
Boruch Siris ist Krankenhausseelsorger – in Israel eine Seltenheit. Der Rabbiner will solche Angebote landesweit etablieren. In der Soroka-Klinik von Beerscheba ist er auf einem guten Weg.
von Andrea Krogmann
Boruch Siris kam durch die Hintertür. Als der 50-Jährige 2019 beim Soroka-Krankenhaus anklopfte, war Krankenhausseelsorge ein Fremdwort für die Uniklinik von Beerscheba. Die Einrichtung bietet medizinische Versorgung für mehr als eine Million Menschen in der Negev-Wüste. Und der orthodoxe Rabbiner, der bis dahin jüdische Schriften studiert hatte, war auf der Suche nach einem lebensnahen Job. Der Türöffner: ein Forschungsprojekt, das Soroka um eine spirituelle Abteilung erweitern sollte, ein in israelischen Kliniken junges und unterentwickeltes Feld.
„Chaplain“, Seelsorger, steht heute auf seiner Visitenkarte – dazu auf Hebräisch „Melaweh ruchani“, geistlicher Begleiter. „In den USA ist das etwas völlig Normales, jedes Krankenhaus hat einen Seelsorger und eine Abteilung für spirituelle Betreuung“, sagt Siris, der in New Jersey aufgewachsen ist. Für Israel ist das Programm, das er leitet, eines der ersten dieser Art. Vielleicht, mutmasst er, habe der späte Start mit dem permanenten „Überlebensmodus“ zu tun, in dem sich das Land befinde. Allein in seine sechsjährige Amtszeit fielen die Corona-Pandemie und mehrere Kriege.
Einheit für Einheit, Abteilung für Abteilung sei er durch das Krankenhaus getingelt, um sich, seine Arbeit und seinen Plan vorzustellen: die „Goldstandards der USA“ in die israelische Wüste bringen und spirituelle Begleitung zum festen Bestandteil der Patientenversorgung machen.
Siris trifft Patienten, Ärzte, Krankenschwestern, Sozialarbeiter, nimmt an den morgendlichen Besprechungen teil. Für ihn allein wäre die Klinik mit 1.200 Betten jedoch eine unlösbare seelsorgerische Aufgabe. Deshalb unterstützt ihn seit 2021 eine Kollegin, Frieda Ezrielev. Die 52-Jährige spricht auch Russisch. Gemeinsam suchen sie nach arabischer Verstärkung. „Am liebsten eine Frau, wegen der kulturellen Normen“, sagt Siris. Ein Drittel der Menschen im Einzugsbereich von Soroka spricht Arabisch, viele Frauen aus der beduinischen Gesellschaft tun sich mit einer Seelsorgerin leichter.
Die eher traditionelle Haltung der Bevölkerung macht Siris die Arbeit aber auch einfacher. Ein grosser Teil der Menschen sei „sehr nicht-europäisch“. Einen „Extremismus der Säkularität“, wie es ihn andernorts gebe, kenne die Kultur des Nahen Ostens nicht. Entsprechend geniessen Geistliche weithin grossen Respekt.
Siris trägt im Arbeitsalltag einen weissen Kittel wie das medizinische Personal. Darunter das, was er auch als Rabbiner tragen würde: schwarze Anzughose und weisses Hemd. Auf dem Kopf die Kippa. Als Seelsorger sieht der Rabbiner sich in der Rolle eines Brückenbauers. Gemeinsam mit den Patienten suche er nach spirituellen Bedürfnissen. In manchen Fällen könne er das entscheidende Bindeglied zwischen Familie, Patient, anderen Rabbinern und Ärzten sein. Etwa, wenn es darum gehe, eine medizinische Behandlung mit dem Religionsrecht, der Halacha, in Einklang zu bringen. „Ich spreche die medizinische Fachsprache nicht so gut wie der Arzt, ich bin mit der Halacha nicht so vertraut wie der normale Rabbiner und ich mache nicht all die Erfahrungen, die ein Patient macht“, sagt Siris. Aber er könne mit all diesen Dingen umgehen.
Den spirituellen Begleitungsbedarf eines Patienten festzustellen, sei eigentlich simpel, meint er: zwei Fragen, vier mögliche Ausgänge – „eine zweiminütige Sache, die wirklich jeder im Krankenhaus durchführen könnte“. „Haben Sie einen Glauben, der Ihnen Kraft gibt?“, laute die erste Frage. Bei einem Ja folge die Anschlussfrage, ob dieser Glaube im konkreten Moment helfe. „Wenn die Antwort Ja lautet, ist das grossartig. Lautet sie Nein, haben wir ein ernstes Problem“, erläutert Siris. Dann habe die Person keinen Zugang zu wichtigen Ressourcen, die ihr helfen könnten, „das durchzustehen, was sie gerade durchmacht“.
Sei die Antwort auf Frage eins wiederum ein Nein, wäre die Folgefrage, ob das einmal anders gewesen sei. „Wenn die Person mit Nein antwortet, dann ist das in Ordnung, dann haben wir nichts gewonnen und nichts verloren.“ Ein Problem bestehe in diesem Fall bei einem Ja: Das bedeute, „dass die Person etwas hatte, das ihr derzeit aber nicht hilft“. Für genau solche Problemfälle ist das Seelsorgeteam da.
Ob Gott in den Gesprächen eine Rolle spielt, die Siris und seine Kollegin mit Patienten, Angehörigen und Klinikmitarbeitern führen, hängt von den Gesprächspartnern ab. Haben sie eine ausgeprägte Gottesbeziehung, konzentriere man sich darauf. Eine starre Agenda habe er als Seelsorger aber nicht, versichert der Geistliche. „Meine einzige Agenda ist die des Patienten.“
Das erspare unnötige Konflikte. Es gehe vielmehr ums Zuhören, das Aufzeigen von Möglichkeiten. „Unsere Aufgabe ist es, unseren Patienten ihre Menschlichkeit zurückzugeben, damit sie, wenn sie hierherkommen, nicht nur eine Nummer sind, sondern eine Geschichte.“ Das gesamte medizinische Personal stimme dem sicherlich zu. „Es ist nur so, dass sie keine Zeit dafür haben.“
Wenn Siris es für angebracht hält, macht er Patienten daher ein Angebot. „Ich bin Rabbiner. Ich bete dreimal am Tag. Also frage ich: Möchten Sie, dass ich Ihren Namen in meinen täglichen Gebeten erwähne?“ Solche Gebete seien auch für ihn selbst wichtig. Die Namen erinnerten ihn daran, „dass diese Person mein Leben in gewisser Weise berührt hat“.
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