
„Nur sehr wenige Menschen sassen im Café Shalva, in der grausamen Feuchtigkeit eines dieser triefenden … Abende in Tel Aviv.“
„Es handelte sich offenbar um Leute, die zu Hause keinen sicheren Miklat, keinen Luftschutzraum, hatten. Das Café betonte sogar in seinen Werbeanzeigen, dass es über einen hervorragenden, hundertprozentigen Miklat verfüge, den es seinen Gästen zur Verfügung stelle.“
„In der ersten Kriegswoche hatte es zudem häufig nächtliche Angriffe gegeben, und die Schäden durch Bomben beschränkten sich bisher auf die oberen Stockwerke. Später hiess es allerdings, auch Wohnungen in unteren Etagen seien durch Splitter und Luftdruck gefährdet gewesen.“
Letzte Woche? Gestern? In den Momenten, nachdem Tel Aviv erneut von Raketen aus dem Jemen, aus dem Iran, aus dem Libanon erschüttert wurde?
von Jan Kapusnak
Nein. Diese Zeilen stammen aus Unambo, einem Roman von Max Brod, erschienen 1948 – dem engen Freund und Biografen Franz Kafkas. Darin beschreibt Brod Tel Aviv während des israelischen Unabhängigkeitskriegs, im Schatten nächtlicher Angriffe ägyptischer Spitfires. Seine Darstellung der Stadt – angespannt, widerstandsfähig, zwischen Normalität und Angst schwebend – wirkt heute auf erschreckende Weise vertraut.
Brod war 1939 aus dem von den Nazis besetzten Prag geflohen und nach Palästina eingewandert, das damals noch unter britischem Mandat stand. Tragischerweise gelang nicht allen seiner Familie die Flucht; viele wurden in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet – wie Millionen andere. Dieses persönliche wie kollektive Trauma durchdringt sein Werk.
Er lebte während des Unabhängigkeitskriegs in Tel Aviv, überstand die Luftangriffe, und fasste in literarischer Sprache, was es bedeutete, in einer jüdischen Stadt unter existenzieller Bedrohung zu leben – diesmal nicht in Europa, sondern im Nahen Osten, nur wenige Jahre nach der Shoah.
Seine Worte tragen das Gewicht einer schrecklichen Kontinuität: von den Gaskammern Europas bis zu den Sirenen von Tel Aviv. Und die Cafés, die er beschreibt, in denen das Leben trotzig weitergeht, waren oft voller Überlebender – Menschen, die bereits eine Auslöschung erlebt hatten und nun einer neuen gegenüberstanden.
Und das Beängstigendste heute ist nicht, wie anders Brods Welt war – sondern wie ähnlich.
Im Jahr 2025 steht Tel Aviv erneut unter existenzieller Bedrohung. Die Sirenen sind zurückgekehrt – diesmal warnen sie vor ballistischen Raketen, abgeschossen von genozidalen Regimen im Iran und im Jemen. Die Namen der Feinde haben sich geändert – ihre Absicht nicht.
Eine vertraute Angst
Es ist einfach, über Iron Dome, Raketenreichweiten, Schutzräume und präzise Gegenschläge zu sprechen. Schwerer zu erfassen ist der emotionale Preis eines Lebens unter ständiger Bedrohung.
1948 kämpfte Tel Aviv ums Überleben. Der Staat Israel war gerade ausgerufen worden. Die Stadt war jung, ihre Verteidigung fragil. Und doch war die psychologische Realität bereits lähmend: die Angst vor dem Tod von oben, das Zittern bei jeder heulenden Sirene, das Wissen, dass das eigene Zuhause – dieser intime, geschützte Ort – in einem Augenblick in Trümmer gelegt werden könnte.
2025 sind die Raketen schneller und intelligenter, die Feinde verstreuter – aber das emotionale Terrain hat sich kaum verändert.
Was bedeutet es, das Leben halb in Erwartung des Todes zu führen? Was geschieht mit einer Mutter, die sechzig Sekunden hat, um ihr Kleinkind zu schnappen und in den Schutzraum zu rennen – Nacht für Nacht? Was macht es mit einem Kind, wenn sein Schlafzimmer kein Zufluchtsort mehr ist, sondern ein potenzielles Ziel?
Das sind keine Einzelerlebnisse. Sie sammeln sich. Lagern sich ab. Formen Identitäten. Der Krieg setzt sich im Körper fest, im Nervensystem. Der Körper lernt, zu zucken, noch bevor der Verstand versteht, was passiert. Das Adrenalin hört nicht auf, wenn die Sirene verstummt.
Und trotzdem öffnen die Cafés wieder. Die Strände füllen sich. Das Lachen kehrt zurück – weil das Gegenteil, dem Schrecken nachzugeben, unerträglich wäre. Und der Alltag – das Banale, das Gewöhnliche – wird heilig. In einer Welt, in der Sicherheit nicht garantiert ist und die Nächte vom Donner der Raketen statt vom Regen unterbrochen werden, ist das volle Leben ein stiller Akt von Mut und Widerstand.
Tel Aviv: Zielscheibe und Zeugnis
Das Tel Aviv des Jahres 2025 ist eine vibrierende, kosmopolitische Stadt voller Kreativität, Queerness, Jugend, Start-ups, Strände – und tief verwurzeltem Trotz. Es ist eine Stadt, die an das Leben glaubt – leidenschaftlich, manchmal waghalsig. Und doch ist Tel Aviv auch ein Ziel. Nicht für das, was es tut, sondern für das, was es ist: ein Symbol jüdischer Blüte im eigenen Land.
Für den Iran und seine Stellvertreter – Hamas in Gaza, Hisbollah im Libanon, die Huthis im Jemen – ist Tel Aviv keine Stadt. Es ist eine Idee, die ausgelöscht werden soll. Es ist das pulsierende, säkulare Herz des modernen jüdischen Staates. Und deshalb prasseln die Raketen.
Sie zielen auf Krankenhäuser. Schulen. Wohnhäuser. Kulturzentren. Denn das ist nicht nur Krieg – es ist psychologische Kriegsführung. Sie soll Menschen zermürben, abstumpfen, die Seele brechen, bevor der Körper fällt.
Max Brod und die Echos der Geschichte
Auch Max Brod wusste das. Er schrieb nicht nur über Krieg. Er schrieb darüber, wie Krieg das Innere des Menschen verändert.
Brod war kein Soldat. Er war ein Mann der Literatur, ein Zeuge. Aber wie jeder Zivilist in Tel Aviv 1948 wusste er: Die Geschichte fragt nicht, ob du Dichter, General oder Holocaustüberlebender bist. Sie stellt sich dir einfach in den Weg.
In Unambo zeigt er die Menschen Tel Avivs nicht als Helden oder Opfer, sondern als zerbrechliche Wesen im Sturm – bemüht, Würde und Alltag zu bewahren, während der Boden unter ihren Füssen bebt. Und dieser Wind weht wieder – 2025.
Brod ist auf dem Trumpeldor-Friedhof in Tel Aviv begraben, nicht weit von jenen Stellen, wo in diesem Monat Raketen einschlugen. Über seinem Grab heulen die gleichen Sirenen. Der Himmel ist derselbe. Die Namen der Feinde haben sich geändert. Die Grundfrage nicht:
Wie bewahrt man seine Menschlichkeit, wenn man nicht als Individuum, sondern als Kollektiv gejagt wird?
Schichten von Erinnerung, Schichten aus Stahl
Natürlich gibt es Unterschiede. Tel Aviv ist heute besser vorbereitet. Die meisten Wohnungen haben Schutzräume. Sirenen und Apps verschaffen wertvolle Sekunden. Israels Verteidigungssystem – Iron Dome, David’s Sling, Arrow – gilt als das modernste weltweit.
Die jüngste israelische Operation gegen Irans Nuklear- und Raketenanlagen – ein präziser Schlag des IDF und Mossad – wurde als „präventive Meisterleistung“ gefeiert.
Doch der menschliche Preis bleibt bestehen.
In den vergangenen Tagen wurde Tel Avivs Skyline erneut von Raketen durchbohrt. Glastürme erzitterten unter Einschlägen. Sirenen schrien durch die Nacht. Die Linie zwischen Zuhause und Schlachtfeld verschwimmt. Und trotzdem: Die Menschen machen weiter. Sie trauern – aber sie ergeben sich nicht. Das ist nicht die israelische Art.
Die Last, in Tel Aviv zu leben
Es liegt eine seltsame Schönheit in dieser Art des Durchhaltens. Eine tragische Form des Trotzes. Das Leben wird hier nicht trotz des Krieges gelebt, sondern trotzig inmitten des Krieges. Als wolle man sagen: Ihr könnt uns treffen, aber ihr werdet uns nicht auslöschen.
Die Menschen in Tel Aviv tragen zwei Kalender: einen für das säkulare Jahr, und einen für die Tage zwischen den Sirenen. Sie sprechen zwei Sprachen: eine für den Alltag, eine für den Alarm. Sie tragen zwei Herzen: eines voller Träume, das andere gepanzert durch Notwendigkeit.
Max Brod hat diese Dualität 1948 eingefangen. Und irgendwie – durch Jahrzehnte und Trümmer hindurch – spricht er noch immer zu uns. Und er sagt: Wir sind noch hier.
Jan Kapusnak ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Nahost.