„Die Wissenschaft zerlegt Dinge, um zu sehen, wie sie funktionieren. Die Religion setzt Dinge zusammen, um zu sehen, was sie bedeuten.“ Das ist einer von vielen grossartigen Sätzen des legendären Rabbiners Lord Jonathan Sacks. Aber wir wissen nicht immer, was die Dinge bedeuten, oder?
von Rabbi Yossy Goldman
Der Abschnitt der Tora für diese Woche ist Chukat, was in seiner einfachen Bedeutung so viel wie „Verordnung“ bedeutet. In der Tora gibt es verschiedene Arten von Mizwot, Geboten. Einige sind vollkommen logisch, wie zum Beispiel nicht zu stehlen oder unsere Eltern zu ehren. Diese Gebote bezeichnen wir als Mischpatim oder „Gesetze“.
Dann gibt es Gebote, die vielleicht nicht so offensichtlich sind. Sobald wir sie gelernt haben, erkennen wir den Sinn ihrer Einhaltung, wie zum Beispiel den Schabbat oder die Chagim, die „jüdischen Feste“, die Brit Milah oder das Tragen der Tefillin. Sie werden als Edot, „Zeugnisse/Beweise“, bezeichnet und sind von Symbolik und tiefer Spiritualität durchdrungen.
Es gibt jedoch auch Gesetze der Tora, für die es keine schriftliche, explizite oder gar logische Begründung gibt. Diese werden als „Chukim“ („Verordnungen“) bezeichnet, für die die Tora keine Erklärung liefert. Diese Gesetze müssen wir einfach glauben. Der grösste Teil des Judentums ist recht logisch. Aber es gibt eine Handvoll bemerkenswerter Ausnahmen, in denen wir die höhere Autorität respektieren und uns in Demut vor Gott verneigen müssen. Als Gläubige halten wir uns an diese Gesetze, auch wenn wir sie nicht ganz verstehen.
Das bekannteste der Chukim ist der erste Punkt in unserer Parascha, die rote Kuh. Um von der Berührung mit einem Toten gereinigt zu werden, musste man mit der Asche einer roten Kuh bestreut werden. Ehrlich gesagt war das ein sehr seltsames Ritual, das jeder Logik widersprach. Deshalb wird es „das Gebot der Tora” genannt.
Aber es war nicht nur die rote Kuh. Es gibt auch Shatnez, das verbietet, Wolle und Leinen in einem Kleidungsstück zu mischen. Das praktizieren wir auch heute noch. Wussten Sie, dass es in organisierten jüdischen Gemeinden Shatnez- Arbeitsräume gibt, die Menschen dabei helfen, diese Mizwa zu erfüllen?
Und ob Sie es glauben oder nicht, sogar etwas so Bekanntes und Alltägliches wie Kaschrut – koscheres Essen – ist ebenfalls ein Chok, ein Gebot. Ich meine, warum sollten wir Milch und Fleisch nicht mischen? Warum wird das Essen plötzlich unkoscher, wenn wir Fleisch, das vollkommen koscher ist, und Milch, die ebenfalls koscher ist, zusammenmischen? Ist das logisch? Nein, das ist es nicht. Es ist ein Chok, ein gesetzliches Gebot, das uns nicht zum Verständnis gegeben wurde. Diese Mizwot stellen unseren Glauben auf die Probe, und wenn wir sie befolgen, zeigen wir uns loyal, selbst wenn dieser Glaube auf die Probe gestellt wird.
Natürlich glauben wir, dass Gott für alles gute Gründe hat. Ob es für unseren sterblichen Verstand Sinn ergibt oder nicht, wir vertrauen darauf, dass es einen guten Grund dafür geben muss, auch wenn wir ihn nicht ganz verstehen.
Das Wort „chukat“ hat jedoch noch eine weitere Bedeutung. Es stammt vom Wort „Chakikah“ ab, was „eingraviert“ bedeutet. Indem wir Gesetze befolgen, die unserem rationalen Verstand widersprechen, zeigen wir, dass die Tora so sehr Teil unseres Wesens ist, dass sie in unseren Herzen „eingraviert“ ist.
In den 1940er Jahren besuchten zwei ehrwürdige Chabad-Rabbiner Chicago. Als sie einen wohlhabenden Geschäftsmann besuchten, nahm dieser an, dass sie dort waren, um Spenden für ihre Institutionen zu sammeln. Aber sie lehnten sein Angebot ab und erklärten, dass sie nicht zum Sammeln von Spenden gekommen seien, sondern um das Bewusstsein für das Judentum zu schärfen. Der Geschäftsmann war ziemlich überrascht. Er hatte noch nie zuvor einen solchen Besuch erhalten.
Die Besucher erklärten ihre Mission anhand einer Illustration. In der alten Heimat besuchten reisende Schreiber, Sofrim, kleinere Gemeinden in ganz Osteuropa, um die Tefillin und Mesusot der Landbevölkerung zu überprüfen und sicherzustellen, dass sie noch koscher waren. Denn mit der Zeit konnte die Tinte auf den Pergamenten verblassen, wodurch die Tefillin und Mesusot ungültig wurden. Die wandernden Schreiber untersuchten die Pergamente und stellten fest, ob sie noch koscher waren oder repariert werden mussten.
„Wir sind wie diese reisenden Schriftgelehrten“, sagten die Rabbiner. „Jeder Jude wird mit einem Buchstaben der Thora verglichen. Auch wir sind hier, um nach unseren jüdischen Brüdern und Schwestern zu sehen und zu prüfen, ob ihre eigenen Buchstaben des Glaubens, ihre jüdische Identität, vielleicht verblasst sind. Wenn sie neue Inspiration brauchen, sind wir da, um sie ihnen zu geben. Wir sammeln keine Spenden.“
Der Mann war beeindruckt.
Als die Rabbiner nach New York zurückkehrten, erzählten sie diese Geschichte dem sechsten Lubawitscher Rebben, Rabbi Yosef Yitzchak Schneersohn, der bemerkte, dass ihre Darstellung nur teilweise richtig sei.
Ein Jude wird zwar mit einem Buchstaben der Thora verglichen, aber nicht mit Buchstaben aus Tinte auf Pergament, sondern mit Buchstaben, die in Stein gemeisselt sind, wie die Tafeln, die Moses vom Sinai herabbrachte. Der Unterschied? Buchstaben auf Pergament können zwar verblassen. In Stein gemeisselte Buchstaben verblassen jedoch nie. Es kann höchstens sein, dass sich etwas Staub auf den Buchstaben absetzt, aber die eingemeisselten Buchstaben verblassen nie. Besuchen Sie einen beliebigen jüdischen Friedhof, und Sie werden die eingravierten Inschriften auf über hundert Jahre alten Grabsteinen sehen, die noch immer vollständig und gut lesbar sind. So kann auch eine jüdische Seele niemals verblassen. Es mag sich etwas Staub oder Schmutz angesammelt haben, aber eine jüdische Neshamah bleibt für immer intakt.
Ein Jude ist ein Jude ist ein Jude. Man darf niemals einen abschreiben!
Obwohl ich das intellektuell immer gewusst habe, muss ich gestehen, dass ich hin und wieder Juden begegne, die diese Charakterisierung in Frage stellen. Sie scheinen so weit vom Mainstream des Judentums entfernt zu sein, dass ich fälschlicherweise denke, sie seien hoffnungslos. Und so oft werde ich eines Besseren belehrt, wenn ich ihre unglaublichen spirituellen Wandlungen miterlebe. Menschen, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie ein aktives, jüdisch geprägtes Leben führen könnten, überraschen mich immer wieder.
Ich hoffe, dass ich nie wieder jemanden aufgeben werde.
Rabbi Yossy Goldman ist emeritierter Rabbiner der Sydenham Shul in Johannesburg und Präsident der South African Rabbinical Association. Er ist der Autor des Buches «From Where I Stand» über die wöchentlichen Tora-Lesungen, erhältlich bei Ktav.com und Amazon. Auf Englisch zuerst erschienen bei Jewish News Syndicate. Übersetzung und Redaktion Audiatur-Online.