Angesichts der heftigen militärischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas erheben sich ausserhalb von Israel kritische Stimmen gegen die israelische Politik. Die Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen ist desolat, und die Verantwortung dafür sehen viele bei der israelischen Regierung.
von Peter Ruch
Im Strom der Israelkritiker schwimmen nachweislich Antisemiten mit, sodass die Frage nahe liegt, ob Kritik an Israel grundsätzlich antisemitisch sei. Darf man denn Israel nicht kritisieren? wird gelegentlich gefragt. Die Antwort ist klar: Die israelische Regierung darf man kritisieren. Deshalb tun das auch viele Israelis in ihrer Heimat. Dort finden regierungskritische Demonstrationen mit bis zu 100.000 Teilnehmern statt. Sie werden geduldet, weil Israel ein freiheitlicher Staat ist. Man vergleiche mit Syrien: Dort genügten 20.000 Demonstranten, die gegen den seit 50 Jahren bestehenden Ausnahmezustand protestierten, dass die Kommandanten «Feuer frei» befahlen. Die Folgen waren eine unbekannte Zahl von Toten und mehrere Millionen Geflüchtete.
Israelkritik oder Antisemitismus?
In der Weltpresse und an den Hochschulen werden oft Hinweise auf das Unrecht an den Palästinensern laut. Diese seien durch die einwandernden Juden verdrängt und vertrieben worden. Nach der Shoa bestand in der Tat ein Druck, den Juden ein eigenes Staatsgebiet zu gewähren. Bereits im Jahr 1922 gab es ein Völkerbundsmandat, wonach eine Nationale Heimstätte – das Wort Staat wurde vorerst vermieden – für das jüdische Volk zu schaffen sei. Sie war nach dem ersten Entwurf viermal so gross und wurde dann zugunsten von Transjordanien verkleinert. Die Gegend war dünn besiedelt. Juden hatten sich bereits seit 1870 im Gebiet des alttestamentlichen Israel niedergelassen, nachdem in Europa das nationalistische Selbstverständnis die Ständeordnung ersetzt und die Juden zum Fremdkörper erklärt hatte. Es war ein ätzender Widerspruch: Die Juden waren um Assimilierung bemüht und wurden dennoch vielerorts aus der Gesellschaft ausgestossen. Ein sprechendes Beispiel für die Integration ist die Familie Mendelssohn: Moses Mendelssohn war ein gläubiger Jude mit Talmud-Ausbildung sowie entsprechender Kleidung und hielt sich an die Speisegesetze. Sein Sohn Abraham wuchs in dieser Tradition auf und wurde Bankier. Er liess seine Kinder evangelisch taufen und konvertierte ebenfalls zum protestantischen Glauben. Seine Kinder Fanny und Felix wurden berühmte Komponisten. Felix war ein gläubiger und weltzugewandter Christ. Sein Sohn Paul Mendelssohn wurde Chemiker und gründete mit einem Fachkollegen die Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation Agfa. Daraus wurde ein erfolgreicher deutscher Konzern. Die solcherart integrierten Juden waren in Europa zahlreich. Ihre enormen Verdienste für Wirtschaft und Kultur verhinderten jedoch weder Pogrome noch sonstige Herabsetzungen. In der Nazi-Zeit war Mendelssohns Musik verboten, und das Mendelssohn-Denkmal vor dem neuen Gewandhaus wurde 1936 abgerissen. In Frankreich wurde der jüdische Offizier Alfred Dreyfus grundlos des Landesverrats beschuldigt.
Geschichte von Flucht, Vertreibung und Doppelstandards
Als anlässlich der Staatswerdung Israels rund 700.000 Palästinenser ihr Wohngebiet verliessen, ohne wirklich vertrieben zu sein, gehörten sie zu den rund 70 Millionen Menschen, welche nach den Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verloren: Sechs Millionen Menschen wurden in die Sowjetunion repatriiert. Aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches wurden insgesamt gegen zwanzig Millionen Deutsche vertrieben. Hinter dem Eisernen Vorhang wurden 2,2 Millionen Bewohner aus dem östlichen Teil Polens westwärts oder ostwärts umgesiedelt. Mehrere Großstädte wurden in ihrer Bevölkerung fast komplett ausgetauscht. In der Tschechoslowakei siedelten sich rund 1,9 Millionen Tschechen, Slowaken, Ukrainer und Roma als Neubürger an. Auch Asiaten und Afrikaner waren betroffen. Mit der Unabhängigkeit Indiens und der Gründung Pakistans 1947 verloren insgesamt 15 Millionen Menschen ihre Heimat und rund eine Million ihr Leben. Die Palästinenser machen somit ein Prozent aller Vertriebenen und Umgesiedelten zwischen 1945 bis 1950 aus. Ihnen stehen gleich viele Juden gegenüber, die aus arabischen Ländern weggeschickt, nach Israel kamen. Entgegen jeglicher Rechtsordnung wird der Flüchtlingsstatus der Palästinenser über Generationen vererbt. Von den andern 99 Prozent redet längst niemand mehr.
Als der Nationalismus – von natus, also gemeinsame Abstammung – in Westeuropa um sich griff, hatten die Juden eine fast zweitausendjährige Geschichte hinter sich, in der sie ein Volk ohne Staat gewesen waren. Sie hatten kein Territorium, durften keine politischen Ämter bekleiden, waren in ihrer Berufsausübung eingeschränkt und vom Bodenbesitz ausgeschlossen. Sie waren ein wahrhaft friedliches Volk ohnegleichen. Ihre Gemeinden waren schon im Mittelalter und oft bis ins 18. Jahrhundert demokratisch geführt. Um auch im Notfall zu überleben, benötigte jede Synagogengemeinde ein paar reiche Mitglieder, die ihren Reichtum durch Geldhandel und Kreditzinse erwarben. Sie waren ihrerseits auf die Gemeinde zu ihrem Schutz angewiesen. Ausserhalb der Gemeinde gab es für die Juden weder berufliche Existenz noch Sicherheit. Dieses egalitäre System schwächte sich erst ab, als die absolutistischen Fürsten die reichen Juden an ihre Höfe beriefen. Die Hofjuden benötigten ihre Gemeinde nicht mehr im gleichen Masse, unterstützten sie jedoch weiterhin. So färbte der Absolutismus auf die jüdischen Gemeinden ab. Im Innern sorgte die Frömmigkeitsbewegung des Chassidismus dafür, dass nicht mehr die offene theologische Debatte, sondern die Autorität des Rabbis wegweisend wurde. Der demokratische Charakter der Synagogengemeinden wurde geschwächt.
Mit dem Wegfall des Feudalismus und dem Aufkommen egalitärer Gesellschaften, wo jeder seine Aufstiegschance hatte, hätte das langjährige jüdische Gemeindemodell wegweisend sein können. Viele Juden wurden erfolgreich und reich, weil sie eben seit Jahrhunderten im Denken, Prüfen, Lernen und Abwägen geübt waren. Es war nicht zuletzt der Neid, der die Judenfeindschaft befeuerte. Anderes kam hinzu: Die Kirchen gerieten durch die Aufklärung in die Defensive. Weil die Juden seit jeher ihre Glaubensfragen offen debattierten, standen sie im Verdacht, eine Speerspitze der Säkularisierung zu sein. Als die Zahl der Konvertiten zum christlichen Glauben wuchs, erhob sich die Frage, ob die Juden bloss eine religiöse oder auch eine nationale Minderheit seien. Im letzteren Fall wären sie nicht integrierbar und müssten – schon damals die Idee – in ihre einstige Heimat Palästina umgesiedelt werden. Manche Nationen zeigten ausserdem die Tendenz, eine Nationalreligion zu definieren, etwa Polen den Katholizismus und Russland die Russisch-orthodoxe Kirche.
Die Rolle arabischer Gesellschaften und Führer
Angesichts der Feindseligkeiten in der aufgeklärten Gesellschaft sahen sich viele Juden nach einer Alternative um und fanden sie in Palästina. Eine kleine Minderheit von ihnen hatte schon immer dort gelebt und wurde von den muslimischen Herrschern mit Steuerbelastungen geduldet. Die arabische Bevölkerung in Palästina war im 19. Jahrhundert sehr rückständig: Die Alphabetisierungsquote betrug unter fünf Prozent. Noch 1947 hatten 368 von 800 arabischen Dörfern keine Schule. Ausserdem litten auch sie unter überhöhten Steuern und lebten mehrheitlich an der Armutsgrenze. Zwischen 1870 und 1914 kamen 70.000 jüdische Einwanderer an. Die Juden reaktivierten das nur noch in Schriften und als Kultsprache erhaltene Hebräisch zur Umgangssprache – ein kulturgeschichtlicher Vorgang, der seinesgleichen sucht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erwachten auch unter den Arabern Nationalgefühle mit dem dazugehörenden Antisemitismus. Dieser war nachhaltig: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Mufti von Jerusalem, Amin Husseini, als Kriegsverbrecher und Kollaborateur des Nazi-Regimes gesucht. Die Beziehungen sind bestens dokumentiert. Mit Ribbentrop und Eichmann hatte er über die Lösung des «Weltjudenproblems» debattiert, von Hitler Hilfe beim Aufbau eines palästinensischen Staates erhofft.
Im Bestreben, das Ottomanische Reich zu schwächen, unterstützten die Briten die arabischen Nationalisten unter dem Motto «Der Gegner meines Gegners ist mein Freund». Im gleichen Zusammenhang erfolgte auch die Balfour-Deklaration zugunsten einer jüdischen Heimstätte. Sie löste in Palästina eine Gewaltwelle gegen die englischen Garnisonen aus. Indessen ging der Zuzug von Juden weiter: Ende 1922 lebten in Palästina 760.000 Araber, davon 90.000 Christen, sowie 84.000 Juden. Die Geburtsquote der Muslime war eine der höchsten weltweit und überflügelte diejenige der christlichen Araber sowie der Juden. Die Alphabetisierung der Muslime lag noch 1931 bei 15% und stieg nur langsam an. Von den arabischen Christen konnten 58% und von den Juden 86% lesen und schreiben.
Die astronomische Entfernung der muslimischen Araber zu jeglicher demokratischen Denkweise zeigt die Wahl des bereits erwähnten Mufti von Jerusalem im Jahr 1921. Als der Posten vakant war, pushte seine Familie den 26-jährigen Amin Husseini zur Kandidatur. Er war bloss in vierter Position, doch mittels Druckausübung und Drohungen gegen die Konkurrenten gelangte er ins Amt, obwohl ihm jegliche Koran-Ausbildung und auch die anderen Voraussetzungen fehlten. Diese Art Ämterbesetzung ist unter den muslimischen Arabern bis heute normal: Arafat wurde aus der Dunkelkammer zum Präsidenten ausgerufen und blieb es bis zum Tod. Sein Nachfolger Abbas, inzwischen 90jährig, stellte sich nie einer Wahl. Im Gazastreifen gewann die Hamas eine einzige Wahl vor 20 Jahren und blieb ohne Urnengang bis heute an der Macht. Muslimische Länder mit demokratischer Kultur gibt es praktisch nicht. Aufschlussreich ist der Vergleich zwischen Indien und Pakistan, die aus dem gleichen Land hervorgingen: Pakistan gilt heute als Failed State, während Indien in der Staatengemeinschaft ernst genommen wird und auch wirtschaftlich erfolgreich agiert.
Verantwortung von Hamas und arabischen Staaten
Nach der Hamas-Attacke vom 7. Oktober 2023 reagierte die israelische Regierung heftig. Über die Zahl der palästinensischen Toten und Verletzten gibt es keine verlässlichen Zahlen, doch dürfte sie hoch sein. Wer sich dem Mitgefühl für die Gaza-Bewohner, die in äusserst prekären Verhältnissen leben, nicht verschliesst, muss sich fragen, ob sie Opfer der Israelis oder der Hamas sind. Was die sehr ungleichen Opferzahlen betrifft, so gehören solche Asymmetrien leider zum Wesen des Krieges. Ausserdem definiert die Hamas-Führung den «Wechselkurs» beim Gefangenenaustausch stets zu Ungunsten ihrer eigenen Leute: Hundert Palästinenser sind gleich viel Wert wie vier Israelis. Für die Freilassung des israelischen Unteroffiziers Gilead Schalit im Jahr 2011 liess Israel sogar über 1000 Palästinenser frei. Der Befund ist klar: Die Bevölkerung im Gazastreifen wurde seit über zwei Jahrzehnten von der Terror-Organisation als Schutzschild und ihre Schulen und Spitäler wurden als Terror-Basen missbraucht. Ohne die erwähnte Attacke und ohne den jahrelangen Raketenbeschuss durch die Hamas wäre es zur gewaltsamen Intervention durch Israel nicht gekommen. Die Chance auf eine Stabilisierung und auf die Schaffung eines erfolgreichen Stadtstaates im Gazastreifen wurde trotz milliardenschweren Unterstützungsbeiträgen zwanzig Jahre lang vertan. Niemand behauptet, dass die israelische Regierung alles richtig macht. Die Kritik an ihr ist und bleibt jedoch antisemitisch, solange sie nicht auch die steinreiche arabische Welt und ihre eklatanten Versäumnisse in den Blick fasst. Würde ich als Ministerpräsident ein Volk regieren, das vor weniger als 100 Jahren durch ein industrieartiges Mordprojekt zu mehr als einem Drittel ausgerottet wurde und heute neben Nachbarn lebt, die es erklärtermassen vertilgen wollen, so wüsste ich trotz der humanitären Gesinnung, die ich für mich in Anspruch nehme, nicht, wie ich anders handeln könnte als Netanjahu und sein Kabinett.
Peter Ruch ist ehemaliger evangelisch-reformierter Pfarrer von Küssnacht am Rigi, Theologe, Autor und Stiftungsrat der Audiatur-Stiftung.




























