess begrüsste und sagte: „Ich unterstütze das Recht der Tunesier, diesen Angriff auf ihre Religion zu verurteilen.“

Am 15. Februar wurden ein Herausgeber und zwei Redakteure der tunesischen Zeitung Attounissia verhaftet; die Anklage lautet auf Verstoss gegen die öffentliche Moral, weil sie ein freizügiges Foto eines deutsch-tunesischen Fussballspielers und seiner Freundin veröffentlicht hatten. Unter den säkular Gesinnten führen die Verhaftungen zu der weiteren Besorgnis, dass die von Islamisten dominierte Regierung zunehmend versuchen wird, eine Zensur auszuüben.

Islamisten gegen Säkulare

Die lange unterdrückten Islamisten nutzen ihre neu erworbenen Freiheiten, um gegen die Freiheiten und Werte der Säkularen vorzugehen. Allerdings sind manche Beobachter der Ansicht, dass die Wahlen, die die islamistische Ennahda-Partei an die Macht brachte, die Stimme der Bevölkerungsmehrheit nicht angemessen wiedergibt. Der britische Journalist John R. Bradley schreibt in seinem Buch After the Arab Spring, die angegebenen 80 Prozent Wahlbeteiligung seien nicht auf die Bevölkerung, sondern auf die 50 Prozent der eingetragenen Wähler bezogen.

Mustapha Tlili vom New Yorker Center for Dialogues sieht in den jüngsten Aktionen der Islamisten ein Hinweis darauf, dass die Islamisten die Revolution vereinnahmen. „Den Islamisten geht es darum, [Tunesien] dazu zu bringen, islamistische Werte anzunehmen, die nicht denjenigen der Mehrheit der Tunesier entsprechen“, sagte Tlili.

Die Säkularen regierten mit einer Demonstration; 6.000 Teilnehmende demonstrierten für Meinungsfreiheit und gegen eine islamistischen Gesellschaft, die Tunesiens Übergang zur Demokratie gefährden und die Errungenschaften der Revolution bedrohen würde.

Als nächstes: Ein islamischer Staat?

Der von der Partei Popular List eingebrachter aktueller Vorschlag, eine Verfassung zu entwerfen, die auf islamischem Recht beruht, könnte ohne ein Referendum angenommen werden  wenn mehr als 60 Prozent der Parlamentarier ihn unterstützen. Ennahda wird bei dieser Abstimmung das stärkste Gewicht haben; ihr Premierminister Hamadi Jebali hat erklärt, dass er eine Rückkehr zum muslimischen Kalifat anstrebt, und bereits seine Befürwortung einer auf dem Islam beruhenden Verfassung angedeutet.

Der Sprecher der Ennahda-Partei, Samir Dilou, versuchte die Bedenken der Säkularen zu zerstreuen, indem er sagte, Ennahda wolle „einen demokratischen Staat, der sich durch die Idee der Freiheit auszeichnet … Wir sind keine islamistische Partei, wir sind eine islamische Partei.“

Wird aber eine den Prinzipien des Koran unterliegende islamische Partei die Freiheiten der Säkularen des Landes, ebenso wie die seiner religiösen Minderheiten, wertschätzen können?

Die jüngsten Anzeichen in Tunesien deuten darauf hin, dass Islam und Demokratie nicht vereinbar sind. John R. Bradleys Einblick in die zukünftige Staatsführung Tunesiens ist alarmierend: „[Ghannouchi] ist für die Demokratie ‚als ein Regierungssystem und als eine Methode zur Veränderung‘ – aber nur, solange sie kompatibel mit dem Islam ist. Die einzige massgebliche Grundlage für die Gesetzgebung bleibt weiterhin der Koran, und dessen Manifestation auf Erden sind die Gelehrten (…), die ihn so interpretieren, dass die Funktion des Staates ihrer Natur nach im Wesentlichen exekutiv ist.“

Originalversion: Arab Spring Brings the Decline of Secularism in Tunisia by Aidan Clay © Stonegate-Institute, February 28, 2012.