«Das System hat versagt»: Der Antisemitismus blüht in Frankreich

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Anti-Israelische Demonstration in Frankreich 2021. Foto IMAGO / NurPhoto
Anti-Israelische Demonstration in Frankreich 2021. Foto IMAGO / NurPhoto
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Ein wachsender Teil der französischen Gesellschaft ist nicht der Meinung, dass die Probleme der Juden auch ihre Probleme sind, wie eine aktuelle Umfrage ergab.

von Ben Cohen

Vor fünf Jahren wurde die 85-jährige Holocaust-Überlebende Mireille Knoll in ihrer Pariser Wohnung von zwei Einbrechern brutal ermordet, von denen einer ein Nachbar war, den sie seit seiner Kindheit kannte.

Der Mord an Knoll war das zweite Mal in weniger als einem Jahr, dass eine ältere, allein lebende französische Jüdin allein deshalb ermordet wurde, weil sie Jüdin war. Im April 2017 wurde Sarah Halimi, eine 65-jährige Witwe, ermordet, nachdem ein Eindringling – im Fall von Knoll ein Nachbar in dem öffentlichen Wohnblock, in dem sie lebte – in ihre Wohnung eingedrungen war, sie brutal geschlagen und dann aus einem Fenster im dritten Stock geworfen hatte, wobei er während der gesamten Tortur islamistische und antisemitische Parolen brüllte.

Der Versuch, Halimis Mörder, Kobili Traoré, vor Gericht zu stellen, geriet zu einer beleidigenden Farce, nachdem Frankreichs oberstes Berufungsgericht ihn im April 2021 von einem Prozess ausschloss, mit der Begründung, dass sein Cannabiskonsum in der Mordnacht ihn vorübergehend unzurechnungsfähig gemacht habe und er daher nicht für seine Taten verantwortlich sei – eine Entscheidung, die Crif, das normalerweise zurückhaltende Gremium, das die französischen Juden vertritt, zu der Erklärung veranlasste, dass “wir in unserem Land jetzt ungestraft Juden foltern und töten können”. Doch später im Jahr, im November, kam der Prozess gegen die beiden Mörder von Knoll – ihren Nachbarn Yacine Mihoub und seinen Komplizen Alex Carrimbacus – zu einem richtigen Ergebnis. Mihoub erhielt eine lebenslange Haftstrafe, Carrimbacus erhielt 15 Jahre, und Zoulikha Kellaf, Mihoubs Mutter, erhielt drei Jahre, weil sie das Messer gereinigt hatte, mit dem elfmal auf Knoll eingestochen wurde, bevor ihre Leiche angezündet wurde.

Es wäre tröstlich zu berichten, dass diese beiden Gräueltaten und die grausame Verweigerung grundlegender Gerechtigkeit für die Familie Halimi in Frankreich zu einer Welle der Sympathie für die jüdische Gemeinschaft des Landes und zu der Entschlossenheit geführt haben, den gewalttätigen Antisemitismus auszumerzen. Stattdessen ist alles beim Alten geblieben: Politiker der Mitte haben ihre Empörung zum Ausdruck gebracht, Hassverbrechen und antisemitische Gewalt gehen in ähnlichem Tempo weiter, und die Rechtsextremen, die Linksextremen und die islamistischen Gruppen, die sich in den verschiedenen muslimischen Gemeinschaften Frankreichs eingenistet haben, sind begeistert von der Verbreitung antisemitischer Botschaften. Seit Knolls Tod wurden mindestens zwei weitere Juden unter verdächtigen Umständen getötet – der 31-jährige Jérémy Cohen, der von einer Strassenbahn überfahren wurde, als er vor einer Bande floh, die ihn im Pariser Vorort Bobigny angriff, nachdem sie offenbar seine Kippa entdeckt hatten, und der 89-jährige René Hadjaj, der aus dem 17. Stock seines Wohnhauses in Lyon gestossen wurde, wiederum von einem Nachbarn, den er Berichten zufolge gut kannte. Dennoch haben die Behörden kaum Anstrengungen unternommen, um die Täter zu ermitteln und vor Gericht zu stellen. Darüber hinaus haben im gleichen Zeitraum antisemitische Phrasen Hochkonjunktur, angeheizt durch die sozialen Proteste in Frankreich, die von der Gilet Jaunes-Bewegung (“Gelbwesten”) ausgelöst wurden, sowie durch Verschwörungstheorien über die Ursprünge und die Verantwortung für die COVID-19-Pandemie.

Letzte Woche brachte eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos im Auftrag von Crif weitere ernüchternde Ergebnisse. Die beunruhigende Erkenntnis ist, dass jüngere Menschen für antisemitische Ideologie empfänglicher sind als ihre älteren Mitbürger. Ganze 42 % der Befragten unter 35 Jahren haben sechs oder mehr antisemitische Vorurteile, während 16 % der gleichen Altersgruppe glauben, dass der Massenexodus der französischen Juden “eine gute Sache für Frankreich” wäre.

Diese Trends in Frankreich sind auch anderswo in Europa zu beobachten. So ergab eine im Januar in den Niederlanden durchgeführte Umfrage, dass 23 % der befragten Millennials und der Generation Z glauben, dass der Holocaust entweder eine Erfindung ist oder dass die Zahl der von den Nazis ermordeten Juden stark übertrieben wurde. All dies deutet darauf hin – wie Yonathan Arfi, der Leiter von Crif, in einem Interview mit der französischen Zeitschrift Le Point betonte -, dass das “System versagt hat”.

“Wir waren lange Zeit davon überzeugt, dass der Antisemitismus allmählich aussterben würde, aber wir stellen heute fest, dass die Zeit gegen uns arbeitet”, sagte er. “Eine der Erklärungen ist, dass der Antisemitismus mutiert ist und neue Formen annimmt, für die unsere herkömmlichen Massnahmen eindeutig nicht mehr ausreichen.”

Entscheidend ist, dass Arfi die schmerzliche Wahrheit anerkannt hat, dass die Aufklärung der jüngeren Generationen über den Holocaust sie nicht gegen Antisemitismus schützt. “Wir dachten lange Zeit, dass wir den Antisemitismus bekämpfen könnten, indem wir die Erinnerung an den Holocaust lehren”, bemerkte er. “Ich denke, das bleibt natürlich ein grundlegendes Element, aber es ist nicht mehr ausreichend. Heute gibt es judenfeindliche Diskurse, die gerade durch diese Erinnerungsarbeit genährt werden. Manche zögern zum Beispiel nicht mehr zu sagen, dass wir zu viel über die Shoah reden.”

Laut Arfi liegt ein Teil des Problems darin, dass der Lehrplan an französischen Schulen den Schwerpunkt auf die Rolle der Juden als Opfer legt – von der Dreyfus-Affäre in den 1890er Jahren bis zur Shoah ein halbes Jahrhundert später. Er wünscht sich eine stärkere Betonung der positiven Beiträge der Juden zur französischen Gesellschaft und Kultur, denn “die positive Betrachtung der jüdischen Erfahrung in Frankreich ist auch ein Mittel zur Bekämpfung des Antisemitismus”.

“Das System das versagt hat, ist dasselbe System welches noch immer für die Erziehung zuständig ist.”

Sicherlich wäre ein umfassenderes Bild der jüdischen Geschichte Frankreichs zu begrüssen, zumal die Ipsos-Umfrage die beklagenswerte Unkenntnis über das Judentum im Lande insgesamt aufzeigte: weniger als 30 % der Befragten wiesen einige Grundkenntnisse über das jüdische Leben in Form von Speisevorschriften, Einhaltung des Sabbats und so weiter auf. Aber es gibt ein tieferes Problem: Das System, das versagt hat, ist dasselbe System, das noch immer für die Erziehung zuständig ist. Wenn junge Menschen davon überzeugt sind, dass die Geschichte, die ihnen beigebracht wird, im Wesentlichen eine Erfindung ist, und wenn diese Ansicht in ihren sozialen Kreisen und in den sozialen Medien verstärkt wird, dann können Politiker, der Staat oder ihre Lehrer nur sehr wenig tun. Daher das ständige Schauspiel von Politikern von der gemässigten Linken bis zur rechten Mitte, die das Anwachsen des Antisemitismus beklagen, aber nicht in der Lage sind, ihn sinnvoll zu bekämpfen – in Frankreich, in Deutschland und überall in Europa.

In einem Interview mit dem in London ansässigen Jewish Chronicle im vergangenen November stellte Keren Knoll, die Enkelin von Mireille Knoll, fest, dass mehr Juden als je zuvor Frankreich verlassen wollten. Sie argumentierte dann, dass “Antisemitismus nicht nur ein jüdisches Problem ist, sondern das Problem aller. Extreme Fanatiker sind jedermanns Problem, und solange wir es nicht so angehen, wird das Problem nicht gelöst werden.”

Die Ipsos-Umfrage zeigt jedoch, dass ein wachsender Teil der französischen Gesellschaft nicht damit einverstanden ist, dass die Probleme der Juden auch ihre Probleme sind. Es gibt hier wirklich keine einfachen Antworten, was zum Teil erklärt, warum jüdische Aktivisten, vor allem in Israel und Amerika, Juden immer wieder auffordern, Frankreich zu verlassen, und sich gleichzeitig irritiert darüber wundern, dass überhaupt jemand von ihnen bleiben möchte.

Meiner Meinung nach sollten wir nicht die antisemitische Sichtweise vertreten, dass es in Frankreich keinen Platz für Juden gibt, selbst wenn unsere Motive für diese Aussage in Gefühlen der Solidarität begründet sind. Diejenigen französischen Juden, die nach Israel auswandern wollen, verdienen Ermutigung und materielle Unterstützung, aber diejenigen, die bleiben wollen, haben als französische Staatsbürger ein grundlegendes Menschenrecht, dies zu tun. Diese Erkenntnis muss die Grundlage für jede neue Initiative zur Bekämpfung dieses hartnäckigen Hasses sein.

Ben Cohen ist ein in New York City ansässiger Journalist und Autor. Auf Englisch zuerst erschienen bei Jewish News Syndicate. Übersetzung Audiatur-Online.

1 Kommentar

  1. Die Grundlage dieses Hasses besteht sicher auch darin, dass sich Frankreich als Kolonialherr verhält und zudem seine Kriege auch seine Kolonialkriege von seinen vermeintlichen Leibeigenen austragen lässt. Statt den schmerzhaften Weg der Gleichberechtigung zu gehen, sollen jüdische Franzosen den Preis zahlen. Da heißt es doch, nächstes Jahr in Jerusalem.

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