
Über das Verschwinden des ehemaligen KZ-Arztes Josef Mengele gibt es viele Mythen, mehrere Filme haben sich mit dem «Todesengel von Auschwitz» schon beschäftigt. Nun zeigt ein neuer Spielfilm mit August Diehl in der Hauptrolle den nationalsozialistischen Kriegsverbrecher in seinem Exil und auf der ständigen Flucht. Den Hass auf Juden legte er nie ab.
Josef Mengele wurde zum meistgesuchten Nazi-Verbrecher Deutschlands. Obwohl gut bekannt, konnte er nach dem Krieg über die sogenannte «Rattenlinie» aus Deutschland fliehen und dann in Südamerika unbehelligt leben. Erst recht als er von der Ergreifung und Verurteilung Adolf Eichmanns hörte, musste Mengele wohl verstärkt in Angst leben. Der sehenswerte Spielfilm «Das Verschwinden des Josef Mengele» zeigt uns den alternden und immer noch hasserfüllten Nazi, der einerseits an seiner Einsamkeit verzweifelt, andererseits aber nie die Hoffnung aufgibt, der Nationalsozialismus könne eines Tages in seiner alten Heimat wieder auferstehen.
August Diehl («Inglourious Basterds», «Bonhoeffer») verkörpert hier den «Todesengel von Auschwitz» in mehreren Lebensphasen. In zahlreichen Rückblenden (die den Zuschauer vor allem anfangs etwas herausfordern) sehen wir Josef Mengele als jungen Medizinstudenten, als Kriegsverbrecher auf der Flucht, als alten, sterbenskranken Exilanten – und, ja, als kaltblütigen Lagerarzt in Auschwitz, der menschenverachtende Versuche an den Insassen vornimmt. Doch stellt Regisseur Kirill Serebrennikov die Grauen von Auschwitz nicht in den Mittelpunkt seines Films. Die kurzen grausamen Szenen inszeniert er als wackelige Amateuraufnahmen auf Super-8 fast wie Traum-Sequenzen; der angesehene Arzt ist hier in bester Laune zu sehen, wie er an den Zugwaggons die ankommenden Menschen aussortiert, er schneidet an Menschen herum, an einem Skelett will er die Minderwertigkeit von Juden und die Notwendigkeit von «Rassenhygiene» aufzeigen. Serebrennikov konzentriert sich im restlichen Verlauf des Films aber auf Mengele, den Alt-Nazi, der an seiner Ideologie festhält, alles rechtfertigt, was er im Dienste der Nazis tat, und der noch immer die Deutschen für eine überlegene Rasse hält. Über seine Gräueltaten will Mengele nicht sprechen, auch nicht, als sein Sohn Rolf ihn besucht und nachbohrt, ob die furchtbaren Berichte über die Taten seines Vaters stimmen.
Vereinsamter Rassist, der von der Vergangenheit träumt
Ein Handlungsstrang des Films zeigt Mengele, der 1956 unter falschem Namen in Buenos Aires lebt. Er fühlt sich verfolgt, ist gehüllt in einen Trenchcoat, trägt eine Sonnenbrille, sein Hut ist tief ins Gesicht gezogen. Als sich ihm auf der Strasse eine Gruppe junger Männer nähert, die Hebräisch sprechen und offenbar Juden sind, wendet er sich hektisch ab. Als wenig später der NS-Verbrecher Adolf Eichmann in Argentinien vom Mossad aufgespürt wird, glaubt Mengele, selbst bald enttarnt oder verraten zu werden.

Ein Zeitsprung ins Jahr 1977 zeigt den gealterten Mengele, inzwischen in der brasilianischen Stadt São Paulo. Sein Sohn Rolf besucht ihn, weil sein Vater deutliche Signale der Vereinsamung gesandt hat, aber auch, weil er wissen will, wie viel an den Berichten über seinen Vater dran ist. Hier wird «Das Verschwinden des Josef Mengele» besonders stark, denn der Sohn wird zur Identifikationsfigur des Zuschauers, er befragt seinen Vater und ist entsetzt über dessen Antworten. «Wie kann man zu all dem schweigen, was man dir anlastet?» Mengele: «Das sind alles Lügen.» Der ehemalige Nazi-Arzt interessiert sich vor allem für seinen Schäferhund, er schimpft auf die Amerikaner, ihre «verkommene Kultur» und die «frech gewordenen N…». Die deutsche Kultur von Wagner und Beethoven habe man zu zerstören versucht.
So zeigt uns Regisseur Serebrennikov einen unverbesserlichen Nationalsozialisten, der mit anderen untergetauchten alten Weggefährten dem alten Reich nachtrauert und gleichzeitig auf die «niederen» Menschen seines Gastlandes schimpft.
Verschwörungstheorien von damals – leider aktueller denn je
Es ist die Stärke dieses Films, Mengeles Weltsicht wiederzugeben, an der er trotz ihres offensichtlichen völligen Bankrotts festhält. Die Deutschen hätten sich nur gewehrt, die deutsche Rasse sei in Gefahr gewesen und sei es noch – in einem ewigen Kampf um Leben und Tod. Im KZ habe er lediglich kranke Menschen von ihrem Leiden erlöst, scheint er selbst überzeugt zu sein. Sein Sohn Rolf will das nicht schlucken: «Und die Juden, was haben euch die Juden getan?» Das seien Blutsauger gewesen. «Die Juden haben uns vor tausend Jahren schon den Krieg erklärt», fantasiert Mengele. «Die wollten alle Menschen auslöschen.» Mehrmals wirken diese Verschwörungstheorien auf gruselige Weise aktuell – angesichts des erstarkenden Antisemitismus und des Israel-Hasses heutzutage. Sätze Mengeles wie «Israel stört den Frieden auf der gesamten Welt» hört man heute nicht mehr nur in nationalsozialistischen Kreisen und wird von vielen Deutschen für eine ganz normale politische Meinungsäusserung gehalten. Damals, in den 1930er Jahren seien alle froh gewesen über die Gesetze zur Rassenhygiene und den Sozialdarwinismus, so Mengele. «Das haben wir doch alle gebraucht und gewollt.» Ausserdem hätten ja alle mitgemacht, die Gesellschaft, sogar der Papst, und alle Grossindustriellen hätten mit den Arbeitern aus den Arbeitslagern grossen Profit gemacht. Mengele stellt – nicht ganz unrichtig – fest: «Das will nur heute niemand mehr hören.»
In einer Nebenrolle ist der grossartige Burghart Klaussner als Mengeles Vater Karl zu sehen, der erfolgreicher Unternehmer in der bayerischen Heimat Günzburg war. Im Jahr 1956 war Josef Mengele anlässlich des Todes seines Bruders zu seiner Familie gereist, und das ohne Probleme an den Grenzen oder am Flughafen. Der Diener des Hauses begrüsst ihn mit den Worten: «Sie haben sich nicht verändert, Herr Mengele.» Der sagt nach einer langen Pause, während er sich die Bücher in seiner Bibliothek anschaut: «Nichts hat sich verändert.» Es fasst symbolisch die Geisteshaltung zusammen, die Mengele in diesem Film kennzeichnet. Er bereut nichts, und eigentlich müssten sich nur die alten Genossen zusammenraufen und einen neuen Anlauf starten, um Deutschland im Krieg der Rassen zu einem Sieg zu führen. Die Ermordung von Millionen von Juden? Ein Märchen, erfunden, damit sich die Deutschen schuldig fühlen.
An seinem Lebensende ergeht sich Mengele in Selbstmitleid. Er habe nicht einmal zur Beerdigung seines Vaters gekonnt, weint er, und die Israelis wollten ihn töten. Mengele starb am 7. Februar 1979 im brasilianischen Badeort Bertioga beim Schwimmen an einem Schlaganfall. Erst 1985 konnten seine Gebeine auf einem Friedhof identifiziert werden. Eine DNA-Analyse räumte 1992 letzte Zweifel aus.
Der Film basiert auf dem preisgekrönten Roman von Olivier Guez, der auch am Drehbuch mitschrieb. Guez verfasste bereits das Drehbuch für den Film «Der Staat gegen Fritz Bauer» (2015) über den Frankfurter Generalstaatsanwalt, der versuchte, Adolf Eichmann aufzuspüren. «Wir sind aktuell von stark ideologisch geprägten Systemen umgeben und ich hoffe, dass der Film in seiner genauen Beschreibung der ideologischen Verengung dazu beiträgt, sich nicht von Ideologien jeglicher Art vereinnahmen zu lassen», sagte Produzent Felix von Boehm. Auch wenn der Film mit seinen 135 Minuten keine leichte Kost ist und trotz seiner Länge immer noch viele interessante Aspekte der Flucht Josef Mengeles offenlassen muss, trägt der Streifen bestens dazu bei, die Person etwas besser zu verstehen, aber auch, jenes alt-neue rassistische und antisemitische Gedankengut, das leider immer noch nicht ganz dort verschwunden ist, wo es eigentlich hingehört: versunken auf dem Grund des Meeres.
«Das Verschwinden des Josef Mengele», 135 Minuten, Regie: Kirill Serebrennikov, deutscher Kinostart: 23. Oktober 2025