Frankreich, Israel und die Muslimbruderschaft

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Präsident Emmanuel Macron besucht die Ausstellung „Gerettete Schätze aus Gaza“ im Institut du Monde Arabe in Paris. Foto IMAGO / Bestimage
Präsident Emmanuel Macron besucht die Ausstellung „Gerettete Schätze aus Gaza“ im Institut du Monde Arabe in Paris. Foto IMAGO / Bestimage
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Wenn Sie unter Druck stehen, etwas zu tun, aber wissen, dass Sie nichts tun können, was tun Sie dann? Nun, Sie tun nichts, ausser so zu tun, als würden Sie etwas tun. Und Sie berufen sich auf grosse Prinzipien und grosse Gefühle.

von Amir Taheri

Genau das tun der französische Präsident Emmanuel Macron und sein Aussenminister Jean-Noël Barrot auf eher idealistische Weise angesichts der anhaltenden Tragödie im Gazastreifen.

Die französischen Politiker sprechen von „konkreten Massnahmen“, ohne zu erkennen, dass in der Philosophie eine Massnahme, die nicht konkret ist, keine Massnahme ist, sondern ein „Henid“, ein Konzept, das bei Kontakt mit der Realität sich in Nichts auflöst.

Bisher haben sie von drei konkreten Massnahmen gesprochen.

Der erste besteht darin, die Möglichkeit der Anerkennung eines „palästinensischen Staates“ in einer unbestimmten Zukunft zu prüfen, indem in Absprache mit der Arabischen Liga und unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen eine Konferenz in New York einberufen wird. Der besagte Staat muss auch die Hamas einschliessen, sofern diese sich bereit erklärt, auf Gewalt zu verzichten und sich in eine reguläre politische Partei umzuwandeln.

Der zweite Schritt besteht darin, die Möglichkeit zu prüfen, einige israelische Amtsträger wegen Verstosses gegen nicht näher bezeichnete humanitäre Grundsätze unter Anklage zu stellen.

Der dritte Punkt besteht darin, die Europäische Union zu ersuchen, die Möglichkeit der Anwendung von Artikel II des Handelsabkommens zwischen Israel und der EU zu prüfen, um den Handel zwischen beiden Seiten einzuschränken.

Wenn eine solche Massnahme umgesetzt würde, könnte sie einige Unternehmen in Israel und Europa ruinieren. Was aber ein solches moralisches Zeichen für die Menschen in Gaza bringen würde, die jeden Tag sterben, wird nicht näher erläutert.

„Wir können nicht zulassen, dass unsere Grundprinzipien verletzt werden“, sagt Barrot.

Unter Berufung auf grosse Prinzipien und Gefühle ist einer seiner Vorgänger, Dominique de Villepin, der Gentleman, der versucht hatte, den Sturz des irakischen Machthabers Saddam Hussein zu verhindern, aus dem Ruhestand zurückgekehrt, um die Verfolgung israelischer Politiker und Militärs vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu fordern.

Wow! Wäre das Thema nicht so todernst und würden nicht jeden Tag Menschen sterben, könnte man das alles als blosse Persiflage abtun, um den Schein zu wahren.

Allerdings wird die Heuchelei dieser grossartigen Prinzipien und Gefühle dadurch verdeutlicht, dass 24 Stunden, nachdem Macron, Barrot und de Villepin sie zur Rechtfertigung ihrer trügerischen Anti-Israel-Haltung herangezogen hatten, Innenminister Bruno Retailleau einen 76-seitigen Bericht vorlegte, in dem die Muslimbruderschaft als gegenwärtige und unmittelbare Bedrohung für die nationale Sicherheit Frankreichs bezeichnet wurde.

Der über zwei Jahre hinweg erstellte Bericht stuft die Muslimbruderschaft als internationale Organisation ein, die Extremismus fördert und terroristische Aktivitäten weltweit unterstützt.

Mit Unterstützung von mindestens zwei nicht genannten „ausländischen Mächten“ hat die Muslimbruderschaft in Frankreich ihre Mitgliederzahl auf 100.000 verdoppelt. Die von ihr angewandte Taktik wird als „Durchdringung“ bezeichnet, d. h. das Infiltrieren von religiösen, bildungsbezogenen, sportlichen, kulturellen und gewerblichen Einrichtungen sowie Nichtregierungsorganisationen, um Millionen von Menschen als menschliche Schutzschilde für ihre Aktivitäten zu missbrauchen.

Retailleaus detaillierter und gut recherchierter Bericht erwähnt nicht, dass die Hamas als Ableger der Muslimbruderschaft ebenfalls die Bevölkerung von Gaza als menschliche Schutzschilde benutzt.

Barrot sagt: „Wer Gewalt sät, wird Gewalt ernten!“ Er vergisst dabei, dass die aktuelle Gewalt durch den Angriff der Hamas auf israelische Städte und Dörfer am 7. Oktober 2023 ausgelöst wurde.

Auch seine vergebliche Hoffnung, dass die Hamas sich entwaffnen und zu einer regulären politischen Partei werden würde, um an einem vermeintlichen palästinensischen Staat mit noch unklaren Konturen teilzunehmen, würde den Menschen in Gaza, die von einigen Tausend bewaffneten Männern als Geiseln gehalten werden, nichts nützen.

De Villepin und seinesgleichen sehen die Hamas als eine „Befreiungsbewegung“, die nicht ausgelöscht werden kann. Die Hamas hat sich jedoch nie selbst so bezeichnet. Sie versteht sich als Teil der Muslimbruderschaft mit globalen Ambitionen und hat das Wort „Palästina“ bewusst aus ihrer Identität gestrichen. Sie will Palästina, wie auch immer definiert, nicht „befreien“, sondern hat sich das Auslöschen Israels zum Ziel gesetzt.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Hamas-Führer glücklich darüber wären, wenn ihre wahre Identität so ignoriert würde.

Selbst dann ist die Behauptung, dass bewaffnete „Befreiungs-“ oder „Widerstands“-Gruppen niemals besiegt werden können, nicht immer wahr.

Die Malaiische Befreiungsfront wurde vollständig ausgelöscht. Die Volksfront zur Befreiung des besetzten arabischen Golfs (PFLOAG) landete auf dem Müllhaufen der Geschichte, ebenso wie die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC), der Leuchtende Pfad und die Bewegung 19. April (M19) in Lateinamerika und ein halbes Dutzend Gruppen, die angeblich für die „Befreiung Palästinas“ kämpften.

Niemand kann Frankreich das Recht absprechen, in diesem tragischen Konflikt Partei zu ergreifen. Aber zwei Dinge sind nicht hinnehmbar.

Erstens, die Identität der Seite, für die man steht, zu verbergen oder neu zu definieren. Zweitens, in diesem speziellen Fall, explizite oder implizite Sympathie für die Hamas als Deckmantel für ein hartes Vorgehen gegen reale oder imaginäre „bedrohliche“ Gruppierungen in Frankreich selbst zu nutzen.

Die Gleichsetzung der Hamas mit Palästina ist ein Verrat am palästinensischen Volk, darunter viele, vielleicht sogar die Mehrheit, die keine Sympathie für die Anwendung mutwilliger Gewalt im Dienste legitimer nationaler Bestrebungen hegen.

Die französischen Staats- und Regierungschefs sagen nur, was sie von Israel wollen, aber nie, was die Hamas tun soll. Sie vergessen, dass die Hamas diesen Krieg sofort beenden könnte, indem sie alle verbleibenden Geiseln freilässt und ihre Waffen abgibt. Selbst indirekte Unterstützung für die Hamas durch Kritik an Israel und seinen Staats- und Regierungschefs kann die verbliebenen Führungskräfte der Gruppe dazu ermutigen, den Konflikt zu verlängern und weitere Opfer zu verursachen.

Die Tageszeitung Kayhan aus Teheran, die die Ansichten des iranischen „Obersten Führers“ Ali Khamenei widerspiegelt, fordert die Hamas auf, den Krieg fortzusetzen, da sie zwar Territorium verloren habe, ganz zu schweigen von Zehntausenden Menschenleben in Gaza, aber „in amerikanischen und europäischen Universitäten und in der Weltöffentlichkeit gewonnen“ habe.

Dies ist ein Krieg, und wie jeder Krieg zielt er darauf ab, einen Sieger und einen Besiegten zu bestimmen. Dies zu verhindern, führt zu nichts anderem, als den Weg für grössere und tödlichere Kriege in der Zukunft zu ebnen.

Die diplomatischen Gesten Frankreichs in Bezug auf grosse Prinzipien und Gefühle erinnern an das Lied des grossen französischen Sängers und Songwriters Guy Béart:

„Sie geht mit Philippe ins Louvre-Museum, im Namen grosser Prinzipien, und dann geht sie mit Armand herumtollen, im Namen grosser Gefühle!“

Amir Taheri war von 1972 bis 1979 Chefredakteur der Tageszeitung Kayhan im Iran und ist seit 1987 Kolumnist bei Asharq Al-Awsat. Er war der Vorsitzende von Gatestone Europe. Dieser Artikel wurde ursprünglich von Asharq al-Awsat veröffentlicht. Übersetzung Audiatur-Online.

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