Yitzhak Rabin: Politischer Mythos und historische Realität

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Yitzhak Rabin. Foto IMAGO / United Archives
Yitzhak Rabin. Foto IMAGO / United Archives
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Die Ermordung Yitzhak Rabins am 4. November 1995 gehört zu den einschneidendsten Zäsuren in der modernen israelischen Geschichte. Die Tötung eines amtierenden Premierministers durch einen jüdischen Nationalisten – begangen im Namen von Glauben und Land – legte Bruchlinien offen, die Israels Gesellschaft schon lange prägten: zwischen Säkularismus und Religion, Nationalismus und Liberalismus, militärischem Realismus und politischem Idealismus.

Wie nach vielen historischen Traumata entstand auch hier der Versuch, dem Ereignis Sinn zu geben – und daraus erwuchs eine dichte Schicht politischer Mythen. In den vergangenen drei Jahrzehnten wurde Rabin vom komplexen Staatsmann zu einem Symbol verwandelt, zu einer Projektionsfläche israelischer Hoffnungen und Enttäuschungen.

Dieser Essay untersucht die zentralen Mythen, die sich um Rabin verfestigt haben – nicht, um sein Vermächtnis zu schmälern, sondern um dessen historische und politische Substanz zurückzugewinnen. Rabin war weder der visionäre Friedensstifter der kollektiven Erinnerung noch der naive Idealist, als den ihn seine Gegner darstellen. Er war ein vorsichtiger Stratege, dessen Engagement im Oslo-Prozess pragmatische Berechnung, sicherheitspolitischen Instinkt und tiefes Misstrauen gegenüber seinen palästinensischen Gesprächspartnern miteinander verband.

Bevor Rabin in die Politik eintrat, war er ein Soldat von Disziplin und Methode. Als Generalstabschef der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) leitete er den israelischen Sieg im Sechstagekrieg von 1967 – einen Feldzug, der Israels Kontrolle über das Westjordanland, den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel und die Golanhöhen ausweitete. Der Triumph machte Rabin zum Nationalhelden, stellte ihn und den Staat jedoch zugleich vor ein neues strategisches Dilemma: die Verwaltung eroberter Gebiete mit Millionen palästinensischer Bewohner. Der Gegensatz zwischen militärischem Erfolg und dem Streben nach politischer Normalisierung sollte Rabins spätere Laufbahn prägen.

Anfang der 1990er Jahre wurde Rabin zur glaubwürdigsten Stimme des israelischen Friedenslagers. 1993 unterzeichnete er als Premierminister die Oslo-Abkommen mit Jassir Arafat und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) – ein Prozess gegenseitiger Anerkennung, der auf dem Papier ein Ende jahrzehntelanger Gewalt versprach. Im folgenden Jahr erhielt er gemeinsam mit Arafat und Schimon Peres den Friedensnobelpreis.

Das Versprechen von Oslo war jedoch von Beginn an umstritten. Unter Israels religiösen Nationalisten galt jeder territoriale Rückzug als Verrat am biblischen Erbe und als existenzielle Bedrohung jüdischer Souveränität. Für einen von ihnen, Jigal Amir, bedeutete Rabins Entscheidung, Teile des „Landes Israel“ abzutreten, Hochverrat – religiös gerechtfertigt. Seine Kugeln beendeten Rabins Leben und leiteten zugleich eine Phase moralischer Selbstprüfung in der israelischen Gesellschaft ein.

Der Schock der Ermordung führte rasch zur Bildung von Mythen. An erster Stelle stand die Vorstellung, Rabins Tod habe Israels letzte Chance auf Frieden zunichtegemacht. In dieser Lesart – geteilt von vielen westlichen Staatschefs und einem grossen Teil der israelischen Linken – wurde Rabin zur unersetzlichen Figur: dem einzigen, der Israelis und Palästinenser hätte versöhnen können.

Diese Deutung übersieht, dass der Oslo-Prozess nach Rabins Tod nicht endete. Seine Nachfolger – darunter Benjamin Netanjahu, der als Oppositionsführer während Rabins Amtszeit ein vehementer Gegner der Oslo-Abkommen gewesen war – setzten Teile davon fort, vor allem unter starkem Druck der Vereinigten Staaten. Netanjahu unterzeichnete sowohl das Hebron-Abkommen von 1997 als auch das Wye-River-Memorandum von 1998, die weitere territoriale Rückzüge und eine verstärkte Koordination mit der Palästinensischen Autonomiebehörde vorsahen. In den folgenden Jahren versuchten auch andere Ministerpräsidenten – Ehud Barak, Ariel Sharon, Ehud Olmert und selbst Netanjahu erneut im Jahr 2014 – neue Verhandlungen, stiessen jedoch immer wieder an dieselbe Mauer palästinensischer Verweigerung.

Das Scheitern des Prozesses war somit weniger Rabins Abwesenheit geschuldet als vielmehr der anhaltenden Unfähigkeit – und in vielen Kreisen auch der bewussten Weigerung – der palästinensischen Führung, die Legitimität und Dauerhaftigkeit des jüdischen Staates anzuerkennen.

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Washington, DC. 13.09.1993. Präsident William Jefferson Clinton ist Gastgeber der Unterzeichnung des Osloer Friedensabkommens mit dem israelischen Ministerpräsident Yitzhak Rabin und dem Vorsitzenden der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, Yasser Arafat. Foto IMAGO / ZUMA Press Wire

Im Zentrum von Oslo stand eine tiefe Asymmetrie. Für Rabin war es ein pragmatisches Experiment zur Konfliktsteuerung; für Arafat eine strategische Chance zur Rehabilitierung. Nach der Vertreibung der PLO aus dem Libanon 1982 lebte Arafat im Exil in Tunis, weit entfernt von der Realität der Palästinenser in Gaza und im Westjordanland. Die Erste Intifada (1987–1993) war weitgehend ohne seine Führung ausgebrochen und hatte die Schwäche der PLO wie auch den Aufstieg der Hamas offengelegt. Verhandlungen mit Israel boten Arafat die Möglichkeit zur Rückkehr auf die politische Bühne und zur Wiedererlangung internationaler Legitimität.

Doch sein Bekenntnis zu einem echten Zusammenleben blieb von Beginn an zweifelhaft. Am Tag der Unterzeichnung der Oslo-Abkommen erklärte Arafat gegenüber arabischen Medien, die Vereinbarung sei lediglich eine taktische Etappe auf dem Weg zur „Befreiung ganz Palästinas“. Diese Doppelstrategie sollte sich bald deutlicher zeigen.

Das Scheitern der Verhandlungen nach Rabins Tod lässt sich nicht ohne Arafats strategisches Kalkül verstehen. Als Premierminister Ehud Barak im Jahr 2000 auf dem Camp-David-Gipfel einen umfassenden Friedensplan anbot – einschliesslich eines palästinensischen Staates auf nahezu dem gesamten Westjordanland, Ostjerusalems als Hauptstadt und Regelungen zur Entschädigung von Flüchtlingen – lehnte Arafat das Angebot ohne Gegenvorschlag ab. Die darauf folgende Zweite Intifada, geprägt von einer Welle von Selbstmordanschlägen in israelischen Städten, veränderte die öffentliche Stimmung tiefgreifend und diskreditierte das Lager des Friedens. Das Ausmass von Baraks Angebot – nahezu vollständiger territorialer Rückzug und eine Teilung Jerusalems – erscheint rückblickend als Zugeständnis, das nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem damit verbundenen Zusammenbruch jedes verbliebenen Vertrauens in die Möglichkeit des Zusammenlebens heute undenkbar wäre.

Der frühere US-Präsident Bill Clinton bezeichnete Arafats Ablehnung später als seine „grösste persönliche Enttäuschung“ und erklärte, er habe sich „aufgerieben, um den Palästinensern einen Staat zu ermöglichen“. Das Muster verpasster Chancen wurde zu einem wiederkehrenden Motiv der Konfliktgeschichte.

Das eigentliche Problem lag nicht in Rabins Abwesenheit, sondern in der fortdauernden Weigerung vieler palästinensischer Fraktionen, Israels Existenzrecht anzuerkennen. Seit den 1930er Jahren prägt die Vorstellung, Israel sei ein vorübergehendes koloniales Gebilde – bestimmt, wie die Kreuzfahrerstaaten zu zerfallen – grosse Teile des palästinensischen Denkens. In diesem Weltbild gelten Zugeständnisse als Schwäche, Kompromisse als Verrat und und Verhandlungen bestenfalls als taktische Manöver.

Die Formel „Land für Frieden“, die Rabins Strategie leitete, brachte daher nie die erhoffte Gegenseitigkeit. Ariel Scharons Rückzug aus Gaza im Jahr 2005, einseitig und innenpolitisch kostspielig, führte nicht zu Frieden, sondern zu mehr als 30.000 Raketen auf israelische Städte. Die Lehre für viele Israelis war eindeutig: territoriale Konzessionen brachten keine Sicherheit, sondern neue Verwundbarkeit.

Ein gegenteiliger Mythos, vor allem von der israelischen Rechten gepflegt, zeichnet Rabin als weltfremden Träumer ohne Sicherheitsverständnis. Doch auch dieses Bild täuscht. Die meiste Zeit seiner Laufbahn galt Rabin als Inbegriff des sicherheitspolitischen Realisten – vorsichtig, methodisch und illusionslos. Seine letzte Rede vor der Knesset, nur einen Monat vor seiner Ermordung, machte dies deutlich: Er sprach nicht von einem palästinensischen Staat, sondern von einer „Entität, die weniger als ein Staat“ sei – mit Selbstverwaltung unter israelischer Sicherheitsaufsicht.

Rabins strategische Leitlinien waren eindeutig. Er sah Israels endgültige Grenzen jenseits der Waffenstillstandslinien von 1967; das Jordantal sollte unter israelischer Kontrolle bleiben; und Jerusalem – einschliesslich Ma’ale Adumim und Givat Ze’ev – sollte Israels „vereinigte Hauptstadt“ sein. Auch die Idee eines Landtauschs als Ausgleich für Siedlungsblöcke lehnte er ab – ein Konzept, das erst Jahre später an Bedeutung gewann.

Sein Misstrauen gegenüber Arafat war gut dokumentiert. Im Juni 1993, Monate vor der Unterzeichnung von Oslo, schrieb Rabin an Aussenminister Schimon Peres, um die geheimen Verhandlungen auszusetzen – aus Sorge über deren Richtung. Als er sie schliesslich fortsetzen liess, bestand er auf einer ausdrücklichen Ablehnung des Terrorismus, die jedoch nur vage formuliert wurde.

Berichte aus seinem Umfeld deuten darauf hin, dass Rabins Zweifel nie verschwanden. Seine Tochter Dalia Rabin erinnerte sich später: „Am Vorabend der Ermordung erwog er, den Prozess einzufrieren – wegen der eskalierenden Anschläge.“ Der damalige Chef des Militärgeheimdienstes, Mosche Ja’alon, berichtete, Rabin habe nach den nächsten Wahlen „mit Arafat abrechnen“ wollen, dessen Doppelspiel er erkannt habe.

Die Ermordung beendete nicht nur ein Leben; sie veränderte Israels politische Landschaft. Die Spaltungen, die sie sichtbar machte – zwischen jenen, die Oslo als moralische Notwendigkeit sahen, und jenen, die es als existenzielle Torheit betrachteten – prägen bis heute den politischen Diskurs. In den folgenden Jahrzehnten schwankten israelische Regierungen zwischen vorsichtiger Annäherung und erneuter Skepsis.

Das ideologische Klima, aus dem Amir hervorging, ist nicht verschwunden. 2022 kehrte Benjamin Netanjahu an die Macht zurück und verbündete sich mit ultranationalistischen Figuren wie Itamar Ben-Gvir – Persönlichkeiten, deren Weltbild Elemente jenes radikalen Milieus aufgreift, das einst Rabin verteufelte. So schloss sich der Kreis der Geschichte auf beunruhigende Weise: Die Strömungen, die Rabin einst als Verräter brandmarkten, sitzen heute mit am Regierungstisch.

Die Persistenz der Rabin-Mythen zeigt die Macht des politischen Gedächtnisses, historische Komplexität zu überlagern. Für die einen ist Rabin der gefallene Prophet des Friedens, für die anderen der fehlgeleitete General, der mit der Sicherheit Israels spielte. Beide Bilder verstellen den Blick auf den Menschen selbst: einen Führer, dessen Pragmatismus in militärischer Disziplin wurzelte, dessen Glaube an Verhandlungen stets von Zweifel begleitet war und dessen Tragödie weniger im Idealismus als in den Widersprüchen seiner Epoche lag.

Drei Jahrzehnte später erscheint die Oslo-Ära als historische Klammer – ein Moment vorsichtiger Zuversicht, der in erneuten Zyklen von Gewalt und Misstrauen endete. Das Massaker der Hamas vom Oktober 2023, bei dem über tausend Israelis ermordet und ganze Gemeinden nahe Gaza ausgelöscht wurden, markierte einen entscheidenden Bruch im israelischen Bewusstsein. Es war nicht nur ein Akt unvorstellbarer Grausamkeit, sondern auch das symbolische Ende einer politischen Tradition. Das israelische Friedenslager, bereits geschwächt durch zwei Jahrzehnte gescheiterter Verhandlungen und wiederkehrender Terrorwellen, wurde faktisch ausgelöscht. Die Vorstellung, territorialer Kompromiss könne Koexistenz schaffen – einst moralischer und strategischer Kern der Rabin-Doktrin – verlor ihre letzte Glaubwürdigkeit.

Und doch bleibt Rabins Vermächtnis ein Spiegel der ungelösten Dilemmata Israels: zwischen dem Streben nach Normalität und dem Zwang zur Sicherheit, zwischen Mythos und Realität. Ihn zu verstehen bedeutet weder Heiligsprechung noch Verdammung – sondern die Erkenntnis, dass Staatskunst in einem Land, das von Absolutheiten heimgesucht wird, ein beständiges Ringen mit dem Unmöglichen ist.

1 Kommentar

  1. Oh bitte, die Welt hat sich verändert. Nach dem 7.Oktober 2023 sollte auch ihnen klar sein, dass mit arabischen Nazis, also den Moslembruderschaften kein Frieden zu schließen ist. Zudem gibt es immer zwei Wege zum Zionismus, Religion und Sozialismus. Moslembruderschaften und Sozialismus sind erbitterte Feinde, da gibt es keine Gemeinsamkeiten. Westeuropa verdrängt gerne, wozu Nazis fähig sind und Russland ist dumm genug, Nazis instrumentalisieren zu wollen. Ich halte den Rückzug aus Gaza zwar nicht für Verrat aber für einen Fehler. Die Hamas will weder Waffen noch Macht abgeben. also muss sie vernichtet werden. Und da „Westjordanland“ ebenfalls nur ein Rückzugsgebiet von Terroristen und Moslembruderschaften ist, müssen beide Regionen „eingemeindet“ werden. Und natürlich müssen sich Drusen, Kurden, Aleviten, Alawiten und Assyrer Israel anschließen dürfen. Letztlich ist der Libanon nur ein Gebiet nicht größer als der Harz und ohne drusische Gebiete umfasst das Gebiet nur noch den Westharz. Ist so ein postkoloniales Gebiet der Franqueafrique überhaupt überlebensfähig?

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