Im Kampf gegen Corona setzt die EU auch auf ein israelisches Medikament

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Symbolbild. Foto ThisisEngineering RAEng / Unsplash.com
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Im Kampf gegen die Corona-Pandemie setzt die Europäische Union auf ein israelisches Medikament: Rebif, welches in Israel von Michel Revel am Weizmann Institut für Wissenschaften in Rehovot vor Jahrzehnten zur Behandlung von Multipler Sklerose entwickelt wurde.

Wie die Nachrichtenagentur Reuters kürzlich berichtete – ohne Revel, das Weizmann Institut und Israel zu erwähnen –, hat die EU-Kommission sich bei dem  Wissenschafts- und Technologieunternehmen Merck die Lieferung des Wirkstoffs Interferon beta-1a (Handelsname: Rebif) gesichert. Merck ist einer der weltweit führenden Pharmakonzerne auf den Gebieten der Multiplen Sklerose und der Onkologie. Reuters schreibt:

„Der Darmstädter Merck-Konzern erklärte, man sei von der Europäischen Kommission gebeten worden, sich darauf einzustellen, Rebif auf Anfrage an EU-Länder zu liefern, wenn über den Einsatz des Mittels bei Covid-19 entschieden wird. Gegenwärtig liefen noch klinische Studien mit Rebif zur Behandlung von Corona-Patienten und das Mittel sei für diese noch nicht offiziell zugelassen.”

Es besteht die Hoffnung, dass Rebif schwerkranken Covid-19-Patienten helfen könnte, die an einer Überreaktion des Immunsystems leiden, die zu Organversagen führen kann. Dieser sogenannte Zytokinsturm stellt auch für junge Menschen ohne Vorerkrankungen ein Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf einer Covid-19-Infektion dar. Wie es auf der Website von Merck heisst, ist Rebif zur Behandlung von schubförmiger Multipler Sklerose indiziert und bisher von keiner Zulassungsbehörde für die Behandlung von COVID-19 oder als antiviraler Wirkstoff zugelassen. Ein Sprecher von Merck hat die Richtigkeit des Merck Statements in dem Reuters-Berichts gegenüber Audiatur-Online bestätigt.

Schon im März hatte der Merck-Konzern bekannt gemacht, dass er dem französischen Institut für Gesundheit und medizinische Forschung (INSERM) auf dessen Ersuchen Interferon beta-1a Rebif „als Studienmedikation für eine klinische Studie“ kostenlos zur Verfügung gestellt habe. Im April meldete Merck, dass auch die Weltgesundheitsorganisation WHO mögliche positive Wirkungen von Rebif auf Patienten mit Covid-19 untersuche: 290.000 Einheiten des Wirkstoffs habe Merck der WHO als Studienmedikation kostenlos zur Verfügung gestellt, um sie weltweit zu testen.

Entdecker des ersten und wichtigsten Medikaments gegen Multiple Sklerose

Was weder Reuters noch die New York Times in ihrem Bericht erwähnen: Die Menschheit verdankt Rebif israelischen Forschern: „Entdecker und Entwickler von Rebif ist Michel Revel, der sein ganzes Forscherleben der Suche nach MS-Therapien gewidmet hat“, heisst es in einem lesenswerten Bericht auf der Unternehmenswebsite von Merck. Dort erfährt man, dass Michel Revel eigentlich Arzt werden wollte. Doch als Medizinstudent an der Strassburger Universität habe er Anfang der 1960er-Jahre gemerkt, dass die Arbeit am Patienten nichts für ihn sei. Er wechselte in die biochemische Forschung – eine Entscheidung, die „zur Entdeckung des ersten und wichtigsten Medikaments gegen Multiple Sklerose (MS) führte und Revel zum Begründer der israelischen Biotechnologie-Branche werden liess“, so der Bericht. Es sei die „Zeit der Geburt der Molekularbiologie“ gewesen, und Revel habe am Pariser Institut Pasteur die „Übersetzung der Gene in Proteine, die Arbeitsmoleküle der Zelle“ studiert:

„Er suchte nach einem Weg, den Proteinproduktionsprozess ein- und auszuschalten: ‚Damals war gerade entdeckt worden, dass ein Botenstoff namens Interferon-beta die Synthese von Virusproteinen blockieren konnte.’ Dass dieser Botenstoff MS-Patienten helfen könnte, ahnte damals noch niemand. Um Interferon-beta erforschen zu können, brauchte Revel den Stoff in grösseren Mengen: ‚Damals konnte man Proteine nicht einfach bestellen, man musste sie selbst gewinnen.’ Interferon-beta findet sich vor allem in Bindegewebszellen – und in Israel fallen genug davon an, dank der vielen Beschneidungen männlicher Säuglinge nach jüdischem Brauch.“

Problemlos war das aber nicht. Wie Avi Jorisch, Autor des Buches Thou Shalt Innovate: How Israeli Ingenuity Repairs the World, letztes Jahr in einem Beitrag der Jerusalem Post erklärte, wandten sich Revel und seine Kollegen an etliche Mohalim – so heissen diejenigen, die die rituelle Beschneidung nach jüdischer Sitte vornehmen. Die Mohalim wiesen die Forscher ab, denn die Vorhaut wird nach der Entfernung traditionell vergraben. Revel gelang es indessen, in dem Rabbi Menachem Mendel Schneerson, dem Führer der chassidischen Chabad-Lubawitsch-Bewegung, einen Helfer zu finden, der die Verwendung der Vorhaut für medizinische Forschung gestattete. So konnte Revel Interferon-beta gewinnen. Nachdem er im Labor gezeigt hatte, dass sich der Stoff auf diese Weise herstellen lässt, machte er sich auf die Suche nach einem Partner, der das Molekül in grösserem Massstab herstellen konnte. „Unsere Bedingung war, dass die Anlage in Israel stehen müsse“, sagt Revel. 1979 tat er sich mit Fabio Bertarelli zusammen, der damals das Schweizer Pharmaunternehmen Serono leitete, das seit 2007 Teil von Merck ist. Gemeinsam entwickelten Revel und Serono das MS-Medikament Rebif, das seit nunmehr zwei Jahrzehnten auf dem Markt ist.

Prof. Michel Revel anlässlich eines Symposiums zu seinem 80. Geburtstag am 20. August 2018. Foto Screenshot The Israel Academy of Sciences and Humanities / Youtube

Heute ist Revel über achtzig Jahre alt und gilt als „lebender Riese in der wissenschaftlichen Gemeinschaft“, sagt Dr. Tamir Ben-Hur, Leiter der Abteilung für Neurologie am Hadassah-University Medical Center. „Er hat den Lauf der Geschichte durch seine Arbeit an Interferonproteine verändert, indem er die Art und Weise verändert hat, wie Ärzte Multiple Sklerose behandeln.“

Revel selbst war derjenige, der die Idee hatte, Rebif auch gegen den Zytokinsturm bei Covid-19 einzusetzen. Ob sich dieser Therapieansatz als erfolgreich herausstellen wird oder nicht, kann niemand vorhersagen. Was aber auffällt, ist, dass die Rolle israelischer Forscher bei der Entwicklung einer bahnbrechenden Therapie in der Berichterstattung verschwiegen wird – nicht zum ersten Mal.

Über Stefan Frank

Stefan Frank ist freischaffender Publizist und lebt an der deutschen Nordseeküste. Er schreibt regelmässig über Antisemitismus und andere gesellschaftspolitische Themen, u.a. für die „Achse des Guten“, „Factum“, das Gatestone Institute, die „Jüdische Rundschau“ und „Lizas Welt“. Zwischen 2007 und 2012 veröffentlichte er drei Bücher über die Finanz- und Schuldenkrise, zuletzt "Kreditinferno. Ewige Schuldenkrise und monetäres Chaos."

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