
Die Hamas ist heute isolierter als jemals zuvor seit ihrer Gründung. Bis Ende 2023 war Gaza das einzige Gebiet, das von der Muslimbruderschaft regiert wurde und von der Unterstützung des Iran, Katars und anderer Verbündeter profitierte. Diese Ära ist nun vorbei.
von Oded Ailam
Am 15. September 2025 ereignete sich im Gazastreifen ein historisches Ereignis. Es blieb von den weltweiten Medien fast unbemerkt, doch seine Bedeutung war enorm. Es markierte den Beginn vom Ende der brutalen Herrschaft der Hamas.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren weigerten sich die einfachen Bewohner Gazas, den in Tunneln versteckten Terroristen zu gehorchen. Stattdessen folgten sie den Evakuierungsanweisungen der IDF, die über Lautsprecher und Online-Kanäle verbreitet wurden. Rund 800.000 Einwohner, darunter Männer, Frauen und Kinder, sammelten ihre wenigen Habseligkeiten und gingen wie angewiesen nach Süden.
Die Hamas versuchte, sie mit Drohungen und Gewalt aufzuhalten, scheiterte jedoch. Am Abend wurde den Anführern der Gruppe in den zerstörten Vierteln im Norden Gazas klar, dass sie die Kontrolle über die Bevölkerung verloren hatten. Es war ein Moment bitterer Erkenntnis.
Von einer Armee zur Guerilla: Der Zusammenbruch einer Tötungsmaschine
Seit diesem Tag fungiert die Hamas nicht mehr als einheitliche militärische oder regierende Kraft. Was geblieben ist, ist eine Ansammlung verstreuter, halb unabhängiger Zellen, die sich an die Überreste einer einst organisierten Armee klammern.
Die IDF hat systematisch die meisten hochrangigen und mittleren Kommandeure der Hamas eliminiert, sodass die Gruppe nun ohne strategische Führung und Koordination ist. Die massenhaften öffentlichen Hinrichtungen mutmasslicher Kollaborateure im Oktober 2025, die von der Hamas selbst gefilmt und verbreitet wurden, sollten Macht und Autorität demonstrieren. In Wahrheit offenbarten sie jedoch Angst und inneres Chaos. Es war eine als Stärke getarnte Demonstration der Verzweiflung.
Die Clans von Gaza erheben sich
Während die Machtstruktur der Hamas bröckelt, zeichnet sich ein ebenso wichtiger sozialer und politischer Wandel ab. Zehn grosse Clans in Gaza stellen die Autorität der Hamas vorsichtig, aber zunehmend in Frage.
Im Stadtteil Shuja’iyya ist der Khalas-Clan aktiv geworden. In Rafah hat der Abu Shabab-Clan Stellung bezogen. Im Norden behauptet sich der al-Mansi-Clan. Auch Mitglieder der Clans Dughmush, Bakri und al-Astal haben in unterschiedlichem Masse Widerstand geleistet.
Keiner dieser Clans verfügt über die militärische Stärke, um die Hamas allein zu stürzen. Doch ihre Existenz als bewaffnete, organisierte Gemeinschaften mit eigenen Interessen und einer eigenen Führung stellt einen ernsthaften Riss in dem System der Angst und des blinden Gehorsams dar, das die Hamas über Jahre hinweg aufgebaut hat.
Regionale Isolation: Von den Gönnern im Stich gelassen
Auf regionaler Ebene ist die Hamas heute isolierter als jemals zuvor seit ihrer Gründung. Bis Ende 2023 war Gaza das einzige Gebiet, das von der Muslimbruderschaft regiert wurde und von der Unterstützung des Iran, Katars und anderer Verbündeter profitierte. Diese Ära ist nun vorbei.
Der Iran, der wichtigste Förderer der Hamas, ist derzeit damit beschäftigt, die Hisbollah im Libanon wieder aufzubauen, nachdem sie im Norden schwere Verluste gegen Israel erlitten hat. Katar, lange Zeit der wichtigste Geldgeber und diplomatische Beschützer der Gruppe, agiert angesichts zunehmender internationaler Vorwürfe der Unterstützung des Terrorismus vorsichtig.
Vor dem Krieg verfügte die Hamas über ein Jahresbudget von etwa 2,5 Milliarden Dollar. Etwa 62 Prozent stammten aus internen Steuern, die der Bevölkerung des Gazastreifens auferlegt wurden, während der Rest aus dem Iran, Katar, der Palästinensischen Autonomiebehörde, der UNRWA und globalen Geschäftsunternehmungen stammte.
Dieses Geld ist verschwunden. Heute ist die Hauptfinanzierungsquelle der Hamas der offene Diebstahl von humanitärer Hilfe, die für die Zivilbevölkerung des Gazastreifens bestimmt ist. Die Organisation stiehlt Lebensmittel und Medikamente von ihrem eigenen Volk, um ihre Kämpfer zu bezahlen und das zu erhalten, was von ihrem Regime übrig geblieben ist.
Das doppelte Spiel der Türkei und Katars
Zwei wichtige Akteure manipulieren die Situation weiterhin aus dem Hintergrund: die Türkei unter Präsident Erdoğan und Katar. Beide Länder, langjährige Unterstützer der Muslimbruderschaft, spielen ein vorsichtiges und zynisches doppeltes Spiel.
Oberflächlich betrachtet präsentieren sie sich als moderat und kooperativ gegenüber dem Westen. Die Türkei ist NATO-Mitglied, und Katar beherbergt amerikanische Militärstützpunkte. Beide Länder haben sogar daran mitgewirkt, die Hamas davon zu überzeugen, bestimmte Vorschläge von Präsident Trump in Betracht zu ziehen. Hinter den Kulissen schützen und unterstützen sie jedoch weiterhin die Hamas.
Die Türkei erlaubt der Hamas, Büros und Kommandozentralen auf ihrem Territorium zu betreiben. Katar beherbergt die oberste Führung der Organisation in Doha unter vollständigem Schutz und könnte bald die direkte Finanzierung wieder aufnehmen. Ihr gemeinsames Ziel ist es, die Hamas als scheinbar politische Bewegung zu erhalten, als „legitime Partei“ mit genügend militärischer Stärke, um die zukünftige Regierung des Gazastreifens unter türkischer und katarischer Schirmherrschaft zu beeinflussen.
Dies ist ein kalkulierter Versuch, eine terroristische Organisation als politischen Akteur neu zu positionieren, ihr internationales Image aufzupolieren und ihr zu ermöglichen, Israel unter dem Deckmantel der Legitimität weiterhin zu bedrohen. Für Israel stellt dies eine ernsthafte Herausforderung dar, insbesondere wenn es darum geht, die USA von der Gefahr dieses Ansatzes zu überzeugen.
Verstösse gegen den Waffenstillstand: Terror aus Gewohnheit
Warum verstösst die Hamas weiterhin gegen Waffenstillstandsabkommen? Die Antwort ist ebenso einfach wie aufschlussreich. Diese Verstösse werden nicht mehr von einer zentralen Kommandozentrale angeordnet. Es handelt sich um vereinzelte Handlungen lokaler Kommandeure, die ihren Anhängern und sich selbst beweisen wollen, dass sie noch Macht und Bedeutung haben.
Es gibt keinen einheitlichen Militärrat oder strategischen Befehl mehr. Was bleibt, ist Trägheit, ein chaotisches Muster von Gewalt, das eher aus Gewohnheit als aus Strategie heraus erfolgt. Jeder Verstoss schwächt die Hamas nur noch weiter und gibt Israel mehr moralische, rechtliche und operative Legitimität, um mit Gewalt zu reagieren.
Eine Krise des Bewusstseins
Die grösste Schwäche der Hamas ist nicht militärischer oder finanzieller Natur. Sie ist psychologischer Art. Die Organisation kann nicht akzeptieren, dass sie in der Region kein unabhängiger Akteur mehr ist. Sie ist zu einem Spielball geworden, den andere, insbesondere die Türkei und Katar, für ihre eigenen Interessen nutzen.
Israel steht nun vor einem entscheidenden Moment. Es muss die Regeln für die Zukunft festlegen, anstatt darauf zu warten, dass internationale Mächte, die oft mit den Realitäten der Region nicht vertraut sind, künstliche Beschränkungen auferlegen. Wenn Israel zurücksteckt und sich mit einem Teilerfolg zufrieden gibt, wird es die Fähigkeit verlieren, die strategische Realität der Nachkriegszeit zu gestalten.
Ein Moment, den man nicht verpassen sollte
Dies ist eine seltene strategische Chance für Israel. Die Hamas befindet sich an ihrem schwächsten Punkt seit ihrer Gründung. Ihre Führung wurde eliminiert oder in den Untergrund getrieben. Ihre militärische Macht ist erschöpft, ihre Finanzen sind aufgebraucht und ihre Unterstützung durch die Zivilbevölkerung schwindet.
Jetzt ist es an der Zeit, die Überreste ihres Terrornetzwerks zu zerschlagen, die Türkei und Katar aus dem Spiel zu nehmen und sich die Unterstützung der USA zu sichern, um einen Wiederaufbau der Hamas zu verhindern. Auf den üblichen Zyklus diplomatischer Verhandlungen zu warten, würde bedeuten, diese Gelegenheit zu verpassen und in einen Zustand permanenter Bedrohung zurückzufallen.
Israel kann dafür sorgen, dass das letzte Kapitel der Herrschaft der Hamas im Gazastreifen auch wirklich das letzte ist. Wenn dieser Vorhang einmal gefallen ist, sollte er nie wieder aufgehen.
Oded Ailam ist ehemaliger Leiter der Abteilung für Terrorismusbekämpfung beim Mossad und derzeit Forscher am Jerusalem Center for Security and Foreign Affairs (JCFA). Übersetzung Audiatur-Online.


























